Herbst

Von O. P. Zier. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 107

Online seit: 3. März 2023
O. P. Zier © Lukas Beck
O. P. Zier. Foto: © Lukas Beck

Als ich an diesem Dienstag, dem 23. Oktober 1973, um zwanzig Minuten nach acht Uhr wach wurde, ohne dass mich, wie wochentags damals üblich, mein vor einigen Monaten mit sechzig Jahren in Pension gegangener Vater geweckt hatte, und es somit  zu spät war, um noch im Rahmen der gleitenden Arbeitszeit ins Büro zu kommen, erfasste mich, schon während ich in meinem kalten Zimmer aus dem Bett sprang, mit einer davor noch nie erlebten Intensität die Vorahnung einer furchtbaren Katastrophe!

Vor drei Tagen, am 20. Oktober, war ich 19 Jahre alt und damit nach damals geltendem Recht volljährig geworden. Meine in der Innsbrucker Universitätsklinik mit den wenigen ihr noch verbliebenen Kräften vergeblich gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs und damit um ihr Leben kämpfende Mutter hatte mir in ihrem Gratulationsbrief noch mit der für sie typischen tapferen Zuversicht angekündigt, dass wir meinen Geburtstag – selbstverständlich wie jedes Jahr mit der obligaten, von ihr gebackenen und liebevoll verzierten Torte! – nachfeiern würden, sobald sie vom Spital wieder daheim wäre.
Tatsächlich sollte sie nur noch ein einziges Mal in ihrem Leben für zwei Tage nach Hause kommen und dabei den zum Krankenbett umfunktionierten Diwan in der Küche jeweils bloß für den mühsamen, an ihren letzten Kräften zehrenden Gang ins Bad beziehungsweise auf die Toilette verlassen.
Die erst vor wenigen Monaten bezogene, ebenerdige Werkswohnung in der Bahnhofstraße in Lend Nr. 84, direkt neben dem Franz Angerer Volksheim der Gewerkschaft gelegen, war mit 55 Quadratmetern die mit Abstand größte, die meine Familie zeitlebens bewohnt hatte! Sie verfügte über drei Räume und – erstmals im Leben meiner Eltern wie natürlich auch in meinem eigenen – über einen kleinen Vorraum sowie Warmwasser und ein gleichfalls sehr kleines, mit einer von meinem Vater montierten Heizspirale versehenes Badezimmer, in dem sich auch das – zum ersten Mal nicht mehr auf dem Gang außerhalb der eigenen vier Wände gelegene! – Klosett befand.
Da sie einen Raum an mich abgetreten hatten, lebten meine Eltern also auch in der ersten „abgeschlossenen dreiteiligen Wohnung“ ihres Lebens, die nach so kurzer Zeit schon ihre letzte werden sollte, wie eh und je in einer Wohnküche mit angrenzendem Schlafzimmer.

Ich rannte bloßfüßig über die ausgekühlten Böden die wenigen Schritte in die Küche, wo der Vorhang des einzigen Fensters noch zugezogen war, und sah im Vorbeilaufen ein Sparbuch sowie etwas Bargeld auf dem Esstisch liegen.
Auch im angrenzenden Elternschlafzimmer war der Vorhang zugezogen. In Sekundenbruchteilen nahm ich wahr, dass auf dem Nachtkästchen meines Vaters eine halb geleerte Slibowitzflasche stand. (Er musste sich den Schnaps am Vortag extra gekauft haben, da er, der aus der Wachau stammte, zwar  immer, wenn Besuch kam, mit einem Glas Wein anstieß und so einen „guten Tropfen“, wie er zu sagen pflegte, auch genoss, ich ihn jedoch meine ganze Kindheit hindurch niemals Schnaps trinken gesehen hatte.)
Die an der Wand neben seinem Bett angebrachte Nachttischlampe war eingeschaltet und bestrahlte indirekt die ein wenig aus seinem Mund getretene, wulstige Zunge im Gesicht meines Vaters, der sich im Pyjama und bloßfüßig mit leicht eingeknickten Knien an einem sehr dünnen Strick, der um das in der Zimmerecke durch den Raum führende Ofenrohr geschlungen war, irgendwann in der vorangegangenen Nacht erhängt hatte.
(Seit diesem Tag sollte es mir noch lange Jahre hindurch großes Unbehagen bereiten, nach dem Aufstehen in der Wohnung einen Raum mit zugezogenen Vorhängen zu betreten. Und so schob ich sie dann Abend für Abend vor dem Schlafengehen zurück.)

