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Von Petra Nagenkögel. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 104

Online seit: 10. Februar 2023
Petra Nagenkögel © Eva Mrazek
Petra Nagenkögel. Foto: Eva Mrazek

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Du möchtest dich doch immer nur langsam nähern, auf Abwegen, auf Umwegen und mit nicht mehr einholbaren Verspätungen, in Zügen, die dich an ein Früher des Reisens erinnern, ohne Großraumwagen, aber mit schön getrennten Abteilen für sechs oder acht Personen, die hier und jetzt ihren Platz gefunden haben auf abgewetzten Sitzen, jeder und jede für sich, mit einem Blick, der nach draußen geht oder in eine andere unzugängliche Ferne, sie sagen kein Wort, kein freundliches, aber auch kein böses, weil vielleicht nichts mehr zu sagen ist, was von Bedeutung wäre, oder weil für das Wesentliche keine Worte zu finden sind, jedenfalls nicht hier, jedenfalls nicht jetzt, und selbst die Schaffnerin verlangt mit wortlosen Gesten nach den Fahrkarten, verhalten und so, als spielte sie in einem Film von Kaurismäki, ein wenig unzugehörig, ein wenig fremd in der Welt, auf dieser Fahrt durch kaum besiedelte Gegenden, vorbei an kleinen und kleinsten Dörfern, aus zwei, drei Häusern bestehend oder aus aufgegebenen Fabriken mit Schloten aus bröckelndem Backstein, umgeben von einer kleinen harmlosen Ödnis, dann abgelöst von einer lichten, steppigen Landschaft, in der vereinzelte Bäume stehen, von Misteln befallen, die als dunkle Kugeln in den Bäumen hängen und sie langsam ersticken werden, du möchtest sie doch einfach nur gesehen und gezählt haben im Vorüberfahren, bis du in Kelenföld umsteigen und dich umsehen wirst für einen Augenblick, einen kurzen Halt in der unauffälligen Provinz, an einem Bahnhofsvorplatz, der sonnig ist und zugleich von einer grauen Traurigkeit, bis du hier also in den Zug nach Szeged umsteigen und dich auf Umwegen den Grenzen im Süden des Landes nähern wirst, während die Waggons sich zunehmend leeren bei ihren Halten an kleinen, geborgen und beinahe versteckt in der Gegend liegenden Ansiedlungen, zwischen schmalen hohen Bäumen in hügelloser Gegend, die eine Weite freigibt, in der dein Blick sich verlaufen kann, und eine Verheißung von Horizont, der hinausgeht über das Sichtbare.

Vorerst aber möchtest du im Sichtbaren ankommen, im gänzlich Irdischen, und in die bahnhofsnahe Gastwirtschaft gehen, die sich traditionsbewusst gibt und zugleich angepasst an die vermeintliche Moderne, rotweißrot karierte Tücher auf den Tischen und Glasvasen mit Plastikrosen, neben der Theke ein leuchtend roter Getränkeautomat, zahllose ineinander gestapelte Pokale darauf, die von Wettbewerben, Kämpfen und Siegen zeugen, sie verbreiten den Geruch von verbrauchtem Ruhm, der sich im Raum verteilt so wie die im Hintergrund hörbaren Klänge von schmalzigen Liedern und einer ungebrochenen Zuversicht. Hierher kommt, wer immer schon hierher kam, die wenigen Gäste sind sich vertraut, eingeübt in ein vernehmbares Schweigen, das ihre Verbundenheit zu bestärken weiß, mit diesem Ort und mit diesem Moment, der ein besseres Früher hinter sich weiß, während die Jungen anderswo den Aufbruch üben, die Anbindung an eine Zukunft, die ihnen gesichert scheint, jedenfalls noch heute, jedenfalls noch hier, in der zentralen Bar der Stadt, zwischen geziegelten Wänden und schwarzweißen Fotos, tanzend zu Life on Mars und einem den Raum einnehmenden Sound heller Stimmen, den du mitnehmen und weitertragen möchtest, durch die regelmäßig angelegten Straßen des Zentrums und über die von haltlos blühenden Bäumen gesäumten Plätze, vorbei an den Glastafeln mit Plänen der Stadt und der von den Tafeln gekratzten und zum Verschwinden gebrachten Synagoge, daran also vorbei und die nach dem großen Hochwasser im letzten Jahrhundert breit angelegte Ringstraße entlang, in Abschnitte unterteilt, deren Namen den spendablen Geldgebern gewidmet sind, London, Paris, Berlin, so wird das flair kosmopolitisch, es reicht bis an die Uferwildnis der Theiß und selbst bis zum trostlosen Schick der zentrumsfernen Plattenbauten, auf deren Hauswänden Zettel mit aufgedruckten Gedichten kleben, so wie auch an Bushaltestellen und auf Parkbänken Gedichte zu lesen sind, die einen einhalten lassen und vielleicht forttragen in eine lyrischere Welt, zu Bildern aus Sprache, die halten mögen über die nächsten Stunden hinaus und bis in den Abend hinein, an dem einige Jugendliche sich für eine lange Nacht versorgen, sie ziehen mit Säcken von Burgern und Cola in Bechern von Starbucks und Mac Donalds delivery durch die Straßen, gefolgt von einer Gruppe sehr cooler Jungs in Jacken aus Lederimitat, hörbar am Leben und bemüht darum, es mit großen Gesten zu führen, lärmend und auf ungestüme Art zufrieden, denn die Verführungskraft des konsumistischen Westens ist ungebrochen, wenn auch die Welt an ihr zugrunde gehen wird, davor aber wird doch bestimmt noch ein Morgen kommen, einer wie der folgende zum Beispiel, mit den für jeden Morgen typischen Geräuschen von Lieferwägen, die zufahren und abwerfen, was die Stadt hier und heute verbrauchen soll, es wird ausgeladen und gestapelt, verschleppt und verräumt und eingelagert, während ein schweres schwarzes Auto mit Kuweiter Kennzeichen unerlaubt und zu schnell in die Fußgängerzone fährt und die wenigen Passanten, kurz aufgeschreckt, zur Seite springen.

