Norbert Gstrein: Als ich jung war

Aus dem neuen Roman.

Online seit: 15. Juli 2019
Norbert Gstrein. Foto: Gustav Eckart
Norbert Gstrein. Foto: Gustav Eckart

Nach dem Unglück, das dort vor dreizehn Jahren passiert ist, hätte ich nie gedacht, dass im Schlossrestaurant jemals wieder Hochzeitsfeiern stattfinden würden, und schon gar nicht, dass ausgerechnet mein Bruder sie von neuem anbieten könnte. Bis dahin und noch ein Jahr darüber hinaus, weil so lange der Vertrag lief, war unser Vater der Pächter gewesen. Danach hatte sich über Monate kein Nachfolger gefunden, und dann fand sich einer, der auf eine ganz andere Klientel aus war, eine Pizzeria eröffnete, im Keller eine Kegelbahn einrichtete, zwei Zielscheiben für Darts aufhängte und darauf setzte, dass die Geschichte mit der toten Braut entweder in Vergessenheit geraten oder im Gegenteil sogar eine makabere Attraktion werden würde. Man hatte meinem Bruder gegenüber mehreren Mitbewerbern den Vorzug gegeben, als die Pacht im vergangenen Jahr erneut ausgeschrieben worden war, und er hatte das Restaurant in kürzester Zeit zu seinem früheren Ruf geführt, ja, sich sogar weit über die Region hinaus Anerkennung erkocht, wie es hieß, und wollte deswegen in Zukunft auch wieder an die alte Tradition mit der Heiraterei anschließen.

Es war ein zweifelhaftes Erlebnis, zuzuschauen, wie sich eine Schauspielerin aus dem Landestheater auf dem Boden wand und räkelte, als hätte sie den Verstand verloren.

In meiner Kindheit hatten wir gewöhnlich zwei oder drei Wochen nach Ostern, wenn die Wintersaison vorbei war, unser Hotel in den Bergen verlassen und das Restaurant bezogen, und dann begann es auch schon mit den Hochzeiten, Wochenende für Wochenende, oft zwei, eine am Freitag, eine am Samstag, bis in den September hinein oder gar bis Anfang Oktober. Das Hotel blieb im Sommer geschlossen, unser Vater fuhr alle paar Tage hin, um nach dem Rechten zu sehen, und erst nach Allerheiligen, wenn es oft schon wieder schneite, packten wir unsere Sachen zusammen, verriegelten alles und kehrten nach hause zurück. Ich war damit aufgewachsen, im Winter das Hotel und die Skischule, im Sommer die Hochzeitsfabrik, wie zuerst unser Vater sie ironisch nannte, wie sie dann aber von allen ernsthaft tituliert wurde, ohne dass dadurch die Anziehungskraft litt. Man heiratete im Schloss, auch wenn es in Wirklichkeit keines war und nur so hieß, man heiratete bei unserem Vater, der diese Position irgendwann ein für alle Mal besetzt hatte. Kaum jemand aus den umliegenden Dörfern schlug sein Angebot aus, aber die Leute kamen auch aus der Stadt, entschieden sich für eine der drei Möglichkeiten, Standard, Medium oder Extraklasse, und ließen sich von unserem Vater beraten, der für alles garantierte, nur nicht für das Glück. Er warb leicht anzüglich damit, dass er den Brautpaaren an ihrem Freudentag abnehmen würde, was er ihnen abnehmen könne, damit sie für das, was er ihnen nicht abnehmen konnte, Kopf und Hände frei hätten. Dazu versprach er ihnen sogar schönes Wetter oder bei Schlechtwetter einen satten Rabatt, und sie wählten ein oder zwei kleine Extravaganzen, die Fahrt in der offenen Kutsche die Serpentinen zu dem kleinen Plateau herauf, von dem sich der sogenannte Schlossberg mit der Burgruine aus dem vierzehnten Jahrhundert erhebt, das Engelsspalier mit dem geflügelten Kinderchor oder den Schleiertanz. Den hatte unser Vater allerdings erst in den allerletzten Jahren angeboten, und es war ein zweifelhaftes Erlebnis, zuzuschauen, wie sich eine Schauspielerin aus dem Landestheater auf dem Boden  wand und räkelte, als hätte sie den Verstand verloren.

Ich war fünfzehn, Internatsschüler, und hatte noch kein Mädchen geküsst, als ich bei den Feiern zu fotografieren begann.

