Auf dem Flug nach El Paso, 12. Dezember
Das Buch steht auf der Leseliste von Barack Obama und ist diesseits und jenseits des Atlantiks mit verhaltener oder mehr als nur verhaltener, aber doch auch pflichtschuldiger Begeisterung aufgenommen worden und dennoch misslungen. Die Rede ist von Valeria Luisellis Roman Archiv der verlorenen Kinder, in dessen thematischem Zentrum, wenn man so will, die aus Mexiko in die USA geflüchteten und dort festgehaltenen oder von dort wieder deportierten Kinder stehen. Wenn man sich fragt, warum das Ganze scheitert, kommt man schnell auf das Wort „Projekt“.
Die Autorin hat ein Projekt, stattet ihre Protagonistin mit ebendem Projekt aus, nämlich „etwas über diese Kinder zu machen“, und schickt sie deshalb mit ihrem Mann, der leider auch ein Projekt hat, von New York an die mexikanische Grenze nach Arizona. Sein Projekt ist es, „etwas über die Apachen zu machen“, ein für sich genommen schon sehr riskantes Projekt, und es fügt sich, dass das Kinder-Projekt und das Apachen-Projekt in derselben Gegend spielen und die beiden deshalb, wie praktisch, mit ihren zwei Kindern eine gemeinsame Reise dorthin unternehmen können. Zu den Wendungen des Romans will ich nicht viel sagen – es gibt darin eine herzerwärmende Fünf-Freunde-Geschichte, in der die Kinder des Paares davonlaufen und sich im Grenzland auf eigene Faust auf die Suche nach zwei Flüchtlingskindern machen und sie natürlich auch finden –, nichts zu seinem ächzend mitgeschleppten Bildungsballast, der den moralischen Anspruch signalisieren soll, von der ewigen Hannah Arendt bis zum nun auch schon bald ewigen James Baldwin, und auch nichts zu seiner Strukturierung durch hochtrabende Überschriften, die seine Unstrukturiertheit nur umso sichtbarer machen, aber wenn mir in Zukunft eine Autorin sagt, sie habe ein Projekt und wenn es sich dann auch noch fügt, dass ihre Hauptfigur das gleiche Projekt hat wie sie, werde ich ihr empfehlen, sich das lieber zweimal zu überlegen.
In Einar Schleefs Tagebüchern, die ich nicht gelesen, aber immerhin auf ein paar Daten hin durchgeblättert habe, steht unter dem Datum meiner Geburt: „Nichts.“
Vielleicht hat das Misslingen auch mit einer Art kultureller Aneignung zu tun, sofern ich mir die Wendung selbst nicht falsch angeeignet habe. Vielleicht sind zwei Intellektuelle aus New York mit ihren wunderbaren, will sagen wunderbar modernen Leben und ihren ewigen Projekten, über die sie endlos reden, doch zu weit weg von den Erfahrungen an der Grenze im Süden, als dass es für einen Roman jenseits des Akademischen fruchtbar werden könnte, selbst wenn die eine von ihnen einen mexikanischen Hintergrund hat. Den mexikanischen Hintergrund hat auch die Autorin, die im Übrigen ein lesenswertes erstes Buch geschrieben hat, und ich vermute, dass darin das Missverständnis in der Rezeption liegt, weil sogar in der Literatur immer häufiger eine Rolle spielt, wer etwas schreibt, und nicht oder jedenfalls nicht nur, was er oder sie geschrieben hat: Mexikanische Autorin schreibt über malträtierte mexikanische Kinder an der Grenze. Was kann da noch schiefgehen? Vieles, leider, sehr vieles.
Beim Zwischenstopp in Houston, 12. Dezember
Ein amerikanischer Einwanderungsbeamter ist einer der wenigen Menschen auf der Welt, dem ich notgedrungen sage, was ich mache, also wohl oder übel schreiben. Er unterhält sich in der üblichen scheinbar interessierten Art mit mir, die bei der kleinsten Auffälligkeit in ein Verhör umschlagen kann, und
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