Der „Wie finde ich die eigene Stimme“-Workshop

„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXII
„Damit wir, wenn es mit der Schriftstellerei nicht klappt, von Verrissen begabterer Kollegen leben können.“

Online seit: 16. Juli 2021
Radek Knapp © AK/Thomas Lehmann
Radek Knapp. Foto: AK/Thomas Lehmann

Neulich leitete ich einen literarischen Workshop. Im Saal – fünf künftige Schriftsteller. Zwischen 14 und 20ig. Vier junge Frauen und ein junger Mann. Das letzte grenzt an ein Wunder. Männer interessieren sich überhaupt nicht mehr für Literatur. Der junge Mann blickt noch dazu wachsam in die Runde. Nicht einmal die Wollmütze, die er bei 30ig Grad Hitze trägt, hindert ihn daran.
Ich lasse zu Anfang wie immer meinen originellen Spruch los: „Literarische Workshops sind für die Katz. Hier kann man zwar lernen, Dialoge zu schreiben, aber das wichtigste, die sogenannte eigene Stimme findet ihr sicher nicht hier. Comprende?“
Schmunzeln, Nicken und peinliche Verwunderung.
„Deswegen drehen wir heute zuerst kurz den Spiess um“, mache ich weiter: „Ihr versetzt euch in den Kopf eines Literaturkritikers. Unser Objekt der Begierde ist die österreichische Literatur. Ihr dürft sie in den Boden stampfen oder in den Abendhimmel loben. Und keine Angst. Was in Las Vegas passiert, bleibt auch in Las Vegas“.
Eine dunkelhaarige Frau von 15 Jahren mit einem Piercing in der Nase hebt die Hand:
„Darf ich fragen wozu das gut sein soll? Wir sind ja hier, um schreiben zu lernen“. Aus Psychoseminaren weiß ich inzwischen, wie man mit schweren Fragen umgeht.
„Guter Einwand“, schieße ich den Ball zurück in den Raum.
„ Also, wer kennt die Antwort?“
„Damit wir, wenn es mit der Schriftstellerei nicht klappt, von Verrissen begabterer Kollegen leben können?“, schlägt der junge Mann vor und lüftet kurz seine Wollmütze.
„Bravo. Was noch?“, muntere ich die Runde auf.
„Damit wir lernen, unsere eigenen Werke wie Kritiker zu betrachten?“, schlägt die junge Frau mit blondem, ungepflegtem Haar vor.
„Auch eine Möglichkeit. Weiter.“
„Damit wir uns ein bisschen rächen können?“
„Auch gut!“, ich klatsche in die Hände: „Also. Wer fängt an?“