Ich war fünfzehn, Internatsschüler, und hatte noch kein Mädchen geküsst, als ich bei den Feiern zu fotografieren begann. Zwei Jahre davor hatte mir unser Vater zum Geburtstag eine Kamera geschenkt, und weil er auf alles mit dem Blick des Geschäftsmannes sah und gleichzeitig keinen falschen Respekt vor den falschen Künsten hatte, wie er sagte, wunderte ich mich nicht, dass er irgendwann mit dem Vorschlag kam, wir könnten das Fotografieren inklusive anbieten, das bisschen Knipserei würde ich schon zustande bringen. Zuerst wehrte ich mich, wie ich mich gewehrt hatte, im Hotel beim Servieren zu helfen oder den Skischülern die ersten Schwünge im Schnee vorzuführen, aber wie auch sonst immer entkam ich unserem Vater nicht. Er setzte seinen Willen durch, und ich hatte neben meinen Tätigkeiten als aushilfsweiser Skilehrer und gelegentlicher Kellner zusätzlich die als Hochzeitsfotograf, für die er mich mit einem dunkelblauen Anzug und einer dezent weiß gepunkteten, dunkelblauen Krawatte verkleidete. Damit hätte ich mich auch bei einem Begräbnis nicht schlecht gemacht, und wenn man mich so ausstaffiert sah, konnte man leicht vergessen, dass ich in Wirklichkeit noch zur Schule ging und in den Unterrichtsstunden am Samstag mit dem Schlaf kämpfte, sooft ich am Freitag engagiert gewesen war und unser Vater mich nicht wieder krank melden konnte, weil er es bereits an so vielen Wochenenden davor getan hatte.

Ich besaß eine Leica, alles, was ich über das Fotografieren wusste, hatte ich mir selber beigebracht, und mein Glück am Anfang war, dass die Paare, die ich vor die Kamera bekam, kaum weniger verlegen waren als ich oder vielleicht auch nur abgelenkt und deshalb gar nicht merkten, dass sie es mit einem zitternden Amateur zu tun hatten. Die ersten Aufnahmen machte ich bei ihrer Ankunft, wenn sie aus dem Auto oder aus der Kutsche stiegen und sich umsahen auf dem Vorplatz, hinauf zur Burgruine blickten und hinunter ins Tal, aus dem sie gekommen waren, und ich einen Eindruck von ihnen zu gewinnen versuchte, in meinem Kopf auf ihr Glück oder ihr Unglück setzte. Auf den letzten Bildern, gewöhnlich lange nach Mitternacht, hatten sich meine Ahnungen in der Regel verfestigt oder waren widerlegt worden. Fast alle heirateten auch kirchlich, und die Zeremonie fand in der Kapelle der Barmherzigen Schwestern statt, die nur ein paar Schritte von unserem Restaurant ihr Mutterhaus hatten. Aus dem kleinen, wie ein Kinderspielzeug in der Landschaft stehenden Kirchlein mit dem Schwesternfriedhof rundum, der mit seinen Reih in Reih ausgerichteten Gräbern nicht zufällig einem Soldatenfriedhof glich, traten sie wie geblendet ins Freie. Mein Standardbild in diesem Augenblick ging haarscharf an den Holzkreuzen vorbei, manchmal so knapp, dass ich nachträglich noch Reste wegschneiden musste, und zeigte sie überrascht und mit nackten Gesichtern in ihrer himmlischen Freude. Dann fotografierte ich sie auf der Wiese daneben, und ich musste ihnen nicht sagen, dass sie sich ins Gras setzen könnten, ich fotografierte sie vor dem Brunnen, der zum Kloster gehörte, und sie spritzten sich ohne ein Wort von mir nass, ich fotografierte sie am Waldrand, und am Ende waren die Motive schnell durchdekliniert. Ob sie einander tief in die Augen blickten oder in die Ferne, ob sie sich küssten oder nicht, ob die Braut ein Bein entblößte oder sich mit einer Hand ins Haar fuhr, ob der Bräutigam sie am Arm fasste, ihren Rücken durchbog wie bei einer Tänzerin oder sie gar hochhob, sie verhielten sich brav wie nach einem unveränderlichen Drehbuch und waren schließlich kaum mehr voneinander unterscheidbar.

