Nacht im März, zersplittert

Von Petra Piuk. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 63

Online seit: 29. April 2022
Petra Piuk © Alain Barbero
Petra Piuk. Foto: Alain Barbero

Und du liegst im Bett und starrst an die Decke, an der Decke Risse. Die Dürre in Ostafrika und die Regenfälle in Australien und der Hitzerekord in der Antarktis und. Du verfolgst den Krieg live auf Twitter. Und das Krankenhauspersonal ist erschöpft, fällt immer öfter aus und ruft und ruft um Hilfe und niemand hört. Die vielen Menschen, die eingeschlossen. Und du atmest ein, atmest aus, atmest Saharasand. Und dein Dealer schwärmt dir von einer Droge vor, sie verspricht Leichtigkeit. Es sind Pilze, die wie Schachfiguren, du kaufst drei Springer, in deiner Hand werden die Pilze zu Pulver werden zu Pillen. Und du traust dieser sich ständig verwandelnden Droge nicht, schluckst alle Pillen auf einmal. Eine Sturzflut spült dich aus deinem Traum. Es gibt 60.000 Neuinfektionen, ein Freund sagt, du würdest übertreiben, es wären nur. Und eine Frau bittet dich, ihre Großmutter aus Mariupol zu holen, sie sagt, dass doch irgendjemand ihre Großmutter. Eine andere hat seit einer Woche keinen Kontakt mehr zu ihrem Baby. Die Politik reagiert auf die Hilferufe in den Krankenhäusern, vulnerable Personen brauchen Schutz. Um rechtsextreme Esoteriker auf Globuli, die mit Russlandflagge gegen die österreichische Diktatur demonstrieren, weiterhin liebevoll betreuen zu können, dürfen Krankenhausangestellte auch krank arbeiten gehen. Deine Katze nimmt ein Schaumbad. Und du fragst dich, warum die Pillen noch nicht. Im Fernsehen gibt es eine neue Casting-Show, powered by Festung Europa: Guter Flüchtling, schlechter Flüchtling. Wer kommt eine Runde weiter? Wer hat das freundlichste Lächeln? Die hellste Hautfarbe? Heidi sagt: Heute habe ich leider kein Foto für dich, danke, dass du dabei gewesen. Ein Mitarbeiter begleitet die Leider-Nein-Kandidaten nach draußen. Nach einer Werbepause geht es weiter. Neu im Kühlregal: Geschmolzenes Grönlandeis in der Dose, mehr Erfrischung geht nicht. Und du schläfst während der Werbepause ein, bist am Strand, Sonnenschirme, Kinderlachen, läufst über den heißen Sand hinunter zum Meer. Endlich ein erholsamer Traum, denkst du während des Träumens, doch ein Strandbesucher hält eine Fernbedienung in Richtung Sonne, eine sehr breite Jalousie fährt am Horizont hinunter, es wird finster. Diejenigen, die es nicht in die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Show geschafft haben, erhalten ein kostenloses Rückflugticket ins Kriegsgebiet oder können sich die Show im gefrorenen Wald hinter dem Stacheldrahtzaun. Und du schreibst den Albtraum in dein Albtraumtagebuch. Und dein Bett beginnt zu ruckeln, ruckelt heftig. Es gibt dafür drei mögliche Erklärungen. A. Du verlierst den Verstand. B. Du hast dich wieder in der Metaebene eines Traums verirrt. C. Es war ein Erdbeben. Und du desinfizierst die Hände, desinfizierst das Gesicht, nimmst die Augäpfel aus den Augenhöhlen, legst sie in die Schale mit dem Desinfektionsmittel. Die Träume bleichen aus wie die Korallen. Und ein Pinguin treibt allein auf einer Eisscholle. Dein Zahnarzt sagt dir, dass dein Herz schmilzt, das Herz, sagt er, müsse durch ein Plastikherz ersetzt. Er kippt den Zahnarztstuhl nach hinten. Siri erklärt den Ablauf: Sneaker ausziehen, FFP2-Maske abnehmen. Und du siehst die Viren im Raum herumschwirren, bist dir nicht sicher, ob das der geeignete Ort für eine Herz-OP. Und auf Twitter fragen sich alle, ob das Ruckeln ein Erdbeben war oder ob sie langsam den Verstand verlieren würden, und du bist erleichtert, dass du nicht die Einzige bist, die dabei ist, den Verstand. Du tanzt mit einer Frau im Spiegel, ihr prostet einander zu, verabredet euch für ein weiteres Date.  