Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein
Eine so konzentrierte wie weitläufige Lektüre, weil sich im Gesamtzusammenhang der Essays stets neue Verbindungen ergeben und dieser Band auch formal umsetzt, wovon er spricht: eine „panoptische“ Haltung, die jedes eindimensionale Denken unterläuft. „Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen wir unseren Platz planetarisch wahr – als fest umrissen, zerbrechlich und leicht zu zerstören.“ Der „Erfahrung der Endlichkeit der Welt“ folgt die Notwendigkeit, die „anthropozentrischen Prämissen unserer Weltbetrachtung“ zu verabschieden, den menschlichen Ort in der Welt neu zu denken. Auf diese Conclusio laufen alle Essays des Bandes zu. Für das Erzählen bedeutet das, eine „besondere Position“ einzunehmen, „indem wir das Zentrum verlassen, den Bezirk einer als allgemein gedachten (…) Erfahrung der Wirklichkeit“. Eine „ex-zentrische Position“, die angesichts der ökologischen Zerstörung umso wichtiger scheint: „Denn schließlich wird es uns an Wörtern (…) fehlen, und wer weiß, vielleicht sogar an ganzen Stilen und Gattungen zur Beschreibung dessen, was da kommt.“
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Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke, Band III und IV
Dieser Sommer ist einer des Wiederlesens. Einmal mehr in Onettis Romanen geblättert, absichtslos, ungerichtet, weil sich ohnehin auf jeder Seite, mit jedem Absatz auftun wird, was den Onettischen Kosmos ausmacht. Das fiktive Städtchen Santa Maria, gegründet von einer Romanfigur, erdacht als Befreiung aus der Wirklichkeit – um letztlich doch immer wieder nur auf die Wirklichkeit zu verweisen, weil jeder Fiktion die Unruhe eines kollektiven Bewusstseins immer schon eingeschrieben ist. Santa Maria erscheint als Mikrokosmos, in dem sich die Verwerfungen von Zivilisation, Kolonialismus, Kapitalismus in ihrer ganzen pathetischen Ausweglosigkeit zeigen. „Ich bin erneut hier. Nackt, und das ist keine Literatur, denn dieser Sommer ist erbarmungslos gegen die Armen.“ Ein grandioses Werk, das die Kraft der Imagination ebenso feiert wie ihr Scheitern.
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Elias Canetti: Über Tiere
Von Tokarczuks Essay „Die Masken der Tiere“ (aus dem erwähnten Band) angeregt, Canetti wiederzulesen. Auch hier die Befragung des menschlichen Orts im Weltganzen, auch hier die Umkehrung der gewohnten Perspektive, die Absage an eine hierarchisch gedachte Grenzziehung zwischen Tier und Mensch. Und – ausgehend von Canettis „Ausgehungertsein“ nach Tieren, seiner als Mangel erfahrenen „tierlosen Kindheit“ – der zentrale Gedanke: Welchen Verlust das Sterben von Arten für uns bedeutet. „Von den Tieren sind wir abhängiger als sie von uns: sie unsere Geschichte, wir ihr Tod. Wenn es sie nicht mehr gibt, werden wir sie alle mühselig aus uns erfinden.“ Nicht zuletzt unser Träumen, so Canetti, sei an die Vielgestaltigkeit der Tiere gebunden. Ihr Verschwinden werde auch unsere Begabung zum Träumen versiegen lassen.