Obwohl ich allen vorschlug, zur Ruine hinaufzusteigen und in ihrem Gemäuer Bilder zu machen, gingen die wenigsten darauf ein, weil der Aufstieg zu mühsam war und sie nicht das richtige Schuhwerk dafür hatten und unbewusst wohl auch die düstere Atmosphäre fürchteten. Zuerst nur für die Extraklasse, bald aber schon für alle, hatte unser Vater im ersten Stock über dem Restaurant ein Zimmer eingerichtet, in das sie sich zum Entspannen zurückziehen konnten, wenn sie mit mir im Gelände gewesen waren, und es hatte sich eingebürgert, dass ich sie noch einmal fotografierte, sobald sie wieder daraus hervorkamen. Dann versuchte ich an ihren Mienen abzulesen, was ihr Lächeln bedeutete, oder fragte mich, warum sie mir, einem Fünfzehn-, später Sechzehn-, Siebzehnjährigen, so deutlich zu verstehen gaben, was alles sie in der vergangenen halben Stunde hinter der verschlossenen Tür miteinander getan haben könnten.

Sie mussten dazu an den Abgrund herantreten, immer noch weit genug weg, dass es gefahrlos war, aber doch so nah, dass ihnen die mögliche Gefahr nicht entging.

Es gab eine Stelle, zu der ich sie danach immer führte. Man ging vom Restaurant nur einen schmalen Weg durch den Wald, und dort tat sich noch einmal eine kleine Lichtung auf. Ich stellte sie alle auf den genau gleichen Platz und fotografierte leicht erhöht von einem Baumstumpf, weil dadurch im Hintergrund des Bildes gut sichtbar die Achterschleife erkennbar war, die Fluss und Autobahn weit unten im Tal bildeten und die mein Markenzeichen wurde, ein Blick in die Unendlichkeit. Sie mussten dazu an den Abgrund herantreten, immer noch weit genug weg, dass es gefahrlos war, aber doch so nah, dass ihnen die mögliche Gefahr nicht entging. Dabei verließen sie gleichzeitig die Stille, die im Schatten des Schlossbergs herrschte, und wurden mit einem Schlag vom Lärm der in langen Kolonnen nord- und südwärts ziehenden Sattelzüge erfasst. In diesem Moment konnte ich ganze Romane an ihren Augen ablesen, und fast alle äußerten auch etwas, und wenn es nur die Frage an mich war, ob ich sie am schönsten Tag ihres Lebens umbringen wolle.

Als ich jung war, glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben abhanden gekommen sein. Natürlich war es eine Anmaßung, aber als ich zum ersten Mal von einer Braut dachte, sie müsste eigentlich davonlaufen, wenn sie nur einen Augenblick überlegen würde, war ein Damm gebrochen, und ich konnte bei den vielen folgenden Hochzeiten den Gedanken kaum je wieder verscheuchen. Mit einem Mann an ihrer Seite, und es brauchte gar kein schlimmer Zeitgenosse zu sein, sahen die Frauen gleich viel sterblicher aus, und dabei hätten sie alle noch ein paar Jahre haben können, in denen sie nicht so offensichtlich in den Lauf der Zeit verstrickt gewesen wären, wie sie es mit ihren blind oder sehenden Auges eingegangenen Ehen von einem Tag auf den anderen waren.

Gewöhnlich war es auch die Braut, die mit einem schaudernden Blick in die Tiefe zu ihrem Mann sagte: „Du könntest mich immer noch loswerden“, was einiges über die Macht- und Unterwerfungsverhältnisse, die Unterdrückungs- und Überlebensstrategien dieses Paares preisgab, kaum je der Bräutigam, der die Frau aber wie auf Kommando umarmte, als hätte er gerade dasselbe gedacht oder als wäre er zu einfältig für einen solchen Gedanken. Ich beeilte mich dann, möglichst unbeeindruckt meine Bilder zu machen. Später konnte ich auf den Abzügen in den Gesichtern noch einmal alles sehen, Schmerz und Versöhnung, als hätten sie Streit gehabt, Anspannung und Erleichterung, Bedenken und ihr Zerstreutwerden, panische Schicksalsgläubigkeit und ein hilfloses Aufbäumen dagegen. Das Minimalziel verfehlte ich fast nie, sie wollten alle auf den Fotos besser dastehen als in Wirklichkeit, aber dazu brauchte es nicht viel, dazu brauchte ich nur die billigsten Tricks anzuwenden, oder ich fotografierte einfach an ihren Unvollkommenheiten und Menschlichkeiten vorbei.