Wie alle anderen Parteien in diesem der Aluminiumfabrik in Lend gehörendem Wohnhaus verfügte auch meine Familie über keinen Telefonanschluss, also hatte ich alles, was jetzt getan werden musste, persönlich zu erledigen, ehe ich mit dem Zug nach Innsbruck fahren konnte, um meiner Mutter die fürchterliche Todesnachricht zu überbringen.
Rückblickend kommt es mir so vor, als habe ich in den darauffolgenden Stunden mit dieser Betriebsamkeit den kaum zu ertragenden Schmerz dadurch vorerst auf Abstand gehalten, dass ich ihm im Wortsinn davongelaufen war: Zuerst rannte ich zur Ärztin, deren Ordination sich im unteren Teil des Gewerkschaftsheimes befand, danach zur Gendarmerie.

Wobei ich wirklich „blindlings“ von einer Örtlichkeit zur anderen unterwegs war und heute, bald ein halbes Jahrhundert später, die Reihenfolge logisch rekonstruieren muss, da die noch immer Beklemmungen auslösenden Bilder jeweils für sich zu stehen scheinen.

Anschließend gab ich auf dem Weg zum Ortspfarrer Franz Guggenberger, bei dem ich auch schon einen Begräbnistermin vereinbarte, im Büro Bescheid, warum ich heute nicht zur Arbeit erschienen war. (Eine Arbeit, mit deren Geld ich beabsichtigte, mir in ein, zwei oder vielleicht drei Jahren des Sparens das von mir geplante Studium an der Wiener Filmakademie zu finanzieren.)

Nachdem die Gendarmeriebeamten den Leichnam meines Vaters freigegeben hatten, kam das Bestattungsunternehmen Wazlawik aus Schwarzach. Im Leichenwagen fuhr ich dann in den Nachbarort mit, um in der Firma von Kränzen über Partezettel bis hin zur Sargauswahl alle geforderten Entscheidungen zu treffen.
Beim Bestatter versuchte mich die Frau des Eigentümers im herbstlichen Halbdunkel des Raumes mit gedämpften Worten zu trösten. Dabei erschien mir das, was sie sagte, als absolut verrückt, gerade weil sie es mit so großer Überzeugungskraft vorbrachte, als glaubte sie tatsächlich auch selbst daran; als seien diese Worte nicht ihrer jahrelang ausgeübten Profession geschuldet, wenn sie sagte, dass es ganz bestimmt der Föhn gewesen sei, ja, der Föhn habe meinen Vater Suizid verüben lassen.
Ich nickte, ohne etwas darauf zu sagen. Erst viel später erfuhr ich, dass ihm, einem erkennbar hypersensiblen und leicht in Angst zu versetzenden Menschen, in der Uniklinik in Innsbruck mehr oder weniger im Vorbeigehen mitgeteilt worden war, dass seine Frau Weihnachten „bestimmt nicht mehr“ erleben werde!
So sehr, wie dieses Paar aneinandergehangen war, wäre meinem Vater ein Leben als Witwer absolut unmöglich gewesen! Daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Auch nicht, dass er längst auch auf anderen Wegen in Erfahrung gebracht hatte, dass es bei Bauchspeicheldrüsenkrebs keine Heilung gab. (Jahrzehnte später sagte mir mein in Innsbruck lebender Cousin Helmut, der meine Mutter für die paar Tage Auszeit aus der Klinik mit dem Auto nach Lend gefahren hatte, dass sie „so elend“ beisammen gewesen war, dass er schon befürchtete, sie sterbe ihm während der Fahrt.)

