Es ist eine Zeit her, dass Dirk Stermann in der taz von der glücklichen Vertreibung einer jungen Frau aus der Buchhandlung Jeller im vierten Wiener Gemeindebezirk berichtet hat. So wie er es erzählt, scheint es eine wahre Heldentat gewesen zu sein. Denn die Frau war gefährlich, was sich nach den spärlichen Angaben des Berichts darin äußerte, dass sie einen Schottenrock trug und Jus, also Jura, studierte. Sie „hätte einen Schmiss im Gesicht gehabt, hätten Frauen dort fechten dürfen“, heißt es ohne weitere Begründung von ihr. Andererseits fragte sie immerhin nach einem Buch von Philip Roth, aber offenbar sollte sie das nicht, ja, durfte sie womöglich nicht, weil sie sich in die „Jellersche Gegenwelt“ nur verirrt haben konnte. Empfohlen wird ihr Portnoys Beschwerden, und sie geht „langsam und rückwärts aus Anna Jellers Laden und einer ihr fernen Welt raus“. Der Grund liegt allem Anschein nach auf der Hand: Die „Schottenberockte“ hatte keine „Affinität zu Onanielebern“, während Frau Jeller „die Wichsleber über die Maßen gut gefiel“. Mit einem Schmunzeln über die elegante Vermeidung der Wortwiederholung wird sich der Leser oder die Leserin an die entsprechenden Stellen in Portnoys Beschwerden erinnern – oder falls er/sie sich nicht erinnert, hier sind sie:
„,Ah, schieb ihn mir rein, Großer‘, schrie der entkernte Apfel, den ich bei diesem Picknick in den siebten Himmel vögelte. ,Großer, Großer, gib mir alles, was du hast‘, bettelte die leere Milchflasche, die ich in unserem Vorratsregal im Keller versteckt hatte, um sie nach der Schule mit meinem in Vaseline getauchten Ständer zu beglücken. ,Komm, Großer, komm‘, kreischte das verzückte Stück Leber, das ich in meinem Wahnsinn eines Nachmittags beim Metzger erstanden hatte und, glauben Sie’s oder nicht, auf dem Weg zum Bar-Mizwe-Unterricht hinter einer Reklametafel vergewaltigte.“
Später im Buch bekennt Alex Portnoy, dass das nicht das erste Stück Leber sei, an dem er sich vergangen habe: „Mein erstes Stück hatte ich ungestört bei mir zu Hause, um halb vier, um meinen Schwanz gewickelt – und dann um halb sechs noch einmal am Ende einer Gabel, zusammen mit den anderen Mitgliedern dieser meinen armen unschuldigen Familie. So. Jetzt wissen Sie das Schlimmste, was ich jemals getan habe. Ich habe das Abendessen meiner Familie gevögelt.“
Weil das natürlich ein Vergnügen ist, redet Dirk Stermann mit Frau Jeller „noch lange über die Leber“, und als er die Buchhandlung „mit einem Roman von Mordecai Richler im Papiersackerl“ (!) verlässt, kann man seine Freude zwar nachvollziehen, versteht aber trotzdem nicht, was genau geschehen ist und warum die junge Frau so böse sein soll.
Damit ist die Geschichte eigentlich schon zu Ende, aber mich lässt der Gedanke nicht los, dass es keineswegs als sicher gelten kann, mit welcher Seite Philip Roth selbst sympathisieren würde, müsste er diese Szene in einem Roman beschreiben. Und tatsächlich, je länger ich hin- und herüberlege, desto eher neige ich dazu, dass er der „Schottenberockten“ mit ihrer unbefangenen Frage nach einem Buch von ihm womöglich mehr abgewinnen könnte als der Freude über die „Wichsleber“, die (die Leber, aber auch die Freude) im Jahr 2014 auch nicht mehr ganz so frisch ist wie bei ihrer berühmten literarischen Bearbeitung durch den Autor vor fast einem halben Jahrhundert. „Jeder weiß“ ist der erste Teil des Romans Der menschliche Makel überschrieben, und Philip-Roth-Leser wissen von der ersten Zeile an, dass die Ungeheuerlichkeiten, die folgen werden, zum größten Teil falsche Behauptungen sind. Jeder weiß – jeder im Juste Milieu des Zum-Glück-nicht-mehr-und-leider-doch-noch-Haider-Österreich –, die „Schottenberockte“ hätte einen Schmiss im Gesicht gehabt. Jeder weiß … Klären lässt sich das alles wohl nicht mehr. Bei Philip Roth nachfragen, wie er die Szene darstellen würde, geht nicht, und die „Schottenberockte“ wird sich kaum melden, falls sie das liest. Oder, um im Bild zu bleiben, liest sie es naturgemäß erst gar nicht, weil sie ja, wie jeder weiß, trotz ihres Interesses für Philip Roth nur die Kronen Zeitung lesen kann. Dabei hätte mich ihre Darstellung der Begegnung in der Buchhandlung mindestens ebenso sehr interessiert wie das Stermannsche Heiligenbildchen.
