Nach dem Signalton

Von Mascha Dabić. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 102

Online seit: 27. Januar 2023
Mascha Dabić © Jorghi Poll
Mascha Dabić. Foto: Jorghi Poll

Brigitte, 73 Jahre alt, Pensionistin

Was hab ich mir auch dabei gedacht, kurz vor Kassaschluss hier aufzukreuzen. Die Leut haben schon wieder einen Stress, sagenhaft. Gibt’s morgen leicht wieder einen Lockdown, oder was? Ich hätt am Vormittag einkaufen gehen sollen, aber ausgerechnet da musste die Manuela mit ihrer Brut kommen. Hermann wird sauer sein, sein Nussbrot ist schon aus. Dabei kann er mit seinem neuen Gebiss höchstens dran lutschen. Und Olivenbrot schmeckt eh viel besser. Mir jedenfalls. Zweite Kassa bitte! Wenn man hier nicht laut schreit, dann passiert gar nix. Nur das quietschende Rad bekommt sein Öl, das hat die Tante Gerda immer ganz richtig gesagt. Zweite Kassa! Sonst lassen sie einen stundenlang anstehen, wie nix. Ist denen doch wurscht. Mit uns kann man’s ja machen. So, jetzt aber. Was sich die schon wieder alle vordrängen mit ihren vollbepackten Einkaufswagen, als müssten sie gleich zum Nordpol aufbrechen. Ah, wunderbar, der junge Mann mit der Glatze geht zur zweiten Kassa, der ist auf Zack, bei ihm geht’s schnell dahin, und grüßen tut er auch immer so nett. Und fragt sogar nach, wie es einem geht. Und merkt sich, was man ihm schon mal erzählt hat, die Krankheiten, die Operationen, alles weiß der, auch Monate später. Der kann gleichzeitig reden und abrechnen. So wie die Kassiererinnen früher, in den guten alten Zeiten, die konnten das auch, vor der Einführung der Bankomatfunktion. In den Neunzigern damals, na das waren vielleicht Tippmaschinen. Die wussten jeden einzelnen Code auswendig, man hat ihnen die Sachen aufs Band gelegt, und die haben dann in einem Affentempo alles reingetippt, zack-zack, so schnell konntest gar nicht schauen, wie die schon wieder fertig waren. Und zack: Der Nächste bitte, und du konntest nicht mal dein Zeug einpacken und warst schon weggeschubst. Dabei war ich damals noch jung und flink! Da hab ich schon vom Hinschauen auf denen ihre Hände einen richtigen Stress bekommen. Wie die Pianistin im Konzerthaus, sogar noch schneller. Aber die Kassiererinnen damals, die hatten so trockene, kaputte Hände, man wollt ihnen glatt eine Handcreme vorbeibringen. Irgendwann wurde es anders, als die Bankomatfunktion kam. Langsamer und zivilisierter. Dafür aber das ständige Gepiepse. Immer dieses Gepiepse. Wie die Leute an der Kassa das aushalten, das frag ich mich schon. Und dann die gleichen Sätze, die sie aufsagen: Brauchen Sie ein Sackerl? Nach dem Signalton, bitte. Schönes Wochenende! Mahlzeit! Nur komisch, dass der nette junge Mann mit der Glatze an beiden Armen tätowiert ist, überall, alles vollgekritzelt, und sogar noch was am Hals, aber was geht mich das an, ist ja sein Bier. Soll doch jeder machen, was er will, sag ich immer. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Hermann findet, ich mach’s mir zu leicht, und Toleranz ist nicht das Gleiche wie Indifferenz, eine eigene Meinung müsse sich ein erwachsener Mensch schon bilden, der was auf sich hält, sagt er dann und wedelt mit seinem Zeigefinger in der Luft, aber der Hermann hat auch gut reden. Mit voller Hose ist leicht stinken. Er muss ja nicht einkaufen gehen, nie hat er sich mit dem Alltag herumplagen müssen, immer hab ich ihm die kleinen Dinge abgenommen, damit er in Ruhe arbeiten kann an seinem Schreibtisch, was weiß schon der liebe Hermann, wie man sich mit den Leuten arrangieren muss, mit den Handwerkern, mit den Putzfrauen, mit den Nachbarn, mit den Ärzten und jetzt mit seinen slowakischen Pflegerinnen, was weiß der schon, was es alles braucht, um in der Meute durchzukommen. Er ist derjenige, der es sich leicht macht. Der herumsitzt und doziert und alles besser weiß. Hat er eine Ahnung, was das ist, die Alltagsdiplomatie, wie ich das nenne. Nein, der Hermann hat nur mit der großen Diplomatie was am Hut, mit dem glatten diplomatischen Parkett, wie er sagt. Aber wie man einen normalen Parkettboden einlässt, das muss der feine Hermann nicht wissen. Geschweige denn wie man einen in die Jahre gekommenen Parkettboden schleifen lässt. Oder wie das ist, wenn zum ersten Mal: Zweite Kassa bitte! rufen muss, wieviel Überwindung das kostet. Weil man eben sieht, das steht jetzt an, und kein anderer tut’s, also macht man’s selbst. Man duckt sich nicht weg, wie alle anderen. So ähnlich wie in der Damensauna, wenn man zum ersten Mal aufsteht und fragt: Soll ich einen Aufguss machen? Jede könnte es tun, aber es ist dann eine einzige Dame, die aufsteht, den Schöpfer in die Hand nimmt und das Notwendige erledigt. Einen Ruck muss man sich geben. Aber dem Hermann ist das alles zu minder. Der lässt lieber die anderen tun, und er selbst ist fein raus. Jetzt ist die Pandemie schon lang vorbei, jetzt könnt er auch zumindest manchmal raus unter die Leute, könnt sich sein Zeug selber zusammensuchen, statt hinterher rumzumeckern, was nicht alles fehlt, mit dem Rollstuhl könnte er überall hin, die Ivanka hat’s uns lang und breit gezeigt, so schwer ist das gar nicht mit der Automatik, aber Nein, der Hermann hat sich’s in der Pandemie angewöhnt, das Daheimsitzen, und jetzt kriegen ihn keine zehn Pferde da raus. Jetzt kann er gut sagen: Na na, geh du allein, ich darf mich nicht anstecken, ich bin Risikogruppe. Na super. Und ich bin leicht keine Risikogruppe oder was? … Polizei? Was macht die Polizei hier?

