Im Anfang war das Wort

Von Martin Prinz. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 52

Online seit: 11. Februar 2022
Martin Prinz © Lukas Beck / Suhrkamp
Martin Prinz. Foto: Lukas Beck / Suhrkamp

Er hatte ein Ende gesucht, keinen Anfang.

Harmer klappte das Notizbuch zu, nein, schob es ein Stück weg. Ringsum die Papiertürme der vergangenen Monate. Hunderte Seiten. Es war früher Nachmittag. Auf einem der Stapel das kurze Summen seines Smartphones. Er blickte durch das Fenster auf das lichte Weiß des ersten Schnees hinaus, wartete auf das Erinnerungssummen. Der Schnee an den Wegen, den Wiesen, selbst an kleinsten Obstbaumverästelungen haftete er in unwirklich dünnen Kämmen.
Kein Roman, hatte Harmer an diesem Novembertag in sein Notizbuch geschrieben. Wie fast an jedem Tag. Sein Gebet nannte er das in guter Stimmung. Oft schrieb er tagelang nicht einmal kein Roman, vergrub sich in das Material, verlor sich darin, schüttelte sich selbst ab und tauchte wieder auf. Zumindest darin war er ein guter Mönch.
Darunter eine Zeile Joseph Brodskys: Am Ende der Gerade ist der Punkt immer besser zu sehen. Die ersten Spuren von Nachmittagsgrau lagen am Berghang gegenüber. Das weiße Schneestrahlen blieb darin unangefochten. Zwei Welten, für Augenblicke, und darin alles andere als eine Gleichung. Auch um das zu wissen, saß er hier in seiner Klause, in der er Recherchematerial zur Krise angehäuft hatte – Einträge einer Zeit, in der selbst Geräusche Ränder bekommen, schrieb er an einem dieser Morgen in sein Notizbuch: Alles davor ist schon Gespenst, und das Begreifen bekommt seine Schönheit zurück.
Ich höre verschwundenen Flugzeugen hinterher, zähle ein, zwei, drei Menschen in Straßenbahnen, manchmal keine. Plakate kündigen Veranstaltungen an, die nicht mehr stattfinden. Ich steuere meinen Wagen über Autobahnen und Landstraßen, oft bleibe ich länger das einzige Fahrzeug weit und breit, als ich dabei die Luft anhalten könnte. Das weiß ich und weiß es nicht. Ich erlebe das und hätte es mir nie vorstellen können, und merke, wie mir das eigene Davor verblasst. Unvorstellbar auf einmal beides, das erinnerte Leben und das gerade Erlebte.

Kein Roman. Darauf verzichtete er nicht. Obwohl sein Material nun an Form gewann. Zum Glück hatte er sich von der Unmenge und ihrer Wucht nicht abschrecken lassen. Irgendwann nicht einmal mehr von sich selbst.
24. Februar 2020: Coronavirus. Wollt nur auch was dazu posten.
27. Februar 2020: Beim Hofer war null los, keiner maskiert, die Regale voll. Typisch Gersthof.
28. Februar 2020: Beim Gourmet Spar in Währing ist der Prosecco ausverkauft.
In einem Monat war Weihnachten. Er blickte sich um. Schreibtisch, Material, Notizbuch. Die Nachmittagsschatten hatten das Klausenfenster erreicht, darin die Umrisse seines Gesichts.
8. März 2020: Die Zahlen in Italien gestern, 8.3.2020: 6.387 Erkrankte, davon 366 Tote, 622 Gesundete. Heute, 9.3.: 7.985 Erkrankte, davon 463 Tote und 724 Gesundete. Ganz Italien ist nun Sperrzone.
8. März 2020: Ich: Love is in the air! Frau: In meina ned.
10. März 2020: Mein Bub wird nächste Woche 8, sagt aber, er bleibt so lange 7, bis die Omi wieder mitfeiern kann.
10. März 2020: Bekomme viele Absagemails von Veranstaltungen, von deren Existenz ich auch auf diesem Weg erfahre.
11. März 2020: Die Betreffs der heutigen Mails von den Schulen der Kinder: „E-Learning“, „Lernplattform“. Ich habe jetzt 4 große Packungen Klopapier gehamstert.
12. März 2020: Wusstet ihr schon, dass die Illuminaten das Virus aus Atommüll, Genmais und Rotz zusammengeschraubt und per 5G-Netz verbreitet haben, damit wir alle schwule Kommunisten werden?