Die tote Braut wäre mir auch ohne ihr schreckliches Ende allein deshalb in Erinnerung geblieben, weil sie an der Stelle auch etwas sagte, aber etwas ganz anderes als die anderen. Zu der Zeit hatte ich schon lange bei keiner Hochzeit mehr fotografiert und war in diesem Herbst nur für zwei Anlässe wieder eingesprungen, weil der Berufsfotograf, der meine Arbeit übernommen hatte, krank geworden war und sich auf die Schnelle kein Ersatz hatte finden lassen. Ich hatte am Tag meiner Matura zu unserem Vater gesagt, dass er in Zukunft auf meine Dienste verzichten müsse, ich hätte für mein Leben genug Hochzeiten gesehen, und seinem Drängen all die Jahre standgehalten, war aber dann doch weich geworden. Da hatte ich mein Medizinstudium längst abgebrochen gehabt und lustlos mit Germanistik und Anglistik angefangen, weshalb mir die Ablenkung gar nicht ungelegen kam. Es sollte sich auf ein einziges Mal beschränken, aber weil dieses eine Mal wider Erwarten so schön gewesen war und weil ich ganz anders als sonst auch ein richtiges Honorar erhalten hatte, war wenige Wochen später ein zweites Mal dazugekommen, und so war ich der Fotograf bei der Hochzeit der toten Braut geworden.

Selbstverständlich war sie noch am Leben gewesen, als wir auf die Lichtung gingen, um dort meine Unendlichkeitsbilder zu machen, aber sie hatte da nur mehr sechzehn Stunden, vielleicht eine Stunde mehr, vielleicht eine weniger, je nachdem, wie man die späteren Zeugenaussagen und die Befunde des obduzierenden Arztes gewichtete. Sie hatte davor schon mit ihrem Mann gestritten und mich in ihren Streit zu verwickeln versucht, als bereitete es ihr das größte Vergnügen, ihn bloßzustellen, ja, ihn zu demütigen. Ich hatte zum vereinbarten Zeitpunkt vor dem Entspannungszimmer gewartet und von drinnen deutlich ihre Stimmen gehört, und als sie plötzlich herausstürmte, ihr weißes, paillettenbesetztes Kleid mit beiden Händen an den Knien gerafft und die hohen Stöckelschuhe wild in die Luft stoßend, schnappte sie bissig zu ihm zurück: „Wir können es auch überhaupt seinlassen, wenn du willst. Deine Mutter, deine Mutter, deine Mutter. Wenn du sie noch einmal erwähnst …“ Genau in dieser Sekunde fiel ihr Blick auf mich, und sie unterbrach sich. Sie hatte dunkle, fast schwarze Augen und ein Muttermal auf der Oberlippe, das mir wie ein drittes Auge vorkam. Ihr Gesicht war gerötet, die Frisur, ein kompliziertes Gesteck und Gehänge, durcheinandergebracht, und sie lachte, als verwandelte meine Anwesenheit für sie von einem Augenblick auf den anderen alles in eine Komödie.

„Wie oft haben Sie das schon gemacht?“ fragte sie mich, während sie sich wieder zu ihrem Mann umdrehte, der ihr zaghaft folgte, mit hilflosen Handbewegungen die Luft zerteilte und mich an einen Dirigenten denken ließ, dem sie die falschen Noten hingelegt hatten. „Ihr verheiratet hier doch alles und jeden.“

Sie hob ihre Stimme, damit ihm ja nichts entging und damit ihm nur nicht entging, dass auch mir nichts entgehen konnte.

„Wie oft ist es vorgekommen, dass eine Frau es sich in letzter Sekunde anders überlegt hat?“

„Nie“, sagte ich. „Kein einziges Mal.“

„Wie oft haben Sie einen Mann gesehen, der seiner Braut an ihrem Hochzeitstag gestanden hat, dass er eigentlich mit seiner Mutter verheiratet ist?“

Sie wollte diese Szene, sie wollte sie so sehr, dass ihr jeder als Publikum recht gewesen wäre, und sie wollte sie um so mehr, je mehr sie ihren Mann damit in Verlegenheit bringen konnte. Ich wusste nicht, was hinter der verschlossenen Tür zwischen ihnen vorgefallen war, aber es musste etwas gewesen sein, durch das sie sich ihm gegenüber zu diesem absurden Verhalten berechtigt fühlte. Als er ihr nachkam und versuchte, sie an der Hand zu fassen, stieß sie ihn zurück. Er war ein feingliedriger Mann mit ausgeprägter Stirnglatze und einem von seiner Weste kaum gebändigten Bäuchlein in seinen späten Vierzigern und damit fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre älter als sie, und er wusste keine andere Methode, sich gegen ihre Grobheiten zu wehren, als ihren Blick zu suchen, sie flehend anzusehen und zu bitten, keinen Skandal zu provozieren.