 

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Du wolltest also im Frühjahr kommen, wenn das Dorf erblüht. Mit dem Bus von Szeged wolltest du kommen und am Ortseingang von Röszke aussteigen, beim früheren Bahnwärterhäuschen, Zeugnis und Rest einer Zeit, die bald schon Geschichte ist, als die Züge hier Halt machten, als man hier noch ankommen konnte oder von hier fortfahren, auf Gleisen, die jetzt abgetragen werden und Meter für Meter rückgebaut, das ergibt ein aufgerissenes Gelände, das ergibt eine haltlose Unruhe rund um einen am Feldrand aufgeworfenen Haufen herausgestemmter Gleisstücke, gebogener Tramen, zersplitterter Holzplanken, das ergibt eine Menge umgewühlter Erde am Bahndamm, der geplättet und eingeebnet wird, zusammen mit Sträuchern, Ästen und Gras, rückstandslos niedergewalzt von Baggern, Bulldozern, Lastwägen, die zu- und abfahren mit Erdreich, Schutt und Schrott, so wie man wenige Jahre zuvor mit den Geflüchteten abgefahren ist, die versucht hatten, hier über die Grenze zu gehen, von Serbien kommend und den Bahndamm entlang mit Kindern, Plastiktaschen und unbeirrbaren Hoffnungen, du solltest dir die Bilder nicht vorstellen wollen, denn solche Bilder rücken nah ans Gemüt.

Gemütvoll ist immerhin der Ort, der davon nichts erzählt. Er gibt sich verschwiegen und fern von dem, was man anderswo Fortschritt nennt. Kleine Häuser mit geziegelten Dächern inmitten großzügig bemessener Gärten bilden einen harmonischen Ortskern, unberührt von den Erscheinungen der sogenannten Moderne, selbst einige Neubauten am Rand des Dorfes passen und fügen sich umstandslos ein. Allenfalls das Geschrei der Hühner hinter den Mauern von Euro Chicken, nahe der nach Karl Marx benannten Straße, garantiert die Anbindung an die größere Welt von Konzernen und der Logik des Kapitals.
Die Schrecken also sind klein gehalten und hintergründig, sie kommen zum Beispiel von den Hunden, die an Ketten reißen. Von den Kriegsdenkmälern, die erinnern daran, dass auch dieser Ort nicht herauszuhalten war aus der Geschichte. Von dem geduldig verfallenden Haus mit Davidstern am Giebel, darüber die Jahreszahl 1905.

Und dann der Zaun, so unvermittelt wie unhintergehbar, am südlichen Ende des Dorfes, wo es ausläuft in die grenznahen Felder, der Theiß zu, die Ungarn von Serbien trennt. In zwei Reihen gespannt, dazwischen ein breiter Erdstreifen, und das surreale Bild von Krähen, die darüberfliegen, und Männern, die ein anliegendes Feld in Länge und Breite vermessen, sehr konzentriert und unbeirrt, und hier also dieser Zaun aus NATO-Draht, mit Schneiden von sechs Zentimetern Länge, rostfrei und prächtig glänzend in der Sonne, schillernd beinahe, Rasierklingenzaun, heißt es bei Zsófia Bán, und du solltest erschrecken und du erschrickst auch tatsächlich vor den unter Kameras und Lautsprechern in regelmäßigen Abständen am Zaun angebrachten Schildern, die in arabischer Schrift darauf verweisen, dass der Zaun elektrisch geladen sei, als könnte er sonst zu harmlos erscheinen.