Nichts. Früher Morgen, kein Mucks. Nur ein weiterer Novembertag. Das Gerät am Rand der Schreibtischplatte hielt still. Es hielt die ganze Klause so still, wie es der tiefe Schnee draußen mit der noch dunklen Landschaft tat. Ähnliche Maße wie eine Gefängniszelle hatte der Raum, etwas über zwei mal drei Meter, weiß verputztes Gemäuer. Das Bett an der Seitenwand, ein schmales Einzelbett, unmittelbar daneben der Schreibtisch am Fenster, kaum Platz dazwischen, um an die Flügel zu treten, sie weit zu öffnen, ganz gleich zu welcher Jahres- oder Tageszeit, und einzutauchen ins Dunkel oder Mondlicht, in den Wind eines Tages oder in die Hitze der Sonne an der Südseite des Gebäudes, die man hinter dem dicken Gemäuer selbst an den heißesten Tagen nur ahnen, bestenfalls an der erstaunlichen Abwärme der inneren Fensterscheiben fühlen konnte.
Kein Surren. Seit dem Aufstehen nicht. Wie immer war Harmer mit dem Aufbruch der Mönche zum Chorgebet aufgestanden und in die Basilika. Danach setzte er sich gleich an den Schreibtisch, um vor dem Frühstück bereits etwas geschafft zu haben.
An diesem Morgen hatte Harmer nicht einmal die Schneeräumung gehört. Vor ihm der Stoß der digitalen Stimmen der letzten über eineinhalb Jahre und alles übrige Material.
12. März 2020: Coronagespräche. Ich: Also, ab nächste Woche bis nach Ostern keine Schule. – Kind: Was machen wir da die ganze Zeit? – Ich: Waldspaziergang. – Kind: … – Kind: … – Kind: … ja, findet da keiner eine Medizin??? – Ich: Es wird geforscht. Auch ein ganz berühmter Wissenschaftler aus Österreich ist dabei . – Kind: Adolf Einstein?
12. März 2020: Die ersten Väter aus der Volksschule melden sich für Mi zum Playstation Spielen an.
13. März 2020: Der Mensch muss wieder von seiner Schwäche, seiner Zerbrechlichkeit ausgehen, um neue vergessene Dinge zu entdecken, ohne von der Angst erfasst zu werden.
13. März 2020: Es ist so weit, ich hab mit dem Einrexen angefangen.
13. März 2020: Nice move! „Pornhub is Giving Italians Free Premium Access During Coronavirus Quarantäne“, pcmag.com
13. März 2020: Mir vergammelt grad der Hamsterkauf von vorgestern.