„Aber Iris!“ sagte er ein ums andere Mal mit resignierter, fast lautloser Stimme. „Du hast mir versprochen, dass du dich zusammenreißt.“

Ich schlug vor, die geplanten Bilder später aufzunehmen oder den Termin an meiner Lieblingsstelle ganz ausfallen zu lassen, aber sie bestand darauf, weiter nach Protokoll zu verfahren, wie sie sich ausdrückte, man dürfe nicht davon abweichen, wenn man nicht von Anfang an alles in den Sand setzen wolle.

„Gehen Sie nur voraus“, sagte sie. „Ich folge Ihnen. Mein Mann muss selber die Entscheidung treffen, ob er sich uns anschließen oder sich lieber bei seiner Mutter ausweinen will. Lassen wir uns überraschen.“

Sie sagte das wirklich, während sie irgendwo aus den Falten ihres Kleides ein Päckchen Zigaretten hervornestelte und sich an mich wandte.

„Möchten Sie eine?“

Dabei deutete sie auf ihren Mann.

„Er mag nicht, wenn ich rauche.“

Ich reagierte nicht, und sie hatte sich ihre Zigarette noch gar nicht richtig zwischen die Lippen gesteckt, als ihr Mann auch schon ein Feuerzeug in der Hand hielt, der Reflex eines Kavaliers der alten Schule, der gar nicht anders konnte, als ihr zu Diensten zu stehen.

„Muss das sein, Iris?“

Sie fummelte wieder in ihrem Kleid herum, und im nächsten Augenblick hob sie triumphierend einen kleinen Flachmann in die Höhe und bot mir einen Schluck an.

„Ich habe ihm versprochen, dass ich seiner Mutter nicht den Tag verderbe“, sagte sie über die Einwände ihres Mannes hinweg, als ich ablehnte, und nippte mit geschlossenen Augen an dem Fläschchen. „Selbstverständlich werde ich ein braves Mädchen sein.“

„Wenn ich dich hier hinunterstoßen würde, würde mich unser Fotograf bestimmt nicht verraten.“

Wir hatten uns indessen in Bewegung gesetzt, und als wir die kleine Lichtung erreichten, trat sie ohne zu zögern ganz vor an den Rand. Es hatte erst vor ein paar Stunden geregnet, die Luft war rein, es roch nach Feuchtigkeit und Moos, und der Lärm, der plötzlich von der Autobahn heraufdrang, schien noch stärker als an anderen Tagen, ein anhaltendes Tosen, in dem man sich halb schreiend verständigen musste. Wind war aufgekommen, der sich zuerst nur in ihrem Haar verfing und gleich darauf in ihr Kleid fuhr und den schweren Stoff ein paarmal hob und wieder fallen ließ, zwei, drei matte Schläge auf den immer noch nassen Waldboden. Sie schaute in den Abgrund und dann zu ihrem Mann und mir zurück, und ihr Gesicht hatte einen angestrengten Ausdruck angenommen, als würde sie eine schwierige Rechnung anstellen und zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangen.

„Sie sind mir einer“, sagte sie, als sie wahrnahm, dass ich sie beobachtete. „Hat Ihnen noch niemand unterstellt, dass mit Ihnen vielleicht etwas nicht in Ordnung ist?“

Dann trat sie zu ihrem Mann und ließ sich von ihm in die Arme nehmen, auf einmal auf übertriebene Weise fügsam, nur um ihn im nächsten Augenblick bereits wieder aufzuziehen.

„Wenn ich dich hier hinunterstoßen würde, würde mich unser Fotograf bestimmt nicht verraten. Ich könnte sagen, du bist zu weit vorgetreten und gestolpert, Schatz, und er würde meine Aussage decken. Dir ist es wahrscheinlich nicht aufgefallen, aber er hat sich ein bisschen in mich verliebt.“

Damit wandte sie sich wieder an mich, ihre Miene plötzlich schalkhaft, das Muttermal auf der Oberlippe mit jedem Zucken der Mundwinkel in Bewegung, die Augen weit offen in gespielter Erwartung.

„Das haben Sie doch, stimmt’s?