Alex Portnoy, übrigens, interessiert sich auch für Schottenröcke: „Habe ich schon erwähnt, dass ich ihn mit fünfzehn auf einer Fahrt im 107er Bus von New York aus der Hose gezogen und mir einen runtergeholt habe? … Die meisten Passagiere waren schon eingenickt, bevor wir auch nur den Lincoln Tunnel hinter uns gelassen hatten – auch das Mädchen auf dem Sitz neben mir, an dessen Schottenrock ich Stück für Stück mit dem Stoff meiner Kordhose heranrückte –, und als wir zum Pulasky Skyway hinauffuhren, hatte ich ihn draußen und in der Faust.“ Auf all das komme ich überhaupt nur, weil ich in der hervorragenden Biografie Roth Unbound von Claudia Roth Pierpont lese, Philip Roth sei 1964, also fünf Jahre bevor Portnoys Beschwerden im Original erschienen ist, ein paar Mal mit Jackie Kennedy ausgegangen. Darf er das, möchte man im Geist des Stermannschen Artikels fast fragen, hat er das dürfen? Die „Schottenberockte“ jedenfalls, heißt es, würde nicht für Philip Roth stimmen, „sollte sie einmal in einer Nobelpreisjury sitzen“, ohne dass man erfährt, wie ausgerechnet sie mit ihrem Gesichtsproblem jemals dorthin gelangen könnte. Müssen aber auch wir jetzt nach diesen neuen Erkenntnissen unser Bild von Philip Roth grundlegend ändern? Müssen Buchhandlungen, die etwas auf sich halten, die Bücher von Philip Roth aus dem Sortiment nehmen, wenn sie erfahren, dass er seiner Biografin so ganz und gar ungegenweltlich erzählt, er habe nach dem Abendessen auf dem Heimweg in der großen schwarzen Limousine mit dem Secret-Service-Beamten vorn überlegt, ob er die Präsidentenwitwe küssen solle, während er gleichzeitig Lee Harvey Oswald und die Kubakrise nicht aus dem Kopf bekam? Zudem erinnert er sich, wie Jackie Kennedy ihn vor ihrem Gebäude in der Fifth Avenue in New York fragte, ob er mit hinaufkommen wolle, und, ohne seine Antwort abzuwarten, entschied: „Natürlich willst du.“ Oben sagte sie, die Kinder schliefen, was ihn an den kleinen Jungen denken ließ, der beim Begräbnis seines Vaters salutierte, und an das Mädchen, das sein Pony Macaroni nannte, und als er sie schließlich küsste, war es, als würde er ein Werbeplakat küssen.
Wahrscheinlich ließe sich herausfinden, ob Jackie Kennedy einen Schottenrock besessen hat, aber es muss ja auch kein Schottenrock sein. Sie könnte genauso gut in einem Chanel-Kostüm, weiß oder hellblau, mit einem kecken Hütchen und hochhakigen Schuhen die Jellersche Buchhandlung betreten und nach einem Roman von Philip Roth fragen. Zufällig könnte Dirk Stermann wieder einmal anwesend sein, schließlich ist es seine Lieblingsbuchhandlung, wie er schreibt, und er könnte der armen Jackie Kennedy sagen, dass der Autor nichts für sie sei, sie solle sich etwas anderes aussuchen oder noch einmal überlegen, ob es überhaupt ein Buch sein müsse oder nicht doch lieber ein Mode-Accessoire, das ihr noch fehle, eine teure Handtasche, ein Diamant-Collier – oder wenn schon ein Buch, Die Strudlhofstiege oder Die Dämonen von Doderer und eine sechsschwänzige Peitsche dazu.
„Wie meinen Sie das, etwas anderes?“
„Es ist nicht Ihre Welt. Das ist alles fern von Ihnen, fern für Sie, verstehen Sie? Es ist die Gegenwelt.“
„Die Gegenwelt?“
„Philip Roth. Wissen Sie, was der schreibt? Ein Jude.“
„Ich kenne ihn.“
„Es sind schmutzige Geschichten. Das ist nichts für Sie in Ihrem Kostümchen. Schmutzig, wie Sie es sich gar nicht vorstellen können.“
„Ach Kind, ich sage Ihnen doch, ich kenne Philip. Ich habe ihn schon gekannt, da waren Sie noch in den Windeln oder nicht einmal auf der Welt. Ich kann mir alles bei ihm vorstellen. Wenn Sie wüssten, wie man mit ihm lachen kann. Er ist der amüsanteste Mann, den ich je getroffen habe. Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass er mich verdirbt, er hat mich nur geküsst. Ich liebe seine Geschichten.“
Es könnte noch lange so weitergehen, aber wahrscheinlich würde Dirk Stermann spätestens an der Stelle anfangen, von der „Wichsleber“ zu sprechen, und, um die Abschreckung vollständig zu machen, in Dialekt verfallen. Der Erfolg würde ihm recht geben, denn kurz darauf wäre ohne Zweifel neuerlich eine Vertreibung geglückt. Zum zweiten Mal hätte er die „Gegenwelt“ reingehalten und könnte sich mit seinem Papiersackerl mit der Jellerschen Aufschrift „Verlassen Sie das Land“ auf den Heimweg machen.
Ich bin ja ein Liebhaber von paradoxen Geschichten, aber das Interesse an Büchern von Philip Roth ausgerechnet mit einem Buch von Philip Roth bannen zu wollen … ich weiß nicht. Über zwei oder drei Ecken erinnert mich das an einen Cartoon, den ich in der jüdischen Untergrundzeitschrift Davka gefunden habe. Darin wird eine schlafende Frau immer wieder von einem Vampir überfallen. Mehrere Nächte lang versucht sie ihn mit dem Kreuz zu vertreiben. Es hilft nicht, und als sie schließlich zu einem anderen Mittel greift und ihm den Davidstern entgegenhält, gelingt es ihr, den Vampir augenblicklich in die Flucht zu schlagen. Die Sprechblase dazu lautet: „Ah, ein jüdischer Vampir!“ Was das alles bedeuten soll? Die „Schottenberockte“ vielleicht gar … Unmöglich! Die „Schottenberockte“ … Ich würde lieber noch einmal nachdenken.