Als er das erste Mal an eine solche Klausur gedacht hatte, vor gut zweieinhalb Jahren, war von den Geschehnissen noch nichts zu erahnen gewesen. Harmer hatte einen Roman fertiggeschrieben gehabt, an dem er über zehn Jahre gearbeitet hatte. Danach wollte er sich Zeit lassen, Abstand gewinnen, die leeren Tage genießen, nichts zu tun. Bis er nachts aufwachte. Zuerst nicht jede Nacht und auch noch nicht länger wach liegend. Dann aber begannen Nacken- oder Kopfschmerzen, die er auf den Wein schob. Bis sie auch ohne Wein auftraten und nicht erst mitten in der Nacht, sondern bereits mit dem Niederlegen einhergingen.
Tagsüber hallten die Parketten, die Wände, die Flächen. Draußen die helle Kraft des Frühlings, herinnen eine Art der Schatten, die gerade aus dem Alltäglichsten wuchsen.
Welche Haltlosigkeit ihn hier erreichte, erkannte er erst, als er nachts hochschrak, wie er das nur aus den Alpträumen seiner Kindheit kannte: Rund um ihn ein riesiger Schacht und er darin in die Bodenlosigkeit eines Weltraums stürzend. Schreiend war er davon als Bub aufgewacht und lauthals in Panik durchs Haus gelaufen, als ließe sich diesem Fallen mit gellender Lautstärke und rasender Bewegung etwas entgegensetzen.
Doch da waren im Schlafzimmer nur mehr Wörter und Sätze. Sobald er am Einschlafen war, standen sie da, mussten nicht einmal schreien, um ihn aus dem Schlaf zu reißen, es genügte, dass sie ihn jedes Mal wieder glauben machten, sie allein wären jene entscheidenden Klippen, die ein für alle Mal geortet und umschifft werden müssten, bevor es endlich auf das offene Meer hinaus ginge.
Er saß im Bett und nichts war da, keine Klippen, kaum Wörter, halbe Sätze. Kein Roman.
14. März 2020: Unser Hamster ist tot. Kein Witz.
14. März 2020: Gehen uns zaus schon ganz bissi am Arsch.
14. März 2020: Ernsthaft: drinbleiben. Manche bitte dauerhaft, aber das ist ein anderes Thema.
15. März 2020: Kind rülpst nachm Essen in die Armbeuge

