Staub

Von Michaela Mandel.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXI

Online seit: 9. Juli 2021
Michaela Mandel © Palmfiction
Michaela Mandel. Foto: Palmfiction

Bei unserem ersten Jagdversuch hat BigJ in der Morgendämmerung tatsächlich einen Schakal angeschossen. Bis heute behauptet er steif und fest, auf einen Springbock gezielt zu haben. Selma konnte es nicht fassen. Verständlich, ist sie doch tief in ihre Wurzeln verstrickt und in der Kultur der Hereros kommt das Töten eines Schakals einer Todsünde gleich. „Großes Unglück bringt es“, hauchte Selma, und das war in unserer Situation nun gar nicht zu gebrauchen. „Auch Tjamuaha würde das so sehen“, bekräftigte Selma ihre Ansicht. Tjamuaha, der immer noch als Held verehrte Chief, Häuptling oder auch Hüter des Ahnenfeuers.
Auch wenn Tjamuaha bereits seit hundertsechzig Jahren tot ist, seine Meinung gilt noch immer. Und so zwingt uns Selma, die der Finnisch Lutherischen Kirche angehört, das drohende Unglück abzuwehren. Mit einem lautstark gesungenen Gebet. Amen!

Trotz unserer dilettantisch gefertigten Pfeile haben wir es uns verboten, die Rigby für die Jagd zu verwenden. Die Gefahr ist einfach zu groß. Die Schüsse sind zu laut. Selbst in der fast menschenleeren Namib darf sich unsere Anwesenheit durch nichts verraten. Jeder Schuss würde die Farmer und Rancher aus ihren Behausungen locken und in ihre Jeeps treiben. Würde sie von ihren Feuerstellen aufscheuchen, von ihren Grillschalen oder Kaminfeuern und natürlich auch von ihren gut gekühlten Drinks.

Die Jagden sind wegen der Hitze ausgesetzt. Die Oryxe sterben auch so wie die Fliegen. Täglich findet man ihre Kadaver vor ausgetrockneten Wasserstellen oder in den endlosen Zäunen unüberschaubaren Farmlands hängen. Dunkle Fellfetzen im staubigen Wind. Wie eine perfekte Klimaschutz-Inszenierung.

Umso erstaunlicher, dass es BigJ mit den uns auferlegten Waffenhandicaps gelungen ist, beinahe zwei Oryxe zu überwältigen. Beziehungsweise, einen davon in die Flucht zu schlagen und den anderen zu überwältigen. Ein großes Wort – überwältigen. Vielleicht wäre überraschen hier treffender.
Denn die Langhorn-Antilope, die zufällig den Felsblock querte, hinter dem wir vor einigen Nächten auf Lauer lagen, war durch unser plötzliches Auftauchen genauso perplex wie wir.
In diese Lücke der gegenseitigen Verblüffung schoss BigJ den Pfeil voreilig aus dem zum Zerreißen gespannten Bogen direkt in den Felsen vor uns, das Geschoß prallte nach oben ab, schlingerte in einer Affengeschwindigkeit über den Stein und traf das flüchtende Tier in den Hinterlauf. Ein ballistisches Meisterwerk.
Leider ist uns die Antilope, wie der Schakal zuvor, verwundet entkommen. Dumme Sache.
Wir erzählten Selma nichts davon.
Ich hatte keine Lust auf ein weiteres Gebet, war ich doch ohne Gott aufgewachsen. Born and rased in Austria, in a family of Hippies. Doch das war nur die halbe Wahrheit.
Armanda, die Tochter des Jägers, würde nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, könnte sie mich hier mit unseren selbstgebastelten Jagdwaffen sehen.
Weit entfernt vom heimischen Forst. In einer Wüste, die nichts, aber auch gar nichts, mit einem europäischen Fichten- oder Föhrenwald gemein hat. Kein Waidwerk in beschaulicher Natur, keine Kameradschaft in grüngrauem Filz. Keine Jagdvorschriften. Auch keine Genehmigung zum Befahren einer Forststraße. Kein Hochstand oder spurlauter Stöberhund. Nicht einmal eine funktionierende Schusswaffe hatten wir.

