Ein Rausch(en)

Mirjam Wittig verhandelt in ihrem Debütroman An der Grasnarbe spielerisch die großen Herausforderungen der Gegenwart am Fuß der französischen Alpen. Von Thomas Hummitzsch

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

In den Tagen nach den Anschlägen auf das Pariser Bataclan-Theater umgab mich ein unerklärbares Gefühl der Angst. Wo auch immer ich mich bewegte, beschlich mich ein seltsames Misstrauen. Einmal fiel mein Blick in der U-Bahn auf einen jungen Mann, der aus Südeuropa, aber auch aus dem Nahen oder Mittleren Osten hätte kommen können. Er hielt sich an seinem Rucksack fest und blickte nervös um sich. Sollte dieser junge Mann einer der Schläfer sein, von denen im Radio ständig die Rede war? Als die Bahn hielt, stieg er unvermittelt aus und mit ihm verschwand mein ebenso peinliches wie peinvolles Unbehagen.

Angst ist ein irrationales Gefühl, man bekommt sie schwer in den Griff. Ich brauche sachliche Einordnung und Distanz, um mit ihr aufzuräumen. Unmittelbar ausgesetzt bin ich ihr unterlegen. Deshalb sprach mich ein Satz aus Miriam Wittigs Debütroman An der Grasnarbe an, in dem ich mich wiedererkannte. „Kennst du das, wenn du im Reflex etwas denkst, das du selbst schrecklich findest?“, fragt da Noa, ihre gleichaltrige Ich-Erzählerin, in den offenen Raum.

Hintergrund sind die islamistischen Anschläge in Paris, die sie tief erschüttert haben. Seither fürchtet sie den Tod und jene, die ihn bringen. Das Bild jener basiert auf Vorurteilen, ist „ein dummes Klischee“. Doch die unbestimmte Angst ist stärker als jede Vernunft, auch wenn sie sie lähmt und beschämt. Jemanden wegen seines Aussehens zu verdächtigen, „war nicht okay, nicht möglich, war Mich-an-jemandem-Vergehen.“

Die junge Restauratorin beschließt, eine Auszeit vom nervenaufreibenden Chaos der Welt zu nehmen. Sie mietet sich bei Gregor und Elsa ein, die abseits des zivilisatorischen Lärms einen Selbstversorgerhof betreiben. Inmitten der überwältigenden Landschaft der französischen Alpen sucht sie in der ohrenbetäubenden Stille der Natur ihr Seelenheil. Noa ist keine Flaneuse, die wandernd ihre Mitte findet. Sie wird, wie andere vor ihr, auf dem Hof mit anpacken. Beim Schafe Hüten, Ernte Einfahren und Marmeladeeinkochen löst sich ihre Erstarrung: „Die Arbeit bleibt in Bewegung, und ich muss mich mitbewegen. Das ist schön.“

Und dann ist da noch Jade, die ebenso fordernde wie altkluge Tochter von Noas Gastgeber:innen, die vom ständigen Kommen und Gehen selbstverlorener Helfer:innen wenig begeistert ist. Weil Noa länger bleibt als alle vor ihr und sie ernsthaft Interesse zeigt, entwickelt sich zwischen den beiden ein vertrautes, fast geschwisterliches Verhältnis. Als Noas Freundin Merle auftaucht und ihre Rückkehr näher rückt, geraten die Dinge in Bewegung.

Landschaft und Beziehung(en) stehen in Wittigs vor Sommerhitze flirrenden Roman in einem Spannungsverhältnis. Gibt eine Seite Ruhe, lärmt die andere und umgekehrt. Dass man beidem nachspüren will, liegt an den faszinierend genauen Beobachtungen der Ich-Erzählerin. Ihren detaillierten Naturkunden wohnt auch immer ein Moment der Unruhe und Nervosität inne. Dabei sind es nicht die zurückkehrenden Wölfe, die hier angsteinflößend ihre Zähne zeigen, sondern die Folgen des menschgemachten Klimawandels. Noa beobachtet, wie die wenigen Regengüsse die ausgetrocknete Landschaft mit allem Leben davontragen. „Kleine Bäche überall, keine Kante, kein Blatt, kein Vorsprung, von dem es nicht stürzte und fiel, keine Fläche, auf die es nicht klatschte. Kein Tier war zu sehen.“

Die Angst vor dem Fremden trifft hier auf den Klimawandel, die widerspenstige Landschaft auf den empfindlichen Körper, die Utopie der unangetasteten Natur auf die Dystopie des alles verändernden Kapitalismus. Es sind große Themen, die die 26-jährige Autorin am Fuß der französischen Alpen verhandelt.

Wittigs bereits vor Erscheinen ausgezeichnetes Debüt ist eine Suchbewegung, auch sprachlich. Mal atemlos und sperrig, dann wieder leichtfüßig und poetisch tastet sich ihre Erzählerin über die äußeren Landschaften an ihre und unsere inneren heran. Oder ist es umgekehrt? Wie auch immer, hier verwandelt sich die Erosion der Böden in menschliche Erschütterung und es drängt sich die Frage auf, ob sich der Mensch die Natur wirklich untertan machen kann oder ihr am Ende nicht genauso ausgeliefert ist wie Noa ihrer Angst. Dann erklärt sich auch das vorangestellte Zitat aus Vergils Hirtengedichten. Dort heißt es mit Bezug auf Apoll, den griechischen Gott der Reinigung und Mäßigung, dass noch verbliebene Spuren unseres (menschlichen) Frevels „ihre Wirkung verlieren und so die Lande von ständiger Furcht befreien.“

An der Grasnarbe ist ein einziger Rausch auf der Suche nach einer Existenz ohne Rauschen. Wittigs Roman lässt uns unmittelbar erfahren, was es bedeutet, auf und in dieser von uns selbst gefährdeten Welt zu sein. Und wie man wieder das Vertrauen fassen kann, sich als Teil des Ganzen in ihr aufzulösen.

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