Sein letztes Mal in der Stadt lag lange zurück. Anstatt in seiner Wohnung hatte Harmer im Hotel übernachtet. Hoch über der Stadt, nur von der dicken, so gut wie jeden Schall schluckenden Glaswand vom weiten Stadtpanorama getrennt.
Aufgewacht war er allein. Draußen die niedrige Sonne, ihr langes Strahlen über die Stadt. Lichtrosa, lichtgelb, lichtblau. Für einen Augenblick meinte er, ein Handysurren gehört zu haben. Er griff nicht hin, wartete, doch nichts kam, kein Wiederholungssurren. Nur ein Rauschen meinte er wahrzunehmen, so weit entfernt, dass er zu den dicken Scheiben hinausblickte. Auf den Kanal, die Brücken, die Häuser, auf ein Bild völliger Geräuschlosigkeit. Er dachte an die Schusswaffe eines Freundes, die er sich bereits vor Jahren zugelegt hatte. Jetzt belächelte er ihn nicht mehr.
Der Sonne nach musste er seit dem ersten Aufwachen noch einmal eingeschlafen sein. Ein einzelner Wagen fuhr über eine der Kanal-Brücken und bog auf die völlig leeren Kai-Fahrbahnen. Harmer sah, wie das Luftkissenboot der täglichen Schnellverbindung in die flussabwärts gelegene Hauptstadt des Nachbarlandes anlegte, und auf einmal stauten sich unter den Ampeln der Kai-Fahrbahnen auch die gewohnten Autopulks wieder.
Bis irgendetwas irgendwo flatterte, wie von einem gerade auffliegenden Vogel. Er sah sich um, doch weder im helllichten Zimmer noch draußen an der Glaswand rührte sich etwas – stattdessen hörte er das Rauschen wieder, hörte es immer deutlicher, doch um keinen Deut näher. Harmer ging ins Badezimmer, trat an den Spiegel, sah sich an. Auch hier nichts. Er suchte sein Gesicht nach einer Regung ab. Die Augen, die Wangen, den Mund. Keine Bewegung, nicht einmal an den Wimpern. Nur das Rauschen. Bewegte er jetzt seine Augen, seinen Mund oder auch den ganze Kopf ‒ es starrte ihn einfach nur weiter an.
Dann habe er, wie er sich später sagen hörte, Wasser ins Becken eingelassen, das Messer glatt gestrichen und den Pinsel eingeschäumt. Er habe das Messer gespürt, das Rauschen und dahinter einen Schmerz, einen ständigen Schmerz, der so weit entfernt war, dass er ihn wohl selbst mit größter Gewalt nie erreichte.
Fürchtete er sich allein vor dem Messer, sollte Harmer leichthin sagen, sei alles gut, fürchtete er sich vor seiner Hand, dürfte er sich nicht rasieren. All das hörte er, wann immer es wirklich gesagt worden war, oder zu wem, hörte es näher rücken, näher und näher und schon war es wieder unerreichbar an ihm vorbei. Jedes Mal wieder. Nur Wörter, Echos und das Rauschen danach.
Das eigene Blut. So nah und gleichzeitig so weit entfernt, wie der Hall und Hauch von Gebirgsbächen im Frühling. Dieses Rauschen könne man nicht hören, sagte Harmer, ein solcher Höllenlärm sei es. Es sei wie ein Phantomschmerz, fügte er noch hinzu, ohne dass einem selbst etwas fehle, da einem rundum alles fehle. Eine Art Fahrtwind, in dem sich nichts mehr bewege.
Dann sei es so weit, antwortete ihm sein Gegenüber im Spiegel: Die Augen, die Nase, der Mund. Nur Wörter. Sein Gesicht und ein Wort. Und noch eines. Hotel. Im Spiegel lachte es, doch auch Spiegel war nur ein Wort. Danach holte er die letzten Dinge aus seiner Wohnung.
Das war im Februar. Es war Nachmittag, es wurde Abend. Er stand an der Glasfront des Hotelzimmers und schaute hinaus. Kurz darauf verschwanden die Menschen. Die Straßen leerten sich, Schulen und Geschäfte schlossen, es war März und der Himmel blieb jeden Tag blau. Straßenbahnen fuhren ohne Passagiere durch die nächtliche Stadt. Was war geschehen?, schrieb er: Kein Roman.
Nachts erreichten selbst Gespräche aus hochgelegenen Wohnungen so deutlich die Gassen und Gehsteige, als befänden sich alle im selben Raum. Küchengeräusche, Stühlekratzen. Am helllichten Tag hörte man die Gangschaltungen der Fahrräder in der Stadt ebenso wie die Schritte von Tauben. Die Menschen auf Abstand, auf Plätzen im Gespräch, beim Zigarettenrauchen oder mit Bier in der Hand. Zwei Meter, drei Meter. Genug, dass nacheinander ausgestreckte Arme hilflos ausgesehen hätten.
15. März 2020: Ok, ihr habt es ja so gewollt: morgen lese ich live aus meiner Badewanne alle 23 Hilbertschen Probleme plus ihre Lösung per Livestream vor!
15. März 2020: Ok. Also ich sing heute Abend um 18.00 die Internationale aus dem Fenster. Wer ist dabei?
16. März 2020: Ich habe eine Frage, die nicht blockwartmäßig rüber kommen soll, es interessiert mich nur: Am Nachbargrundstück einer mir bekannten Dame wohnt eine recht wohlhabende Familie. Heute waren dort einige Arbeiter zugange, die den Zaun gestrichen haben, die Hecke geschnitten etc. Es ist keine Reparatur eines Wasserrohrbruches oder sowas. Fällt das unter Arbeit, die getan werden muss, also ist das im Rahmen? Oder müssten die Arbeiter für so einen Gartenverschönerungstermin nicht daheim bleiben?
16. März 2020: Seit 18:00 singe ich laut auf dem Balkon „Fang das Licht“, noch immer kein Applaus.