Du gehst den Zaun entlang, ein paar Hundert Meter, versuchst den Blick abzulenken auf die links davon liegenden Häuser mit Gärten, in denen Hühner scharren, und Obstbäumen, deren Blühen die Verstörung noch vergrößert – der Zaun lässt eine solche Ablenkung des Blicks nicht zu, er schiebt sich vor jedes andere Bild und ins Denken hinein, das hier wörtlich an eine Grenze stößt, dem das Maß verloren geht, an das du doch immer noch glauben wolltest, aber an den Zaun reicht dein Maß nicht heran.
Er schaffe ein Gefühl der Sicherheit, sagt eine Anwohnerin. Er lasse ihn spüren, wohin er gehöre, sagt ihr Mann. Er schaffe ein unangreifbares Zuhause, sagen die anwohnenden Nachbarn, und er schaffe Beruhigung, vor allem nachts, wenn man doch schlafen möchte, vor allem im Winter, wenn es früh dunkel wird, und vor allem der Kinder wegen, die man doch in Freiheit aufwachsen und ohne Angst spielen lassen wolle, hier, an der Grenze, an der dein Denken zum Stillstand und zugleich nicht zur Ruhe kommt.
Später wirst du Bilder suchen im Internet, um die sichtbare Realität abzugleichen mit jener von Daten und Fotografien, als könnte sie dadurch ihre Unwirklichkeit verlieren. Menschen, als Einzelne kaum mehr wahrnehmbar, die sich drängen vor dem Zaun. Polizisten und Grenzbeamte, durch ihre Uniformen von der Menge abgehoben, die sie zurückdrängen. Männer, die Rehe, Hasen, Füchse aus dem Klingendraht schneiden, deren Körper so zerstückelt sind wie ihr durch den Zaun zerschnittener Lebensraum, du solltest dir ihre Tode nicht vorstellen wollen, denn solche Tode rücken nah ans Gemüt.

Es geht hier also nicht weiter. Der Zaun ist lückenlos, er lässt nichts offen und er lässt nichts zu, noch nicht einmal die Fantasie, dass er sich, wie alle Materie und früher oder später, wieder zersetzen würde, dass er sich Stück für Stück und Meter für Meter in die Erde absenken oder gegen jede physikalische Wahrscheinlichkeit in Luft auflösen würde, mit den Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten nach den vorerst gezählten und irgendwann letzten Tagen der Menschheit, aber eine so trostreiche Fantasie gibt der Zaun nicht her, jedenfalls nicht hier, jedenfalls nicht heute, und kehrt sie stattdessen um in die mehr und mehr Raum greifende Vorstellung davon, wie er selbst noch die Ewigkeit überdauern und hier stehen bleiben würde, inmitten restlos verbrannter Erde und einem restlos entleerten Raum, dieser exakt vermessene, 175 Kilometer lange, unzersetzbare und unentzündbare Zaun aus rostfreiem Stahl, ein letztes erbarmungsloses Zeugnis, ein letzter musealer Rest, der auf die Menschen verweisen würde, auf ihre Hybris und auf ihre zu große Angst.

Im Dorf, unweit des Zauns, ein Lokal, das keinen Namen hat, hölzerne Bänke und Tische in einem großen Saal, darüber abgestandene Luft, der Rauch von Jahren; an den Wänden hängend Speisekarten, die für Gulyas und Babygulyas werben, daneben verblichene Ansichten des Orts, schwarz-weiße Fotos von Dorffesten, Hochzeiten, Ochsenkarren. Ein altes Radio aus den 60ern spielt Operettenmelodien, und auch der im Eck hängende Fernseher läuft, zwei Tonspuren, die auseinander- und wieder zusammenlaufen. Im Fernsehen die letzten Minuten der Übertragung eines Fußballspiels, danach Nachrichten, unbeteiligt vorgetragen in dieser Sprache, die du nicht verstehst, das Wort Europa immerhin dringt zu dir durch, es steht im Raum, ein wenig fremd, ein wenig unzugehörig, bis die Musik sich darüberlegt, Ich hab kein Heimatland, eine Aufnahme aus dem Jahr 1933, gesungen von Friedrich Schwarz, kurz bevor er ins Exil ging nach Paris. Es muss eine widersinnige, eine aberwitzige und unergründbare Koinzidenz sein, dass dieses seit Jahrzehnten vergessene Lied hier und jetzt von einem ungarischen Radiosender gespielt wird und dich hinausschiebt aus der abgezäunten Gegenwart, im Zusammenprall zweier Wirklichkeiten, die sich kreuzen und ineinandergreifen, in diesem Moment, in diesem auf groteske Weise gesicherten Ort, in diesem Land, das nur die Zäune getauscht hat, um von einer Unfreiheit in eine andere zu taumeln, aber was bedeutet Freiheit.

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Petra Nagenkögel, geboren 1968 in Linz, lebt in Wien. Sie hat Germanistik, Geschichte und Philosophie in Salzburg studiert und leitet seit 1996 den Literaturverein prolit im Salzburger Literaturhaus mit Schwerpunkt auf der Vermittlung mittel/ost- und südosteuropäischer Literaturen. Parallel dazu Theaterarbeiten, Rezensionen und die Gestaltung von Theater- und Schreibwerkstätten; Herausgabe mehrerer Bände mit literarischen Arbeiten von jugendlichen Strafgefangenen, „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“, psychisch beeinträchtigten Menschen. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einem aktuellen Projekt, in dem es um die literarische Erkundung von Grenzorten und Grenzregionen geht. Zuletzt erschienen: Dort. Geografie der Unruhe (Verlag Jung und Jung, 2019). www.petranagenkoegel.at

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Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.