Singen im Wald

Von Olga Flor. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 111

Online seit: 31. März 2023
Olga Flor © Marko Lipus
Olga Flor. Foto: Marko Lipus

Pflanzen duckten sich: es herrschte Wind, der umso wütender wurde, je näher man der Meer-Land-Grenze kam. Haischwärme trieben vermehrt Oktopoden ans Ufer. Für den Schlaf wählte Armanda den Rückzug in den Nachtbereich, in die Trockenstruktur des Waldes, die Vegetation war auch aus dem Tritt gekommen, irgendwo war immer Herbst. Armanda suchte nach geeigneten Stellen für Liegeplätze in der Hoffnung auf Rückendeckung, die Möglichkeit, sich in eine Mulde, eine Laubhöhle zu drücken, den Ausgang stets im Blick. Die Füße taten weh. Die Einsamkeit machte ihr nur gelegentlich zu schaffen, das Bewusstsein, in sich mit sich ganz allein zu sein, das mit steigendem Alter gewachsen war, suchte nach Ordnungen im Äußeren, die sie in ihren regelmäßigen Wanderungen fand, deren Umkehrpunkte sich eingruben, wenigstens eine Zeit lang. An Feuern in Windschattenzonen traf sie auf andere, deren Lebensrhythmen halbwegs mit ihrem korrelierten. Landeinwärts war die Luft ruhiger. Windparks hatten sich als mittelfristig einigermaßen stabile Geldanlage herausgestellt, sofern man sich auf den Wert der Währung einigen konnte und die Räder nicht umgerissen wurden, was vorkam. Auch die Zerstörung aus scheinbar reiner Freude war ein verbreitetes Phänomen, dessen Potential nur zu leicht unterschätzt wurde, das feine Gefühl für die Dinge, die Angst generieren, macht sich bezahlt.

Es war also ein vorsichtiges Herantasten, da Vorteil, dort Gefahr, das gemeinsame Essen gab den Beteiligten ein wenig Halt, flüchtig zwar, und das wussten alle, doch unmittelbar intensiv. Man konsumierte auch vergorene Früchte, ein Suchtverhalten, das Menschen mit bestimmten Tieren teilten, man musste ihren Spuren nur folgen, um fündig zu werden. Manchmal, selten, kam es zu sexuellen Interaktionen, manchmal auch zum Aufflammen von Buschbränden. Immer ein bisschen riskant, sich auf andere einzulassen. Auf die Gruppengröße kam es an, fand Armanda, doch auch das beileibe nichts, auf das man sich verlassen konnte. Sie hatte ein Kondensationszelt aufgebaut und wollte eben das Rohrsystem zum Ableiten des Wassers anbringen, während rundherum ein paar ältere Menschen saßen, die eine lose Gemeinschaft zu formen schienen, als eine Reihe von Quadbikes angefahren kam, und der Lärm und die infantile Wucht dieser Maschinen verhieß nichts Gutes. Man wusste schließlich auch nie, wer wie bewaffnet war, die Quadbikes drosselten das Tempo, als sie sich annäherten, eines hinter dem anderen in klarer Hordenhierarchie. Einer der Männer am Feuer begann zu singen, eine Melodie, die man zu kennen schien, ohne nachzudenken (es war eine Werbejingle, die Armanda später aus dem Gedächtnis rekonstruierte). Andere sangen mit, und das in unterschiedlichen Sprachen, die bloße Existenz dieses Liedes schuf eine hauchdünne Hülle, die über der Gruppe waberte und sie zu beschützen schien. Das erste Quadbike beschleunigte, zu wenig zu holen hier, der Mühe nicht wert, die anderen folgten und verschwanden aus dem Blickfeld, wenn auch das Geräusch der Motoren noch lange nachhallte.