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Yanara Friedland: Uncountry. Eine Mythologie
Zum dritten Mal gelesen, ich komme mit diesem Buch an kein Ende. Die Lektüre wird zum Ereignis, sie ereignet sich, mit jedem Satz, jedem Bild. Das Imaginäre, das den Text trägt, ist Medium des Erkennens. Eines Erkennens dessen, was sich herkömmlichen Deutungsmustern entzieht, der Logik, in der wir zu denken gewohnt sind. Erzählt wird von der Annäherung an Familiengeschichte, an die vor den Judenpogromen 1905 aus Odessa geflüchtete Urgroßmutter, den im Zweiten Weltkrieg desertierten und durch den Harz irrenden Großvater. Familienlegenden, bruchstückhaft vorhanden, kaum dokumentiert. Statt sich an einem Rekonstruieren, einem Nachvollzug vergangenen Lebens zu versuchen, eröffnet die Autorin eine andere Bestimmung von „Herkunft“ durch einen Bezugsrahmen, der weiter reicht: Mythen, Literatur, christliche, jüdische, indianische Überlieferungen, die allesamt menschheitsgeschichtliches Erfahrungswissen und Gedächtnis aufbewahrt haben. So wird die lineare Zeit aufgefaltet zum Relief. Und Uncountry zu einem Raum, in dem alles gleichzeitig anwesend ist: Geschichte und Gegenwart, Mythos und Realität, Sprache und Bild. Und die Muster, die sich abzeichnen, über die Jahrtausende hinweg: Krieg und Vertreibung, Flucht und Exil. Die menschliche Suche nach Behausung.
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Miloš Crnjanski: Tagebuch über Čarnojević
Ein Wiederlesen auch das, entlang meiner früheren Unterstreichungen, eine zerrissene Lektüre, die der Dramaturgie des Buchs keinen Abbruch tut, sie im Gegenteil noch deutlicher werden lässt: Fragmentarische Szenen, mäandernd zwischen Erinnerung, Reflexion, Vision, im ständigen Wechsel von Perfekt und Präsens – der Krieg, aus dem der Erzähler kommt, verunmöglicht jegliche Kontinuität. Das Geschehene ist so vorbei, wie es nie vorbei sein wird, weil es unabschließbar ist, in Bildern wiederkehrt, weil es vergegenwärtigt werden will und jegliche Hoffnung auf eine Zukunft konterkariert. Oszillierend zwischen Melancholie und Sarkasmus demnach auch der leitmotivische Satz: „Aber ein schöneres Jahrhundert wird kommen, es kommt immer eines.“ Ein Satz, vor gut hundert Jahren geschrieben, der durch seine Wiederholung / Variation zunehmend zu einem schrecklichen wird: „Nach uns wird ein besseres Jahrhundert kommen, immer kommt eines.“
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Zoltan Danyi: Kadaverräumer
In Südungarn gelesen, unweit der serbischen Kleinstadt Senta, in der Danyi wohnt, Rosen züchtet und (auf Ungarisch) schreibt. Ein gnadenloses Buch, wuchtig, auch zart. Seine Figur, von Verdauungsproblemen gequält (etwas muss nach außen gebracht werden), ist getrieben davon, zu erzählen, um sich zu erinnern, um „eine Geschichte, die er in sich hatte, zu überschreiben“. Diese Geschichte führt in ein gesetzloses Niemandsland, an die Hinterseite der Front der Jugoslawien-Kriege, zu Massakern, Vergewaltigungen, Exzessen von Lust und Gewalt. Erzählen, Erinnern und Körperlichkeit bedingen einander. In immer neuen Anläufen stößt der Erzähler seine Sätze aus, kreist er seine Erinnerungen ein und umgeht sie zugleich. In der Konstruktion des Romans vermittelt sich alles: Die Gebrochenheit eines Lebens, das Ineinander von Begehren und Macht, Sexualität und Krieg. Finde als Lesende keine Position gegenüber dieser Figur, für ihr Schwanken zwischen Gewaltfantasien und Liebessehnsucht, für das Gleichzeitige von Schuld und Beschädigung, das sie verkörpert. Zum Glück macht das Buch jede Eindeutigkeit unmöglich.
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Yevgenia Belorusets: Glückliche Fälle
Täglich einen Text aus diesem Band gelesen, die wenigen Seiten sind konzentriert genug. Portraits von Frauen im Donbass, aus dem Jahr 2017. Ausgehend von Gesprächen und Begegnungen verschiebt sich das Dokumentierbare ins Literarische, das auch das Ungesagte / Nicht-Sagbare mitlesen lässt. Dazu Fotoserien von Plattenbauten, Industrieruinen, entleerten Gegenden, aber auch von eingeräumtem, vorläufigem Glück. Parallel lese ich Yevgenias Texte aus den letzten Kriegsmonaten nach, im Spiegel noch abrufbar.