Seltsam, in welcher Deutlichkeit mir nach dem Verlassen des Bestattungsunternehmens über Jahrzehnte hinweg eine vollkommen nebensächliche Szene in Erinnerung geblieben ist: Auf dem Weg zu dem neben dem Bahnhof gelegenen Postamt in Schwarzach begegnete ich einem flüchtigen Bekannten, der gerade an der Straße als Vermesser tätig war, und dem ich auf seine nur als Floskel gedachte Frage, wie es mir gehe beziehungsweise was ich denn in Schwarzach mache, sofort vom Selbstmord meines Vaters erzählte und von den vielen Dingen, die ich im Zusammenhang damit jetzt hier im Nachbarort zu erledigen hätte, bevor ich weiter hastete, als wäre ich tatsächlich gerade dabei, vor irgend etwas davonzulaufen.
Vom Postamt in Schwarzach schickte ich meinem Bruder Franz, der als Sohn eines Bruders meiner Mutter eigentlich mein Cousin war, den meine Eltern aber von seiner Geburt an als Ziehsohn angenommen und uns beide gleichberechtigt als Brüder aufgezogen hatten, da Franz’ leibliche Eltern bereits sehr viele Kinder hatten, ein Telegramm in die Schweiz, in der er seit einigen Jahren lebte, da er in Neuhausen am Rheinfall als Chemiker im Forschungsinstitut der Alusuisse beschäftigt war, zu dessen Konzern auch die Aluminiumfabrik in Lend damals noch gehörte.
Dann rief ich die väterlichen Verwandten in Niederösterreich an sowie meine Tante, die jüngste Halbschwester meines Vaters – er war das ledige älteste Kind seiner Mutter gewesen –, die als Ordensschwester in der Apotheke des Krankenhauses der Barmherzigen Schwestern in Linz tätig war. Es überraschte mich, wie gefasst sie die Nachricht aufnahm; ganz so, als handle es sich um das, was man einen natürlichen Todesfall zu nennen pflegt. Auch später, als sie zum Begräbnis anreiste und einige Wochen danach, als sie mich erneut für ein paar Tage besuchte, hörte ich von ihr kein einziges Wort darüber, dass es meinem Vater womöglich nicht zugestanden wäre, sich selbst gegen das Weiterleben zu entscheiden. Sie erwähnte nur, dass er in seinem ganzen Leben immer schon alles sehr schwer genommen habe, was ich sofort bestätigen hätte können, es jedoch aus einem unerfindlichen Grund nicht tat. Irgendwie hatte ich den Eindruck, so wenig überrascht, wie sie war, als habe sie mit so einem Ende bei ihm schon längst gerechnet. (Die beiden verstanden sich ihr Leben lang außerordentlich gut – der überzeugte Sozialist und die Klosterschwester!) Überdies machte sie eine Andeutung, dass Papa ihr gegenüber offenbar bereits Suizidabsichten geäußert habe. – Vermutlich im Zusammenhang mit seiner panischen Angst vor Krankheiten, seit er – davon immer wieder erzählend – als Kind den grauenhaften Krebstod eines Onkels miterleben musste, der sich vor Schmerz selbst die Lippen vollkommen zerbissen hatte! Dieser Onkel hatte als Folge seines starken Zigarettenkonsums an Zungenkrebs gelitten – und seit Papa in Pension war, begann ihn dieses Trauma mehr und mehr wieder einzuholen; er entdeckte auf seiner Zunge einen – wohl harmlosen – Belag, und befürchtete sogleich das Schlimmste! Die örtliche Sprengelärztin empfahl ihm, mit der Zahnbürste und einem Mundwasser die Zunge abzureiben!
Für ihn war Krebs seit seiner Kindheit nicht nur ein absolut sicheres Todesurteil gewesen, sondern eines, das unermessliche Qualen verhieß und absolut unheilbar, nicht einmal zu lindern  war!