„Ich finde, dass die österreichische Literatur ein bisschen zu traurig ist“, macht eine junge Frau mit eindeutigem Migrantenhintergrund den Anfang. „Die Hälfte der Bücher spielen auf einem Biobauernhof irgendwo in Oberösterreich. Die Sonne geht dort früh unter und steht spät auf. Die Kinder heißen immer Karl und Lisa und werden erstaunlich oft missbraucht. Der Grossvater stellt sich dann auch noch als Nazi heraus oder begeht Selbstmord. Die Frauen werden unterdrückt und brennen irgendwann in die Stadt durch, wo sie eine Tochter zeugen, die dann zu einer Feministin wird.“
Stille im Raum. Die erste Kritik wird gründlich verdaut.
„Momentmal. Was hast du eigentlich gegen einen oberösterreichischen Bauernhof?“, ergreift ihre Sitznachbarin mit ungepflegtem Haar das Wort. „Das ist echtes Leben. Und wenn wir schon bei Schablonen sind, dann schau dir an, wie die Migrantenliteratur abläuft, die jetzt im Land um sich greift.“
„Wie meinst du das?“, gibt das Mädchen mit dem Migrantenhintergrund zurück.
„Es ist ja immer die gleiche Geschichte“, erklärt das Mädchen mit dem ungepflegten Haar: „Der Emigrant kommt nach Wien, sucht vergeblich Arbeit, wird von seinen eigenen Landsleuten übers Ohr gehauen und landet nach 300 Seiten unter der Reichsbrücke, wo er Migrantenkrokodilstränen vergießt. Haben die Migranten keine anderen Sorgen. Müssen die auch nicht mal aufs Klo zum Beispiel?“
„Vielleicht gibt es außer Essen und dem Klo noch Wichtigeres? Und die Fremden wissen das im Gegensatz zu vielen Inländern“, giftet das Migrantenmädchen zurück.
„Alles sehr gute Argumente. Aber wir wollen beim Thema bleiben“, werfe ich ein und bringe meine Schäfchen zurück in die Spur mit einer Frage, die nicht so viel Zündstoff birgt.
„Was ist mit den älteren österreichischen Literaten? Wie kommen die für euch rüber? Ich meine, es ist eine andere Generation als eure. Da muss doch was im Busch sein?“
„Dieser Busch brennt nicht mehr“, sagt das bis dahin schweigende Mädchen in der Ecke. Sie sieht aus, als hätte sie einen Joint geraucht und stünde noch unter seinem Einfluss.
„Und geht das etwas genauer?“, bitte ich um Aufklärung. Schließlich hat sie mich gerade mit meinen älteren Kollegen in die Pfanne gehauen.
„Es gibt schon ein paar gute“, sagt sie, „aber die meisten sind nur noch faul. Sie schreiben immer den gleichen Scheiß und glauben, es ist Weltliteratur. Aber, hej, die können nichts dafür. Die sind eben alt.“
„Aber die Jungen sind auch nicht besser“, bringt sich das Mädchen mit dem Piercing wieder ein: „Die haben überhaupt nichts zu sagen. Deswegen erfinden sie irgend eine Krankheit oder ein Unglück. Dann laden sie sich das fremde Kreuz auf den Rücken und tragen es 200 Seiten lang herum, weil sie ja so unbedingt Schriftsteller werden wollen. Und wir fallen drauf rein!“
„Wer ist wir?“, frage ich verwirrt.
„Na wir, die Literaturkritiker. Schon vergessen?“
„Also, ich finde am besten schreiben immer noch die Toten“, hält der Junge mit der Wollmütze dagegen: „Die sind super. Karl Kraus und Thomas Bernhard. Die sind so lebendig, dass sie noch heute jede Disco rocken könnten.“
„Von wegen Disco“, hält das Jointmädchen dagegen: „Die Zukunft gehört eindeutig der feministischen Literatur“.
„Das kannst du laut sagen“, pflichtet ihr das Piercingmädchen bei: „Die sind jetzt im Kommen. Die sind jetzt überall in der Mehrzahl“.
„Sogar in diesem Raum“, wirft der Junge mit der Wollmütze ein.
„Ganz recht“, kommt das Jointmädchen zu Hilfe: „Es können nicht genug sein, um dem Patriarchat den Stinkefinger zu zeigen. Nur eins geht mir auf den Wecker“, sie zögert kurz, „einige von diesen feministischen Autorinnen ziehen sich absichtlich einen Minirock an, wenn sie von so einem abgetakelten midlifecrisis männlichen Journalisten interviewt werden. Das finde ich ekelhaft.“
„Was ist schon an einem Minirock verkehrt. Ich bin 18 und habe auch nichts dagegen“, der Junge mit der Wollmütze macht das Lachen eines alten Lüstlings nach.
„So siehst du aus, du blöder Patriarch!“, rufen das Piercing- und das Jointmädchen im Chor.
„Wow, wow, wir wollen Bodenhaftung bewahren“, fahre ich dazwischen in der Befürchtung, man könnte mir den einzigen männlichen Teilnehmer seit Jahren verschrecken und mache eine Überleitung.
„Apropos Minirock: Wie steht es mit dem Thema Erotik in der österreichischen Literatur?“
„Nicht besonders gut“, meldet sich wieder mal das Mädchen mit Migrantenhintergrund zu Wort: „Ich meine, es ist zu vulgär. Dauernd kommen da nur Worte wie Schwanz und Möse vor. Ich meine wer redet so?“
„Sex zu haben und Sex zu beschreiben, sind eben zwei paar Schuh“ stimmt das Piercingmädchen mit weisem Nicken zu. „Ich habe mal was von Kundera gelesen. Das war richtig gut. Ist tschechische Literatur eigentlich noch österreichische Literatur?“
„Kafka war der letzte österreichische Tscheche. Aber der hatte ein ziemliches Problem mit dem Sex“, meldet sich das Jointmädchen und schaut mich an: „Herr Lehrer, wie lange sollen wir dieses Gewäsch von uns geben? Das wird auf die Dauer langweilig.“
„Schon gut“, ich hebe die Hand: „Das reicht erst mal. Ich bin übrigens sehr zufrieden mit euch“.
Ich überschlage noch mal die Wortmeldungen. Die wichtigsten Eckdaten der österreichischen Literatur wurden zumindest angerissen. Minirock. Kafka. Biobauernhof und Migrantenkrokodilstränen. Fürs Erste gar nicht mal so schlecht. Es wird Zeit mit dem Workshop zu beginnen.
„Jetzt nimmt jeder ein Blatt heraus und wir legen als Autoren los“, sage ich: „Aber eins will ich noch wissen. Was haben wir als Literaturkritiker gelernt?“
„Dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann?“, sagt der junge Mann mit der Wollmütze.
„Guter Einwurf. Was noch?“
„Dass die österreichische Literatur in Zukunft den Frauen gehört“, schießt das Mädchen mit dem ungepflegten Haar zurück mit einem schweren Blick auf den Jungen mit der Mütze.
„Durchaus möglich. Was noch?“
„Dass die Welt am Absaufen ist?“, sagt das Jointmädchen.
„Interessante Schlussfolgerung. Aber etwas weg vom Thema.“
„Dass das Herumnörgeln mehr Spass macht als Schreiben“, schlägt das Mädchen mit dem Migrantenhintergrund vor.
Die Gruppe lacht.
„So ist es“, ich mache eine feierliche Pause und sage dann: „Der Autor nimmt immer den schweren Weg. Deswegen lautet das Thema des heutigen Workshops: Wie zum Kuckuck finde ich meine eigene Stimme in einem Raum voller Leute, die auch eine eigene Stimme suchen?“
Die Gruppe schweigt und ich füge in dieses Schweigen hinzu: „Davon, wie gründlich ihr diese Frage beantwortet, hängt eine Menge ab. Um nicht zu sagen alles. Man könnte sogar sagen: Das Schicksal der österreichischen Literatur“.

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Radek Knapp, geboren 1964 in Warschau, seit dem 12. Lebensjahr in Wien, studierte Philosophie und hielt sich mit vielen Nebenjobs über Wasser. Seit 1994 auch Autor mit dem Debut Franio. Sein Buch Herrn Kukas Empfehlungen wird gerne in Schulen gelesen. Zuletzt erschien eine ironische Liebeserklärung an Österreich: Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.