Erst der zweite Bock konnte schließlich überwältigt werden. Wieder wurde das Tier zunächst von einem Schuss aus nächster Nähe überrascht. Gerade, als der Oryx strauchelte, warf sich BigJ trotz seiner langen Dürrheit und sicher unter Lebensgefahr wie ein Torrero quer über den Rumpf und klammerte sich von hinten an die langen spitzen Hörner. Das Tier knickte unter der Last BigJs kurz ein. Anne, Silke und ich nutzten diesen Anfall von Schwäche und sprangen todesmutig auf den Langhornbock, brachten ihn endlich zu Fall. Silke stach zu, einmal, zweimal, gefühlte tausend Male in den massigen Leib, während BigJ versuchte, den Kopf des Tieres mit den Hörnern fest in den Boden zu drücken.
Waidgerecht war das sicher nicht.

Die Hufe des Oryx verschnürten Anne und ich unter Tränen der Anstrengung mit einem Stück Draht, den Anne um ihre Hüften gewickelt trug, um ihre Hose nicht zu verlieren. Schließlich hatten wir alle immens an Gewicht verloren. Gewicht und Widerstandskraft.
Während des erbärmlich langen und grausamen Todeskampfes wurde mir klar, dass die Transformation nun endgültig vollzogen war. Tiefer konnten wir nicht mehr sinken. Hier, auf dem nach Angst stinkenden Rücken eines mit unlauteren Mitteln erlegten Tieres, flickerten die Ereignisse der letzten Monate vor meinen zuckenden Augen. Was war da nur schiefgelaufen? Wo lag der Fehler? Wann hätten wir abbrechen müssen, um unsere Haut vielleicht noch retten zu können?

Nass von Blut und Schweiß traten wir unseren Heimweg an. Ein Grüppchen bleicher und zitternder Europäer mit einer großen politischen Idee im Kopf, deren Ausführung als kläglich gescheitert anzusehen war, versuchte nun ein zweihundertfünfzig Kilogramm schweres Vieh über Sand in Richtung einer Höhle zu schleifen. Wenn dieses Bild nicht alles ausdrückte, was in der gängigen Erzählung europäischer Kulturgeschichte als längst überwunden galt.
In zerrissenen Gewändern und von unzähligen Schrammen übersät, hatten wir uns endgültig unseres kulturellen Erbes entledigt. Unter Ächzen und Stöhnen schleppten wir unsere Beute in Richtung Höhle und legten sie vor Selmas Füße. Fast ein wenig stolz.

Was hätte Armanda wohl über die Tötung des Oryx gedacht?
Verlacht haben würde sie uns und damit unsere stümperhaften Jagdversuche. Abgewunken hätte sie das Ganze, kurz und knapp.
Als vielgeliebte Vatertochter war sie schließlich unzählige Male durch das Unterholz gepirscht. Hatte im Rücken des Jägers jeden Tötungsvorgang hautnah mitverfolgt. Hatte die Flinte gehalten, die Munition gewechselt, ganz so, wie der Vater es ihr aufgetragen hatte.
Sie würde den Tod des Oryx mit Sicherheit als misslungene Aktion beurteilen. Als Hippie-Pippi-Schwachsinn.

Ein Schwachsinn, der mit der Struktur der Jägertochter einfach unvereinbar war. Gerne teilte sie mit uns Kindern ihre glühende Begeisterung für die Jagdausflüge, die sie als junges Mädchen unternommen hatte. Die Tage, die wir unserem unsortierten Haushalt entrissen unter ihren Argusaugen verbrachten, waren häufig von Wildschützen und seltsamen Waldesriten besetzt. Grün, grün, grün ist meine Lieblingsfarbe …

Das Spannende an Armandas Schilderungen war für mich damals aber mehr die Art, wie sie das erzählte, als das Jagen selbst. Denn ihre Erlebnisse im Unterholz waren meist mehr nachgezeichnet als artikuliert. Das durch eine Rötelerkrankung beschädigte Gehör glich Armanda vielversprechend durch verschwörerische Blicke und zackiges Händewedeln aus.
Obwohl sie sich bemühte, ihre Sprache klar und laut zu halten, begriff ich das Gemeinte eher durch ihre ausschweifenden Gesten. Ein dankbares Publikum war ich und immer wollte ich noch mehr erfahren, weil mich das groteske Spiel der Hände und der ungelenke Einsatz ihres Körpers so merkwürdig unterhielt.
Jeder Ansitz war in ihr leidenschaftlich abgespeichert. Armanda spielte nach, wie selbst stundenlang beengtes Warten einen abenteuerlichen Nervenkitzel verursachen konnte. Wie sie, neben dem Jägervater auf harten Brettern hingekauert, still sein musste. Wie mal er, dann wieder sie ins dunstige Laub starrte, in der Hoffnung einen präzisen Tellerschuss abfeuern zu können.
Und erst die Stöberjagd! Der Ausschlag ihrer gestischen Amplituden belustigte mich. Der Lärm des Treibens, die Rufe der Jäger, das Bellen der Hunde ließ sie die Hände nach oben reißen und wild umherflattern.