Zerbrechlich kamen ihm die Steine vor. Seit acht Jahrhunderten aneinander gefügt. Platten und Blöcke, unterschiedlicher Größe und Form, behauen wie unbehauen. Manche rund, wie riesenhafte Kieselsteine, mitten im Gefüge, als hätte sich jemand einen Spaß gemacht und eine Flaschenpost aus Stein ins Mauerwerk versuchter Ewigkeit geschickt. Dann wieder klumpige Brocken.
Immer wieder war Harmer während der Frühlingswochen nach seiner Ankunft in der Basilika, im Kreuzgang oder an anderen Stellen des Stiftskomplexes gestanden und hatte gestaunt. Ob Böden, Wände, Säulen oder Portale, Tor- oder Fensterbögen. Manches erschüttert von Bränden und Kriegen, zerstört und wieder aufgeschichtet. Manches seit dem Jahr 1230 so fest gefügt, als wäre es für alle Zeiten. Längst hatte Harmer die Baugeschichte des ganzen Klosterkomplexes abzurufen vermocht, die unterschiedlichen Abschnitte auswendig zu ertasten. Doch frühmorgens, in den Halbschatten des Weges von der Klausur hinunter, und durch den Kreuzgang in die Basilika, kamen ihm all die Steine zerbrechlich vor. Die Geräusche seiner Schritte und gleichzeitig eine Stille, in der ihn die Stimmen der Mönche weit vor jenen Momenten erreichten, in denen das zittrige Chorgebet der wenigen verbliebenen Geistlichen in Wirklichkeit erst zu hören sein dürfte.
Nicht einmal mehr zu zehnt waren sie, zusammengesunken in ihren kabinenartig voneinander abgetrennten Plätzen im Chorgestühl, dessen doppelte Sitzreihen aus kunstvoll gedrechseltem Holz ein Vielfaches an Betenden zuließen. Alte Stimmen, die brachen, und selbst jene der Jungen klangen dünn. Harmer konnte nicht sagen, wann und wie und wo sie in ihm zu klingen begannen, wusste nur, dass er ihrer auf eine Weise gewahr wurde, als hätten sie ihn jedes Mal wieder seit dem Verlassen seiner Klausur hinunter begleitet.
Als Nächstes dann, auch das jeden Morgen seit Monaten, die Luft des Winters, sobald er die Basilika betrat. In den meisten Jahren, so hatte ihm der Abt erklärt, spüre man den Winter in den Winkeln selbst im Hochsommer noch. Harmer musste an sein erstes Aufwachen im Februar, den ersten Gang durch das Halbdunkel des Stiegenhauses, des Kreuzgangs und der Basilika denken. Draußen die Nacht, herinnen das Aufsetzen seiner Schritte auf den Steinen und die Stimmen. Damit hatte das Tasten begonnen, das Klingen und eine Bewegung, die namenlos war.
Er könne jederzeit mitbeten, sei im Chorgestühl willkommen, hatte die Einladung an ihn gelautet, und Harmer konnte noch immer nicht. Vielleicht gerade weil er bereits im Augenblick der Frage nichts als Sehnsucht danach gespürt hatte. Er sprach im Stillen mit und tat es, ohne einen Blick in die Gebetbücher. Es war einfach da, wie eine lange Zeit nicht mehr gesprochene Sprache. Woher es kam, wusste er nicht. So müsste man erzählen. Wenn er es je wieder täte.
16. März 2020: Nur einmal kurz lesen, erst dann toben. Es ist genau das, was über kurz oder lang sowieso kommt. Denn der Lockdown müsste monatelang durchgehalten werden, um zu funktionieren, dann nächsten Winter wieder. Das wird nicht passieren. („Coronavirus: Kontrollierte Infizierung ist die beste Strategie“, welt.de)
16. März 2020: Also wir haben 492 Badezimmer Fliesen