 

Torsten, 26 Jahre alt, Student der Psychologie, auf Erasmus

Welchen Wein soll ich kaufen? Weiß oder Rot? Rosé? Billig, teuer, mittel? Woher soll man wissen, welchen Wein man zum zweiten Tinder-Date in ihrer Wohnung mitbringen soll. Zweites Date, das ist heikel, wie zweites Album. Da kann man sich keine Patzer leisten. Ein Schnitzer, und schon ist man weg vom Fenster. Wenn ich einen teuren Wein nehme, dann glaubt sie, ich hab Geld. Schön wär’s. Dann erwartet sie aber nächstes Mal wieder einen teuren und so weiter und so fort. Und das treibt mich dann langsam aber sicher in den Ruin. Wenn ich einen billigen nehme, denkt sie, ich bin ein Loser. Womit meine Chancen sinken. Die goldene Mitte also. Ein Rosé, nicht zu teuer, nicht zu billig. Weststeirischer Schilcher, Klassik. Klingt doch gut! Nur 4,49 Euro, macht optisch was her, wird schon nicht negativ auffallen. Aber was, wenn sie den Wein kennt und weiß, dass der unter der magischen Fünfeuromarke liegt? Das könnte peinlich werden. Hier in Wien ist ja jeder Dahergelaufene ein Weinkenner oder hat zumindest gelernt so zu tun als ob. Gescheit daherreden, das können sie gut hier. Was schreit der Verrückte da am Eingang rum? Klingt wie: Gehts olle scheißen, Oaschlächa deppate … Sowas in der Art. Man versteht ja kaum, was diese Leute da sprechen in ihrem Dialekt, aber einen gewissen Charme hat das durchaus. Oaschloch, deppates, klingt doch charmanter als du dummes Arschloch. Mann, geht’s noch? Hat da jetzt echt wer die Polizei gerufen? Nur weil einer sich im Supermarkt mal seinen Frust von der Seele schreit? Der tut doch keinem was. Welchem Schlaumeier ist es eingefallen, gleich die Bullen zu holen? Lauter Denunzianten hier. Das ist doch verrückt. Viel verrückter, als das, was der arme Irre hier brüllt. Vermutlich hat er gerade einen psychotischen Schub oder so etwas. Er schaut ja nicht mal besonders heruntergekommen aus. Saubere Kleidung, die Jacke dürfte gar nicht mal so billig gewesen sein. Naja, in Wien wird man schnell mal verrückt. Ich wollt’s den Leuten im Heim zuerst nicht glauben, aber schön langsam … Hat nicht Markus letztens erzählt, wie er in der U-Bahn neben einem Typen gesessen ist, der vom Schottentor bis Karlsplatz in einer Tour irgendwelche Balladen laut aufgesagt hat, Wer reitet so spät durch Nacht und Wind und so Zeug. Was Freud wohl dazu gesagt hätte? Wie dem auch sei, welchen Wein jetzt? Freud, schau oba, wie sie hier sagen, schau oba bitte und hilf mir! Was wollen die Frauen? Einen teuren roten oder einen billigen weißen oder einen teuren billigen rot-weiß-roten… Ach, egal, auch schon wurscht, jetzt nehm ich mal den billigen Rosé, der muss fürs erste reichen. Und eine Schokolade. Am besten eine von diesen Moser Roth, die schauen edel aus. Aber welche von denen. Schon wieder so viel Auswahl, verdammt. Egal, die rote. Rot kommt immer gut. Rosa Wein, rote Schokolade. Gleich schließen sie, und wenn ich so weitertrödle, dann steh ich bei Madame mit leeren Händen da. Das kann ich nicht bringen. Oder ich kann schon, aber nur ein Mal.