Das In-Bewegung-Sein, die Pirsch im breiten Rücken des Vaters, verursachte einen Reiz, der sich Armandas Körper bemächtigte. Sie konnte ihre eigenen Schritte ja kaum hören. Auch den Vater nicht, der immer als erster durch das verschlungene Strauchwerk brach. Sie konnte ihn nur sehen. Von hinten. Aber das machte nichts. Ein Fährtensucher war er in Armandas Augen. Ein Pfadfinder. Ein Pionier, der kam, sah und schoss.
Die Tochter immer hinterdrein. Immer darauf bedacht, dem Vater auf den Fersen zu bleiben. Atemlos und taub dem Jäger nachzujagen, um jede Handlung abzuspeichern. Um diesen Reiz zu nähren und der Erinnerung ein Bild davon zu geben. Denn Töne gab es kaum.

Armanda schwärmte flatternd, wenn sie uns das Ereignis nach jeder großen Jagd bebilderte. Wenn nach der aufregenden Hatz die erlegte Strecke schließlich dargeboten wurde. Auf der Lichtung ausgelegt. Stück für Stück. Von der Kameradschaft nach Größe und Art unterschieden und fachmännisch drapiert. Das tote Tier wie aufgefädelt, ungeschönt und roh den Blicken ausgesetzt.
Diese blutigen Bilder schlugen Wurzeln in Armanda.
Vom Jagdhorn beblasen und um grobe Reden ergänzt, dauerte diese Totenschau oft mehrere Stunden. Genug Zeit für ein junges Mädchen, sich ein solches Stillleben detailreich einzuprägen. Jede verdrehte Pfote, jedes verzerrte Maul, jedes Gerinnsel wurde von Armanda katalogisiert, um es jederzeit abrufen zu können.
Stets wurde die Beute mit ausreichend Wein gefeiert. Stolz die Korken in die Gegend geschleudert. Ganze Flaschen wurden so in die vom Waidgeschrei heiseren Kehlen geschüttet, während die Totsignale mit der Nacht über die versehrten Tierkörper hereinbrachen. Von in die Erde gerammten Fackeln beleuchtet, erinnerte der Anblick des leblosen und mit Fichtenzweigen geschmückten Wildes an eine offene Aufbahrung.
Von dieser Präsentation gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert, konnte sich Armanda nicht sattsehen an den felligen Kadavern, deren Blut langsam auf den Wunden verkrustete.
Inmitten der angestachelten Waidmänner stand sie so in ihrer eigenen stillen Welt, aufgewühlt von diesem schauerlichen Reiz.

Eine seltsame Ausstellung, erklärte der Bruder Armandas einmal zynisch und bezeichnete den Jägervater auch gleich darauf als Mörder. Kurz und knapp spritzte diese Zuschreibung in die Familie hinein. Tauchte in Folge auch immer mal wieder ärgerlich auf, das Wort „Mörder“! Bei verschiedenen Gelegenheiten und nicht nur aufgrund der Jagd.
Der Bruder fand diese Beifügung wohl angemessen. Doch nie aufgeregt oder dramatisch ausgesprochen. Das „Mörder“ kam zwar meistens unvermutet, platzte immer unangenehm hinein in eine Unterhaltung. Der Bruder war dabei aber für gewöhnlich gelassen und ruhig.

Sehr zum Missfallen Armandas, die ja beides liebte. Die Jagd und auch den Vater. Ohne Wenn und Aber. Da nahm sie ihr Vergnügen ernst. Grün, grün, grün …
Da konnte sich der Bruder kritisch äußern wie er wollte. Der Vater und die Jagd waren für sie unantastbare Umstände, die so bleiben sollten, wie sie waren.