Kein Morgengebet hatte Harmer seit seiner Ankunft im Kloster ausgelassen. Kein einziges Mal hatte er all die Monate dafür den Wecker gebraucht. Kurz nach fünf Uhr setzten in den benachbarten Zellen die ersten Geräusche ein. Klospülungen, das kurze Quietschen von der Stelle gerückter Sessel, Schritte, sogar vom Wassergurgeln in den Leitungen war er bereits aufgewacht.
Für nicht wenige der Handgriffe und Verrichtungen hatte er die Geräusche und Verläufe wie automatisch abspielbare Echos im Ohr. Anstatt dass er sich über das Langsame, Schleppende vieler dieser Augenblicke noch im geringsten wunderte, oder dies, wie in den ersten Tagen, gar als unheimlich empfand, waren all die Abfolgen in der Zwischenzeit zu einem breiten Rhythmus geworden, inklusive seiner eigenen Bewegungen darin.
Er gab ihnen stets Vorsprung und folgte ihnen mit Abstand, sodass er sich beim Absperren seiner Klause eigentlich jedes Mal sicher war, das Domine, labia mea aperies et os meum annutiabit laudem tuam, mit dem das nächtliche Schweigegebot aufgehoben wurde, zu verpassen. Doch das Klimpern seiner Schlüssel, das Aufsetzen der ersten Schritte, der Weg durch die Gänge, durch das Stiegenhaus und den Kreuzgang in die prachtvolle Basilika fügte sich stets so genau in den Sog der Vorangegangenen, in den letzten Hall eines Schneuzens oder Räusperns, in die Abfolge der gänzlich unterschiedlichen Schrittweisen der Alten und ganz Alten, die er stets viel deutlicher als jene der beiden Jungmönche wahrnahm, dass er an jedem Morgen wieder zumindest zum Abschluss der ersten Vigilie zurecht kam.
Er nahm in einer der hinteren Bankreihen der Basilika Platz, murmelte unwillkürlich den gesprochenen Singsang der Gebete mit, kannte jedes Wort darin und kannte keines, ohne sich über die Unmöglichkeit einer solchen Kombination zu wundern, war es doch jenem Gefühl nur zu ähnlich, mit dem er in den entscheidenden Momenten nicht nur sein Schreiben wahrnahm, sondern ebenso sich selbst. Das Eigene, das Fremde, das Erlebte, das Erinnerte, Schmerz und Erleichterung, es vermischte sich nicht nur, bekam nicht allein durch die jeweilige Zusammensetzung Stimme und Klang, sondern tat es bereits in der bloßen Vorstellung. Darin tauchte er hier ein. Schritt für Schritt. Stein für Stein.
16. März 2020: „IS warnt Terroristen vor Einreise nach Europa: Der Coronavirus hält die ganze Welt im Griff. Auch Terrororganisationen zeigen sich unsicher gegenüber der Krankheit.“ – Das berichten „Politico“, „Homeland Security Today“ und auch die „New York Post“. So wurde Terroristen tatsächlich vom Islamischen Staat eine Reisewarnung erteilt. Aufgrund des Coronavirus, sollten sie nicht nach Europa gehen. IS-Soldaten, die krank sind, sollen nicht zurückkehren. Sie haben im „Land der Epidemie“ zu bleiben und möglichst viele Menschen anzustecken.
16. März 2020: Frau blockt Annäherungsversuche mit Fake-Husten ab
17. März 2020: Aufgrund der allgemeinen Beliebtheit geistiger Krankheiten (nicht ansteckend) mache ich ein Folgeformat, und zwar indem ich die Herleitung der Relativitätstheorie auf eine Rolle Klopapier schreibe und per Livestream lesend abrolle. Fun fun fun!