Bei mir hätten natürlich auch alle Alarmglocken läuten müssen, wie man bei uns zu sagen pflegt, als mein Vater bei einem kleinen Spaziergang vor wenigen Monaten unvermittelt gesagt hatte: „Es wäre wohl eh schnell vorbei?“ Er fragte das unaufgeregt, fast beiläufig. Da wir davor schweigend gegangen waren, hatte er offenkundig ständig nur an den Suizid gedacht. (Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt noch nicht in der Universitätsklinik in Innsbruck, sondern im Krankenhaus in Schwarzach gewesen.) Irgendwie klang er so, als sei für ihn zu diesem Thema ohnehin alles geklärt, geblieben nur noch diese kleine Frage, die er jetzt so nebenher gestellt hatte.
Ich fühlte mich hilflos und überfordert und reagierte auf diese Mischung aus Frage und Feststellung wie auf ein absolut unrealistisches Hirngespinst. Papa ließ es sofort dabei bewenden, als sei ihm der Satz als eine Art Zumutung herausgerutscht. Und er kam die Monate, die er danach noch lebte, mir gegenüber nie wieder auf dieses Thema zurück.
Meine Tante, mit dem Ordensnamen Sr. Makrina, hatte zu meiner Verblüffung auch damit kein Problem, als für sie offenkundig war, dass ich wirklich nur ihr zuliebe in die Kirche ging. „Sonst gehst du überhaupt nie, gell?“ sagte sie ohne vorwurfsvollen Unterton. Ab und zu wenigstens, bat sie, solle ich doch gehen. „Eh nicht immer. Ab und zu aber schon.“ (Sie verlangte allerdings nicht, dass ich ihr etwas versprechen solle, was ich wohl nicht halten würde.)
Mich überraschte ihr Verhalten auch deshalb so sehr, da Briefe und Karten dieser Tante immer voll waren mit religiösen Inhalten – zum Sinn des Weihnachts- oder des Osterfestes – und nur ein, zwei dürre Sätze ihrem persönlichen Befinden galten, an dem meine Eltern, vor allem mein Vater, allerdings ausschließlich interessiert gewesen wären. Vielleicht kam sie dabei ihrer missionarischen Verpflichtung nach, da ihr die Skepsis meines Vaters in Glaubensfragen nicht unbekannt war. Überdies dürfte es für die Frau, die beinahe ihr ganzes Leben lang unentgeltlich schwer gearbeitet hatte, einfacher und beruhigender gewesen sein, diese Geschichten wiederzugeben, als allenfalls auf eigene – gesundheitliche oder ganz alltägliche Probleme ihres Lebens als Ordensschwester ausführlicher einzugehen. (Davon sollte sie mir gegenüber erst Jahrzehnte später bei Besuchen Verschiedenes erzählen. Wie gehässig die Schwestern untereinander sein konnten. Ihr, die im Klostergarten voll Hingabe Vögel zu füttern pflegte, wurde von Mitschwestern etwa das Futter versteckt und ähnliche kleine Bosheiten angetan.)
Jedenfalls überraschte es mich auch, als sie mir, lange nach Papas Tod, einmal erzählte, dass es mein Vater, der als ältester Halbbruder ihr ja den abwesenden Vater ersetzen musste,  gewesen war, an den sie sich um Rat gewandt habe, vor ihrem endgültigen Entschluss, ins Kloster zu gehen. Lächelnd hatte sie einmal gesagt, dass es schon auch einen Mann gegeben hätte, in ihrem Leben. Jedenfalls sei mein Papa, der Sozialist, es gewesen, der ihr damals geraten habe, in dieser Frage einzig auf sich selbst zu hören, auf ihre eigenen Bedürfnisse. Und wenn sie sich sicher sei, dass sie das wolle, dann solle sie sich von niemandem davon abbringen lassen.
Mein Vater, der ledige Sohn meiner Großmutter, war ihr Lieblingsbruder gewesen, da er als Ältester regelmäßig auf sie aufpassen musste. Oft hatte er vergnügt von der „Reserl“ erzählt, wie sie sich als Säugling angemacht – „auf und auf angeschissen“ – und dann mit allergrößtem Vergnügen mit den Händchen in den eigenen Kot gepatscht habe.
Auch mein Vater hatte oft davon gesprochen, dass er für den Fall, dass er einmal ins Spital müsse – da war selbst mir als Kind sofort klar gewesen, dass er damit eine ernste Erkrankung meinte, also eine, bei der es um Leben oder Tod ging –, nur zu seiner Schwester „Reserl“ nach Linz wolle …