Armanda spürte wieder Schmerzen im Fußgewölbe, setzte sich hin, zog die Schuhe aus und massierte die Fußsohlen, die ärgsten Blasen waren abgeheilt. Sie dachte an Nora, ihre einzige Tochter, eine starke und schöne junge Frau, wie sie fand, aber das war eben die Wahrnehmung einer Mutter, aus Stolz geboren. Der Sänger verstummte. Eine weibliche Stimme füllte die Stille mit Informationen über die Filterung von Wasser mithilfe von Gras, Moos und Holzkohleresten vom Vortag, was Armanda an ihren Kohletablettenmangel erinnerte. Und Sand natürlich, setzte die Frau hinzu. Armanda erhob sich aus ihrem Schneidersitz, die Beine schon ein wenig eingefroren, der Gang tollpatschig, bis wieder ausreichend Blut in die Gliedmaßen kam, sie ging zu einem provisorisch errichteten Tisch, auf dem noch die Reste des gemeinsam Gekochten herumstanden. Das Vegane war übrig geblieben, und sie nahm sich noch einmal davon. Sie setzte sich wieder und betrachtete ihre behosten Oberschenkel. Der Stoff hatte auch schon bessere Tage gesehen.

Der Gestank des Anfangs war verflogen, die Biomasse verformte sich ständig, was zu verarbeiten war, wurde wieder in den Kreislauf eingespeist, und ein wenig vermutete Armanda, dass sich der Geruchssinn einfach anpasste an die Gegebenheiten. Sie nahm an, dass sie die Grenzen dessen, was sie gerade noch erträglich fand, vor sich herschob wie eine Bugwelle. Sie dachte wieder an Nora, die so begeistert gewesen war, als sie dieses neue Wort gelernt hatte: Ho-se, dass sie es mehrfach wiederholt hatte, so gut hatte es ihr gefallen. Das Bild des fröhlichen Kleinkindes, das Nora gewesen war, verwehte nicht. Sie sah das zweijährige kurzgelockte Mädchen ganz deutlich vor sich, das angesichts neuer Erlebnisse erst einmal abwartete, was auf es zukam, das ruhig wurde beim Anblick elementarer Dinge wie des anrollenden Meeres, schweigend die Kraft der materiellen Überwältigung einsaugend, noch ohne den Eindruck in Sprache verwandeln zu können. Dann hatte sie – sich in urmenschlicher Manier hinhockend, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, ohne mit dem Hintern den Boden zu berühren – älteren Kindern dabei zugesehen, wie die von einer Kaimauer ins Wasser sprangen, durch die Brandung hüpften, an Land zurückliefen, um erneut zu springen, und die Muskeln in Noras kleinem Körper hatten gezuckt, die Abläufe ansatzweise imitiert, Bewegungsmuster vorbereitet, die sie erst später würde umsetzen können. Schließlich hatte sie nicht mehr an sich halten können, war auf und ab gehüpft und hatte vor Freude gequietscht. Da waren sie noch zu viert gewesen. Nora hatte es besonderes Vergnügen bereitet, sich beim Gehen an den Beinen ihres Vaters festzuhalten, er war langsam und mit weiten Schritten geschlendert, während sie um ihn herumpendelte. Die Leichtigkeit eines Sommertages: Sommertag, das Wort konnte man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Auszug aus einem in Arbeit befindlichen Roman mit dem Arbeitstitel „Welt fällt“.

* * *

Olga Flor, geboren 1968 in Wien, aufgewachsen in Wien, Köln und Graz. Nach dem Abschluss eines Physikstudiums Arbeit im Multimedia-Bereich. Seit 2004 freie Schriftstellerin. Romane, Kurzprosa, Essays, Theater – und Musiktheaterarbeiten. Publikationen in Tageszeitungen und Zeitschriften, z.B. Standard und Berliner Zeitung. Lehrtätigkeit, Kuratorin, Symposienbeiträge, Keynotes und Reden. Zahlreiche Preise und Stipendien, u.a.: Anton-Wildgans-Preis 2012, Outstanding Artist Award 2012, Veza-Canetti-Preis 2014. Droste-Preis der Stadt Meersburg 2018. Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz 2019. Publikationen, Auswahl: Die Königin ist tot, Zsolnay 2012, Ich in Gelb, 2015, und Klartraum, Jung und Jung, 2017 (Shortlist Österreichischer Buchpreis), Politik der Emotion, Residenz Verlag,  2018, Morituri, Jung und Jung, 2021 (Shortlist Österreichischer Buchpreis). Kontakt: http://www.olgaflor.at/die-autorin/

* * *

Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift VOLLTEXT für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.