Um mich diesen Neckereien nicht länger aussetzen zu müssen, nahm ich nicht mehr als eine Handvoll Bilder auf, und zu meiner Verwunderung war den Abzügen später nicht das geringste von der Szene anzumerken. Hatte die Frau gerade noch angriffslustig und wütend gewirkt, war das wie weggewischt und machte einer Umgänglichkeit Platz, die mir in ihrem Gesicht in Wirklichkeit nie aufgefallen war. Sie blickte sanft in die Kamera, die vollen Wangen gaben ihr einen mädchenhaften Anstrich, und sie fasste nach der Hand ihres Mannes, der ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte, eine joviale, beinahe kumpelhafte Geste, die auch ihn sofort aufleben ließ. Er hatte nichts Zerknirschtes mehr an sich, nichts Zaghaftes, und ich konnte mir erst anhand der Bilder vorstellen, dass er überhaupt jemals für sie in Frage gekommen war. Sie waren zu dunkel geworden, weil ich nicht genug mitbedacht hatte, dass von neuem Wolken aufgezogen waren, nachdem es eine Weile aufgerissen hatte, aber seine Augen strahlten, als hätte sich alles Licht darin verfangen.

Auf dem Rückweg hatte sie ihren Arm um seine Schultern gelegt, und ich hörte hinter ihnen gehend deutlich, dass sie zu ihm sagte, wie glücklich sie sei, und das wollte dem ermittelnden Kommissar, der gleich am nächsten Vormittag auftauchte, nicht in den Kopf. Weil ich als Student kein eigenes Bett im Haus mehr beanspruchen konnte, hatte ich im Entspannungszimmer übernachtet und war ihm in die Arme gelaufen, als ich spät zum Frühstück hinunterging und er gerade ankam, weshalb ich ihm als erster Rede und Antwort stehen musste. Ich war insgesamt nicht mehr als eine knappe halbe Stunde mit dem Paar allein gewesen, gerade lange genug für den schrägen Auftritt der Frau, bis wir wieder zur Hochzeitsgesellschaft zurückkehrten, Braut und Bräutigam mit einem lauten Hallo empfangen wurden und ich in den Hintergrund treten und von dort weiter meiner Arbeit nachgehen konnte, aber der Kommissar war überzeugt, dass sich vor meinen Augen Entscheidendes abgespielt hatte und dass er nur den Schlüssel dazu finden musste. Er ging mit mir Minute um Minute durch, am liebsten hätte er gehabt, wenn ich ihm über jede Sekunde Rechenschaft abgelegt hätte, und er hatte recht, wenn er feststellte, es folge keiner Logik, wie die Frau den Mann zuerst vorgeführt und wie sie sich dann buchstäblich wie ein schnurrendes Kätzchen verhalten habe, obwohl dazwischen kaum Zeit vergangen sei.

Ich verschwieg ihm anfangs, dass sie gesagt hatte, ich hätte mich in sie verliebt, weil es mir zu aberwitzig vorkam, und als ich es schließlich doch vorbrachte, nachdem er ein ums andere Mal nachgehakt hatte, ob ich mich nicht an noch etwas erinnerte, ob ich nicht Dinge vergessen hätte, die mir vielleicht unwichtig erschienen, aber womöglich von größter Wichtigkeit seien, musterte er mich und wollte wissen, ob ich den Eindruck gehabt hätte, sie sei betrunken gewesen, unter Drogen oder einfach nur verrückt. In dem Augenblick sah ich ihn selbst zum ersten Mal richtig an, und er erwiderte meinen Blick. Er war ein korpulenter Mann, noch nicht alt, aber mit müden Augen, einer Stirnfransen-Frisur und einem Mund, den er immer wieder zu einem Strich zusammenpresste, damit er ihm nicht in alle Richtungen entglitt, einem enttäuschten Mund, wie ich dachte, dem Mund einer zu lange auf ihr Glück wartenden Frau.

„Sie hat tatsächlich gesagt, Sie könnten sich in sie verliebt haben?“ sagte er. „Und sie hat Sie davor noch nie gesehen? Die beiden waren doch keinen Tag verheiratet? Wie soll das gehen?“

© Hanser, München 2019

 

Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt in Hamburg. Am 22. Juli erscheint bei Hanser sein neuer Roman Als ich jung war.

 

Norbert Gstrein: Als ich jung war
Roman. Hanser, München 2019.
352 Seiten, € 23 (D) / € 23,70 (A).