Die Schneidmangel / Die Selbstgarne

Von Raphaela Edelbauer. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 114

Online seit: 21. April 2023
Raphaela Edelbauer © Victoria Herbig
Raphaela Edelbauer. Foto: Victoria Herbig

 

Die Schneidmangel

Senkrecht auf einer eisengegossenen Rohrkreuche aus zwei Hemisphären ragt ein Bundpfratt genannter Holm aus geschliffener Linde oder Kiefer auf. An der Scherge, einer mit Kugelgelenk versehenen Spreuze, sind vier Ochsen befestigt, die mit roher Gewalt die Blattgöpel genannten Klingen bewegen, indem sie kraftvoll hin und her ziehen. Man heißt dies Bewegen die Knispresche, und die Wiese singt wie eine sausende Nähmaschine, wenn die Schneidmangel über sie gekettelt wird. Das ist nämlich so: Ein Vakuum entsteht, sowie die Rinder die hölzernen Knirbel bewegen – und das Gras wird darob von unten in das als Saugbinse bekannte Rohr eingeschmaut – in die trapezförmige Pfratte, wie man sagt – in den Zerkleinerungsapparat der Hackschleuche.
Heraus fällt der sogenannte Schnappmusel, zerkleinertes Weidewerk, geschnittenes Gras: Dieses fressend erhalten die Ochsen gerade so viel Kraft, wie die Schneidmangel benötigt.

 

Die Selbstgarne

Die Selbstgarne ist in ihrer einfachsten Form eine Nähmaschine, die statt zur Verschneiderung von Geweben/Gesticken/Gewirken dazu gebaut wurde, Garn/Faden/Zwirne/Flusen zu nähen; und zwar welchsolche, die sie selbst wiederum verwenden kann.
Sie enthält das weltweit einzige umlaufende Greifersystem; denn oben rechts wird an herkömmlicher Stelle/Punkten/Orten ein Stapelfilament eingehängt ein – so sagt man: Ausgangsgarn.
Das zwirnt sich nach links – von Fadenschlinge im Spleiss und ab schießt der Zug zum Nähfuß, wo sich die Zwirbel-Fachen wieder auftrennen. An einer geschärften Kleinstklinge, an der Schmeuse wird zwiefach, was einfach war. Beide Teilfäden/Partialgarne/Halbzwirne werden durch die Stichplatte sodann eingeschwenkelt. Dortzutief wirkt der Untertransporteur. In Normmaschinen zum Schieben von Geweben/Gesticken/Gewirken versäumelt, ist er hier als Verschmeichungsmaschine eingesetzt; das heißt, er facht die Fasern wieder zu einer Doppelhelix, alswieso sie im Durchlaufverfahren wieder aus der schmalen Öse/Halftel/Gatt, der Kreuse fließen; ein Aufrauhungsmesser dort – Strukturstreben. Er muss gut gekerbelt sein, um in den Auszub nach oben zurück gelenkt zu werden und zum Ausgangsfaden zurückzumutieren. Doch ist auch das ein Verhängnis – denn gerade durch diesen schneidfratten Ausbau kann die Selbstgarne nie Gewebe/Gesticke/Gewirke fabrizieren, ohne sie gleich wieder zu zertrennen – nur eben: Garn.

Raphaela Edelbauer – Die Selbstgarne

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Raphaela Edelbauer wurde 1990 in Wien geboren, wo sie heute noch lebt. Zuletzt, 2023, erschien von ihr Die Inkommensurablen bei Klett-Cotta.

Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift VOLLTEXT für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.