Vor Ort

Von Peter Henisch. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XL

Online seit: 19. November 2021
Peter Henisch © Eva Schobel
Peter Henisch. Foto: Eva Schobel

Die Versuchung, eine Geschichte zu schreiben, in der einer träumt, er würde K entführen. K und seine Klone (Klon*innen) in einem Kleinbus. Seid ich alle da? Ja? Also passt auf, wir fahren jetzt vorerst einmal nach Moria. Da sitzen sie alle im selben Bus oder ist es ein Boot, ach ja, eher ein Boot, vielleicht ein Tragflügelboot, das Schifferl schwingt sich daune vom Land / ade / jetzt fahren wir nach Griechenland / ade, Moria, das ist eine Super-Destination, Schlammbäder mit Kinderchor im Hintergrund, verendende Kinder, die singen besonders rührend, aber da darf man nicht emotional werden, nicht sentimental werden, wir müssen weiter, weiter, immer weiter, wir fahren übers weite Meer, wo die Flüchtlingsboote versenkt werden / mein Schatzerl seh i nimmermehr / ja, das ist traurig , aber alternativlos, die Küstenwachen und Frontex, die machen nur ihren Job, ein paar Unsrige, versierte Schifferlversenker, sind womöglich auch dabei, aber das sehen wir nur von fern, von oben, denn unser Boot hat sich erhoben, fliegt, erstaunlich, oder nein, jetzt sitzen wir – ist ja eben ein Traum – jetzt sitzen wir plötzlich in einem Flugzeug, unter lauter Afghanen, die bis auf weiteres nicht abgeschoben werden dürfen, aber was solls, wir schieben ab, stolzdrauf, da fliegen sie, da fliegen wir, unten, wie auf einer Landkarte, Türkei, Syrien, Irak, der Euphrat, der Tigris, Iran, dann Afghanistan, Berge, Berge, in die Berg bin i gern, da gfreut si mei Gmüat, man versteht gar nicht, warum diese Menschen nicht in ihrem Land bleiben wollen, sehen Sie doch, sagt K zu den Afghanen, wie hübsch Sie es da unten haben, und ja, die Reisegruppe aus der Alpenrepublik könnte sich da auch recht angeheimelt fühlen, Almröserln, Enzian, stimmt, die weiblichen Klone werden die Burka tragen müssen, aber wahrscheinlich nur vorübergehend, es wird nicht so heiß gegessen, wie gekocht wird, nach und nach wird sich alles beruhigen, stimmt, in Kabul explodiert hier und da noch etwas, und da und dort auf dem Land gibt es noch Scharmützel, aber das legt sich, auch die Ami-Drohnen fallen von Tag zu Tag weniger dicht, Afghanistan ist schön, komm und bleib, grüß Gott, sagen die Taliban, aber nein, das ist ein Missverständnis, sagt K, holt mich hier raus, ruft er in sein Smartphone, aber die Verbindung ist schlecht, man hört ihn kaum.

Ich habe niemals nicht die Unwahrheit gesagt, sagt er. Niemals nicht vorsätzlich. Ich habe die Balkanroute gesperrt. Ich bin der Verteidiger unserer abendländischen Werte. Ich habe den Papst heimgesucht, der Heilige Vater hat Verständnis für unseren speziellen Umgang mit der Flüchtlingsthematik. Oder war das Trump. Oder war das mein lieber Freund Orban.
Holt mich hier raus! Jetzt wird es allmählich ungemütlich … Was tut Ihr denn ohne mich? Ihr wollt mich doch zurückhaben – oder? … Oder doch nicht? … Hab ich da etwas nicht mitgekriegt? Das darf doch nicht wahr sein!
Mashallah, sagen die Taliban.

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Peter Henisch, geboren am 27.8.1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät, Studium (Philosophie, Psychologie, Geschichte, Germanistik) in den 60er Jahren. Um 1965/66 in der Lokalredaktion der Wiener ARBEITERZEITUNG, 1969 Mitbegründer der Literaturzeitschrift WESPENNEST, ab 1972 Literaturredakteur der Zeitschrift des Theaters der Jugend NEUE WEGE. Seit etwa 1975 freischwebender Schriftsteller. Gedichte (Das ist mein Fenster), LPs & CDs (u.a. Alles in Ordnung, Blues Plus) und zahlreiche Romane (u.a. Die kleine Figur meines Vaters, Schwarzer Peter, Vom Wunsch Indianer zu werden, Morrison Versteck, Der verirrte Messias, Eine sehr kleine Frau, Suchbild mit Katze. Zuletzt, 2021: Der Jahrhundertroman, Residenz Verlag).

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.