Das Kloster war eine andere Welt. So fremd sie ihm war, genug wäre das diesmal nicht gewesen. Trotz aller Regeln und Beschränkungen, die er sich vom ersten Tag an auferlegt hatte – wie etwa der auch im Ruhemodus aktivierte Timer am Smartphone-Display, das Gerät am Schreibtischrand, am Tisch das aufgeschlagene Notizbuch:
Sechs Minuten hatte das Gerät in solchen Augenblicken etwa angezeigt, vier waren vergangen. Meist hatte er dann noch kein Wort geschrieben, doch zumindest auch kein einziges Mal auf Eingänge in seinem Gerät geschaut. Mit zehn Minuten, so hatte sein Vorhaben vom ersten Morgen an gelautet, wollte er beginnen. Zehn Minuten schreiben, und wenn es nur dem Birnbaum galt, der Wiese oder den Fensterkreuzen, doch zumindest ohne Nachrichten, ohne ein Bild, ohne Video, ohne Gier, so hatte er begonnen.
Er schaute auf, hatte den Birnbaum vor sich, es war Spätfrühling oder Frühsommer, es wurde Herbst, und er hörte es in seinem Kopf: Jetzt der Birnbaum. Alles andere war Echo. Fünf Minuten, hatte das Display angezeigt. Oder sieben oder drei. Egal. Erst ein Wort. Oder keins. Im Birnbaumschatten und am Heckenrand der Wiese waren Schneereste gelegen. Im Grün die ersten, beinahe grell strahlenden Blumen, wie hingestreut. Beinahe voreilig hatte es ausgesehen, nicht nur angesichts der Schneeflecken.
18. März 2020: Liebe Leute! Meine Lesung aus der Relativitätstheorie ist wegen familiärer Hilfstätigkeit auf MORGEN VERSCHOBEN.
18. März 2020: Meine Frau und ich sind auf Tinder
Drei Minuten. Sieben waren geschafft. Die Schneereste, die grellen gelben Blumen, der Birnbaum. So hatte er noch jeden Morgen hier begonnen, das Notizbuch aufgeschlagen, das Gerät im Ruhemodus. Wochen, Tage. Im Gang einer der sieben Mönche beim Training.

Wie Wochen war es ihm vorgekommen, seitdem er wieder zu schreiben begonnen hatte. Dabei war es kaum mehr als ein Dutzend Tage her. Alles andere war Wunschdenken, war Sehnsucht nach Beständigkeit, nach Ablenkung, nach einem lang und breit ausschwingenden Rhythmus und Strom der Tage, in dem das Eigene, nichts als das Eigene, allmählich wieder so selbstverständlich wurde wie das Amen im Gebet.
19. März 2020: Ich frage mich, ob da draußen noch Leben ist. Vom Balkon sehe ich eine alte Dame, die so aussieht, dass es die Frage nicht beantwortet. Ich versuche, zu Donnerstag einen Meter Abstand einzuhalten. Hier singt keiner, dafür hört man von der Straße ein Husten, vermutlich von den Amseln.
20. März 2020: „Echt jetzt? Hast du mir gerade in den Mund gespuckt?“ – Die Kinder dürften wach ein.
Harmer blickte auf. Sein Handy surrte, oft genug hatte es das in solchen Augenblicken bereits getan, dass er nicht sagen konnte, ob er auf das Surren reagierte, oder das Surren bereits auf ihn. Draußen der Tag, doch in seinem Blick ein anderer. Vielleicht mit Schnee, sicher mit dem Berghang, vermutlich auch dem Birnbaum, darüber das Stück Himmel.

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Martin Prinz, * 1973, aufgewachsen in Lilienfeld, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik, lebt als Schriftsteller in Wien. Publikationen: Der Räuber. Roman 2002, Puppenstille. Roman 2003, Ein Paar. Roman 2007, alle Jung und Jung, Über die Alpen. C. Bertelsmann 2010, Die letzte Prinzessin 2016, Die unsichtbaren Seiten 2018, Der Weg zurück 2019, alle Insel. Auszeichnungen (u.a.): Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich, Outstanding Artist Award, Nominierung zum Österreichischen Filmpreis und Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon für die Verfilmung des Romans Der Räuber.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.