Und der Aufzug schießt in die Höhe, hält nicht, egal, auf welchen Knopf du drückst, er hält nicht, hält erst im hundertsten Stock, im hundertsten Stock geht die Tür auf, vor dir der Abgrund. Und die Wälder brennen und über die Wiesen ergießt sich Beton. Und in der U-Bahn schreit dich eine Frau an, sie habe durchschaut, was hier mit uns passiere, du würdest auch noch durchschauen, was hier mit uns. Und du schreckst nicht mehr so oft hoch, wenn im Traum jemand ohne Maske. Und im Reisemagazin sind die Ozeane nicht mehr blau, sind die Ozeane grau-braun, hie und da ein Farbtupfer, verwaschenes Coca-Cola-Rot, Nestle-Blau, McDonalds-Gelb. Und es gibt eine neue Virusvariante und Kalium-Jod-Tabletten sind ausverkauft, die Albträume beginnen sich zu vermischen. Und du schlüpfst ins iPhone, machst ein Selfie am Instagram-Strand, hinter dir das Meer, und du legst einen Filter über das Foto, damit man die Plastiktüte über dem Schildkrötenkopf nicht sieht und die Reste vom Schlauchboot. Und am Hotelbuffet streichst du dir Betroffenheit aufs Brot, erstickst beinahe daran. Und eine Frau möchte ihr Ballkleid spenden, sie weiß, dass die Kleiderlager voll sind, weiß, dass ein Ballkleid keine geeignete Fluchtkleidung. Aber es wäre doch so schade um das schöne Kleid. Und ein Mann will in seiner Wohnung drei oder vier Single-Frauen einen Schlafplatz. Der Kater kotzt in dein Bett. Es klingelt und du öffnest die Tür, vor der Tür ist niemand, nur eine offene Flasche Champagner, darauf ein Post-it: Haus-Party, kontaktlos. Und du nimmst einen Schluck aus der Flasche, schaler Geschmack. Vielleicht ist es der mit MDMA vergiftete Champagner aus dem Supermarkt, du hoffst es sehr, nimmst noch einen Schluck, stellst die Flasche vor die Nachbartür, läutest an, läufst in die Wohnung zurück. Und durch die Decke dringt Wasser, das Schlafzimmer bald überschwemmt, deine Matratze wird zum Floß, du fährst damit ins Wohnzimmer, wo dir deine Nachbarin einen Joystick in die Hand. Im Videospiel sollt ihr als Politikerinnen den Klimawandel stoppen. Was tun Sie? A. Sagen, dass gehandelt werden muss. B. Sagen, dass wirklich gehandelt werden muss. C. Handeln. Ihr zuckt mit den Schultern. Und du schläfst wieder ein. Und du sitzt im Flugzeug, neben dir sitzt die Flugscham, du siehst sie nicht an, siehst aus dem Fenster, ein Kampfjet fliegt vorbei, noch einer. Eine Flugbegleiterin sagt mit freundlicher Stimme: Ladys and Gentlemen, es könnte etwas ungemütlich. Ihre kugelsichere Weste befindet sich unter Ihrem Sitz, die Sauerstoffmasken fallen bei Beschuss automatisch. Und die Inseln versinken im Meer. Und eine Jugendliche zertrümmert mit einem Baseballschläger das Auto, in dem ihre Ängste. Eine andere kriecht in den Fernseher, versteckt sich im Prinzessinnenschloss eines Disneyfilms, zieht den Stecker hinter sich. Und Facebook fragt dich: Sollen deine Facebook-Kontakte nach deinem Tod an deinen Geburtstag erinnert. Und du bist wieder am Strand und eine Wasserwand kommt auf dich zu. Und im Traum sagst du zu dir: Sammle deine Träume ein, damit du sie nicht verlierst, einen hast du noch während des Träumens verloren. Und du bist auf der Tanzfläche, die Tanzfläche voll, du atmest den Rauch ein, atmest den Schweiß ein, reibst dir den Schweiß der anderen Tanzenden auf deine Haut, deine Lippen. Und du denkst: Endlich wirken die Pillen aus einem früheren Traum. Und die Plastikinseln im Indischen Ozean werden zu günstigen Urlaubsdestinationen. Auf den Plastikinseln gibt es Plastikhotels und Plastikstrände, auf denen Kinder Plastikburgen. Und ein Schüler schreibt Hoffnung mit einem f. Und du fragst dich, in welches soziale Netzwerk du ziehen wirst, wenn es die Welt nicht mehr, fragst dich, mit welchem deiner Ichs du am besten klarkommen würdest. Und die Risse breiten sich aus, die Decke stürzt ein. Du wachst auf, müde, kannst dich nicht an deinen Traum. Du schaust aufs Handy. Auf Instagram blühen die Bäume.

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Petra Piuk, geboren 1975 in Güssing, lebt in Wien. Schreibt Romane, Kurzprosa, Theatertexte. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Wortmeldungen-Literaturpreis 2018. Zuletzt sind die Las Vegas-Novelle Wenn Rot kommt (Kremayr & Scheriau 2020) und das Kinderbuch Rotkäppchen rettet den Wolf (Leykam 2022) erschienen. Webseite: www.petrapiuk.at

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.