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Cécile Wajsbrot: Zerstörung
Intensive, beunruhigende Lektüre. Das Buch setzt ein, wenn die Zerstörung längst im Gange ist. Wo hat sie begonnen, was wurde übersehen, wo wären die Weichen zu stellen gewesen? Wie die Autorin die Dynamik einer sich unmerklich anbahnenden, dann weiter um sich greifenden und schließlich unaufhaltbaren Zerstörung durch ein gesichtsloses autoritäres System auffächert. Wie sie die stetige Zuspitzung darstellt, die täglich sich verengenden Grenzen. Wie sie die Perspektive des Widerstands einflicht durch ein Netz aus intertextuellen Verweisen auf Bücher, Filme, Kunst. Wie sie das Schlimmste beschreibt: dass wir uns an alles gewöhnen.
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Giedra Radvilavičiūtė: Der lange Spaziergang auf einer kurzen Mole oder: Mein Spiel gegen mich selbst
„Als ich in den 1960er Jahren in einer kleinen Provinzstadt geboren wurde, schossen sowjetische Soldaten das Flugzeug des amerikanischen Spions Powers ab, das die intimsten Orte unseres großen Landes ausgeforscht hatte.“ So spröde und lapidar kommt die eigene Biografie selten daher oder vielmehr: die Rückverwandlung von Biografie in Leben. Die Erzählerin, die nicht zufällig Schriftstellerin ist, treibt von Moment zu Moment und verschränkt dabei – durch minimale erzählerische Interventionen – die (scheinbare) Banalität des Alltäglichen mit dem, was wir Historie nennen. Deren Zumutungen sie ebenso lakonisch begegnet wie jenen des Älterwerdens oder der Attitüden ihrer Schriftstellerkollegen. Wie beiläufig entwickelt sich daraus eine Poetologie ex negativo, ebenso beiläufig vermittelt sich die litauische Geschichte der letzten Jahrzehnte. „Da wurde Oma wirr im Kopf (…), doch sie fing an, gegen den Wind zu gehen, gegen mäßig frischen Wind, und das half.“
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Nastassja Martin: An das Wilde glauben
Meine Lektüren ergeben ein Muster. Auch hier das Nachdenken über „Zonen der Alterität“, die Divergenz der Welten, aus der Sicht einer Anthropologin, ausgehend von ihren Reisen nach Kamtschatka zu den Ewenen, der Begegnung mit deren halbnomadischer Lebensweise, ihrer Nähe zu Traumzeit, Animismus, Kosmologie. Unweit von den Lebensräumen der Ewenen das größte Übungsgelände der russischen Armee. In diesem geheimen Zentrum, auf der Intensivstation eines Militärkrankenhauses in Petropawlowsk wird die Erzählerin erstversorgt, nachdem ein Bär ihr das Gesicht zerfetzt hat – in einem „Zusammentreffen“, das „die Grenzen zwischen den Welten implodieren ließ“. Später, in Frankreich, wird die im „Osten“ eingesetzte Kieferplatte ersetzt durch eine aus dem „Westen“, verlagert sich der Ost-West-Konflikt in den Körper, das Gesicht. Faszinierende Lektüre, die nachwirkt, mir den Blick verrückt, den Rahmen des Denkbaren weitet.
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Pascal Quignard: Auf einer Terrasse in Rom
Soeben zu lesen begonnen, die ersten Zeilen schon eröffnen die Zeit, den Raum, den Ton: „Meaume sagte ihnen: ‚Ich bin im Frühjahr 1617 in Paris geboren. Gelernt habe ich bei Follin in Paris. Bei Rhuys dem Reformierten in der Stadt Toulouse. Bei Heemkers in Brügge. Nach Brügge dann lebte ich allein. (…) Die verzweifelten Menschen leben in Winkeln. Alle verliebten Menschen leben in Winkeln. Alle Leser eines Buches leben in Winkeln.‘“
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