Hätte Armanda also unsere verzweifelte Herumjägerei miterlebt, sie hätte es als billige Karikatur aufgefasst. Als Kritik an ihrer Leidenschaft für die Jagd. Der Schuss wäre also bestimmt nach hinten losgegangen.
Hätte sie mich so, auf dem Rücken des Oryx schweißgebadet liegen sehen, während Silke die Messerklinge mit einem lauten Schnauben wiederholt in dessen Seite rammte, sie hätte sofort das Jagdgewehr ihres Vaters aus dem Schrank geholt. Wäre mit diesem Gewehr im Anschlag und ohne Umschweife direkt in dieses Bild der Wüste hineinmarschiert. Wäre hierher in diese trostlose Hitze gekommen, nur um mir zu zeigen, wie man das Ganze richtig macht.
Der Umgang mit dem Tod musste ihrer Meinung nach erlernbar sein. Und mit dem Tod kannte sie sich schließlich aus.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte Armanda Selma kennengelernt. Oder die anderen aus der Truppe. Könnte Armanda jetzt hier sein, alles wäre irgendwie einfacher. Zumindest strukturierter.
Selma würde der weit älteren Armanda einiges über die Gesellschaftsordnung dieses Landes zu erzählen wissen. Vieles über die politischen Ansichten unterschiedlicher Ethnien, die sich nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch den Boden teilen.
Und Armanda hätte Selmas Erzählung in ihre Gedanken einschlichten können. Hätte die historischen Begrifflichkeiten einem Land zuordnen können, das sie nur flüchtig kannte. Vom Hörensagen. Oder besser, vom schlecht gehört Gesagten.
Für Geschichte hatte sich Armanda immer brennend interessiert. So hätte sie vielleicht nachgefragt. Und Selma hätte erzählt von diesem Land, das von Siedlern, Sippen und Stammesverbänden durchwachsen ist. Ein Land, das Freiheitskämpfer und Kolonialisten gleichermaßen beherbergt. Armanda hätte ihr aufgeschnapptes Wissen um Selmas Narrativ erweitern können und so vielleicht einen anderen Zugang eröffnet bekommen.
Wenn sie jetzt hier gewesen wäre.
Ist sie aber nicht.

Bestimmt wäre Armanda von Selmas Urgroßvater beeindruckt gewesen, der rund achttausend Kilometer von Salzburg entfernt und lange vor ihrer Geburt, in einer Schlacht sein Leben ließ. Der auf dem Waterberg bei Otjiwarongo gegen ein Unrecht kämpfte und darum über Selmas Familie hinaus ein Held geworden war. Ein toter Held, aber immerhin.
In Armandas Augen wäre das vielleicht sogar vergleichbar gewesen. Vergleichbar mit den Protagonisten der eigenen Familie, die meist viel von Schlachtengetümmel und strammen Märschen zu erzählen wussten. Das hätte vielleicht Gesprächsstoff ergeben und Selmas Geschichte mit jener Armandas verlinkt. Armanda hätte die Gefechtsmärchen ihres Ehemannes unter der Sonne Namibias wieder auftauen und mit den Scharmützeln des Vaters garnieren können. Allesamt Erzählungen, die sich zwar mehr in den Amtsstuben des Salzburger Gauheimstättenamtes zusammengebraut hatten, als tatsächlich auf einem Berg erkämpft worden waren. Ein Kriegsverdienstkreuz hatte der Vater trotz allem eingeheimst. Auch wenn er, wie Selmas Großvater, schon lange tot war, in Armandas Kopf war er immer noch ein Held.

Selmas Vorfahren, die durch den Völkermord ums Leben kamen, träfen durch die Anwesenheit Armandas auf die Chronik einer jetzt alten Frau. Die Ahnen Selmas wären auf diese Weise mit der Geschichte einer Nazifamilie verknüpft worden, der schließlich auch ich angehöre. Das ist die andere Hälfte der Wahrheit.

Aber Selma hätte sich vielleicht gar nicht für die Geschichte Armandas interessiert. Und Armanda? Sie hätte vielleicht gar nichts gesagt. Hätte in unserer Mitte an einem Stück halbgaren Oryxfleisch genagt und geschwiegen. Und ich hätte mich wegen dieses Schweigens geschämt. Kann sein.

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Michaela Mandel, geboren 1972 in Salzburg, lebt in Wien. Studium der Bildenden Kunst und Kulturwissenschaften in Linz und Rotterdam. Neben ihrer Tätigkeit als Bühnenbildnerin ist sie als bildende Künstlerin sowie als Autorin und Regisseurin von Experimental- und Animationsfilmen tätig, die auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt und ausgezeichnet wurden.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.