Um 11 Uhr 15 fuhr ich mit dem Zug aus Schwarzach schon wieder nach Lend zurück, wo ich die Frau Seidl, eine enge Jugendfreundin meiner Mutter, die wie andere Frauen von ihr als Aichholzer Anni sprachen, in ihrem kleinen, vis à vis des so genannten Werkkonsums, direkt neben dem Bahnübergang gelegenen, Kiosk aufsuchte.

Die Frau bot mir an, doch meine Tante Liesl in Bischofshofen anzurufen, da sie in dem Häuschen auch über ein Telefon verfügte, weil sie neben ihrem auf Obst und Gemüse spezialisierten kleinen Geschäft auch noch ein Taxiunternehmen betrieb, für das gelegentlich ihr Mann und sehr oft sie selbst fuhr, während er sie im Kiosk vertrat und dann in dem dunklen Häuschen rauchend neben einem Tischchen in der Ecke saß und auf Kundschaft wartete.
Da auch meine Saalfeldener Verwandten damals noch keinen Telefonanschluss besaßen, muss ich irgendwie ihren in der Stadt Salzburg studierenden Sohn, meinen Cousin Toni telefonisch erreicht haben.
Die erwünschte Ablenkung gelang nicht, als ich mir danach zu Hause im Radio meine Lieblingssendung „musicbox“ auf dem Popsender Ö3 des ORF anhörte, die mir einige Jahre früher mein allererstes Autorenhonorar eingebracht hatte. Ich war damals noch Schüler und hatte für eine Sendung zum Thema Dorf meine „Retortensage“ betitelte Satire über eine Frau mit Schnurrbart geschrieben, selbst auf Tonbandcassette gelesen und diese ins Funkhaus nach Wien geschickt, wo sie dann ausgestrahlt worden war. An dieser Sendung hatte übrigens noch ein anderer, zu dem Zeitpunkt vollkommen unbekannter Jungautor namens Franz Innerhofer mitgewirkt, der um zehn Jahre älter war als ich und sich der Dorf-Thematik, soweit ich mich erinnere, auf viel realistischere Art genähert hatte als ich, der ja in dem Industrieort Lend und in keinem Bauerndorf, geschweige auf einem Bauernhof, aufgewachsen war.
An diesem Tag jedenfalls war es mir gänzlich unmöglich, mich auch nur für kurze Zeit auf die Sendung zu konzentrieren. Irgendwo in weiter Ferne lief das Programm an mir vorbei.
Nach ihrem Ende holte ich vom Bahnhof den Packen mit Partezetteln, welche die Firma Wazlawik per Bahnexpress an mich geschickt hatte und affichierte einen mit Reißnägeln an der großen Anschlagtafel in Unterlend, bevor ich heimging und anfing, die Parten an die Verwandtschaft zu schicken. In Lend hatten zu diesem Zeitpunkt durch das Weitererzählen der Neuigkeit vermutlich schon die meisten Menschen vom unerwarteten Freitod meines Vaters erfahren.
Fast auf den Tag zwei Monate später musste ich erneut eine Parte aufhängen und verschicken – diesmal mit dem Namen meiner Mutter…

Auszug aus einer in Arbeit befindlichen, umfangreichen Erinnerungsprosa.

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O. P. Zier, geb. 20. Okt. 1954, aufgewachsen in Lend/Pinzgau, lebt seit Mitte 1979 als freier Schriftsteller in St. Johann/Pongau. Als Schüler erste Veröffentlichungen in der Ö3-Musicbox und in der Zeitschrift manuskripte. Seither zahlreiche Hörspiele, Features, Funkessays und Spiel- u. Dokumentarfilme, im ORF, für Radio Bremen, den Bayerischen Rundfunk sowie Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften im In- und Ausland: Die Zeit, profil, Der Standard, Salzburger Nachrichten. Auszeichnungen: Georg Rendl Literaturpreis; Buch.Preis.2000 für Himmelfahrt. Erste Buchveröffentlichung 1977. Zuletzt erschienen: Im Otto Müller Verlag die Romane Schonzeit, Himmelfahrt und Sturmfrei sowie der Gedichtband Vom Diesseits der Wünsche ins Jenseits ihrer Erfüllung. Im Residenz Verlag die Romane: Tote Saison, Mordsonate und Komplizen des Glücks.

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Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.