 

Goran, 45, arbeitet an der Kassa

Meine Güte, hört dieser Tag denn nie auf. Zuerst die Ladung mit der defekten Ware, dann die zerbrochene Ölflasche, und jetzt der Spinner da. Der hat uns heute gerade noch gefehlt. Noch dazu so kurz vor Feierabend, da wird sich jetzt alles verzögern, die Bullen werden nicht einfach so abziehen, die müssen sich schon noch bissl aufplustern. Bissl Muskeln zeigen. Bissl Exekutive raushängen lassen. Dass der neue Filialleiter allen Ernstes die Bullen rufen muss. Als ob wir mit dem Herrn nicht allein fertiggeworden wären. Ein paar beschwichtigende Worte, und der hätte sich schon wieder beruhigt und vertschüsst. Ist ja nicht das erste Mal. Aber der übereifrige Magister Christian Baumgartner denkt sich, besser nix riskieren, besser auf der sicheren Seite. An manchen Tagen spinnt halt mal der eine oder andere Kunde. So what? Gehts olle scheißen, naja, das fällt halt unter freie Meinungsäußerung. Eine Aufforderung, nichts weiter. Man muss sich ja nicht gleich angesprochen fühlen. It’s a free country, Magister Baumgartner. Wenn du nur wüsstest, wie viele solche wie dich wir hier schon kommen und gehen gesehen haben. Ihr kommt voller Elan in den Laden, wollt das Rad neu erfinden, sekkiert uns mit euren grandiosen neuen Ideen und euren Teamsitzungen, irgendwann geht euch die Puste aus, dann werft ihr das Handtuch, und dann kommt eh schon jemand Neuer. Und inzwischen läuft der Laden ganz normal weiter, alles wie gehabt, jeden Tag kommen die Menschen eben und kaufen sich ihr Zeug zusammen, aber diese Normalität fällt euch gar nicht auf, weil ihr nur auf die Zahlen starrt, und die Zahlen sind grundsätzlich nie gut genug, das nächste Quartal muss noch besser ausfallen, und im internationalen Vergleich und überhaupt. Die fetten Pandemiejahre sind jetzt halt auch vorbei, wir an der Kassa sind keine Superhelden mehr, hackeln jetzt erstmal ohne Applaus weiter, und die versprochenen Bonuszahlungen und Gehaltserhöhungen können wir uns in die Haare schmieren. Sofern wir noch welche haben, ha ha ha. Komm mir nicht blöd, Mister Magister Baumgartner, sonst lernst du mich noch kennen. Oder noch besser, du lernst mich gar nicht mehr kennen und ich dich auch nicht, denn ich verpiss mich von hier. Ich bin ja nicht blöd, ich les doch auch die Zeitungen. Überall werden Arbeitskräfte gesucht, unsereins sitzt jetzt endlich mal am längeren Hebel. Ich könnt zurück ins Tattoo-Studio, oder eine neue Ausbildung machen, warum nicht. Zoran hat erzählt, bei ihnen im Flüchtlingsbereich suchen sie jetzt händeringend. Erfahrung als Flüchtling hätt ich ja aus erster Hand, und alles andere kann ich lernen. So alt bin ich auch wieder nicht. Da geht schon noch was. Den Kredit müssen wir halt noch abstottern, aber egal, das bisschen Geld verdien ich mir woanders auch.

Lisa, 7, mag Kaugummis: Ein Polizist… Und eine Polizistenfrau! Moritz wird mir nicht glauben, dass ich Polizisten aus der Nähe gesehn hab. Mama sagt immer, Augen zu bei der Kassa! Mach die Augen zu! Ich hab trotzdem geschaut. Mama sagt, Kassa ist eine kapi.. kapitalirgendwas Falle. Überall Zuckerln und Schokolade, die machen dir Karies, sagt sie. Karies. Braune Zähne. Grausig. Hab ich nicht. Ich will keine Zuckerln und keine Schokolade, ich will die Kaugummis. Die blauen, die scharfen. Moritz spuckt seine immer gleich aus, sie sind ihm zu scharf, ich kletzle sie dann vom Teppich raus. Aber dann schmecken sie nicht mehr so gut. Jetzt kommt der schirche Ton, jetzt muss Mama was tippen, jetzt mach ich wieder die Augen auf und schau trotzdem.

* * *

Mascha Dabić, 1981 in Sarajevo geboren, übersetzt Literatur aus dem Balkanraum (u.a. Ausgehen und Superheldinnen von Barbi Marković). Studium der Translationswissenschaft (Englisch und Russisch). Lebt in Wien, arbeitet als Dolmetscherin im Asyl- und Konferenzbereich und lehrt Russisch-Übersetzen und -Dolmetschen an der Universität Wien. Ihr Debütroman Reibungsverluste erschien 2017 in der Edition Atelier und wurde von Daniela Strigl für den Franz-Tumler-Literaturpreis nominiert und landete auf der Debüt-Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2017. 2018 Literatur-Förderungspreis der Stadt Wien.

* * *

Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.