Patres und Fratres

Von Martin Amanshauser. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 83

Online seit: 16. September 2022
Martin Amanshauser © Heribert Corn
Martin Amanshauser. Foto: Heribert Corn

Im Jahr 2001 verbrachte Martin Amanshauser als Stadtschreiber zwei Monate bei Tiroler Mönchen. Die Aufzeichnungen aus dem Refektorium waren über zwanzig Jahre unter Verschluss.

An der Pforte des Tiroler Franziskanerklosters befinden sich zwei Glocken und zwei Schilder: „1. Glocke, hier läuten“ und „2. Glocke. Hier nur läuten, wenn sich Pförtner nach dem Läuten der 1. Glocke nicht meldet.“ Ein kleiner Bruder mit grauem Haar öffnet. Ich folge seinem schlurfenden Gang. Er führt mich durch verwirrende Flure zu einem dicken Mönch, Frater Kilian, der mich in Empfang nimmt und mir mein Zimmer zeigt: Ich bin Stadtschreiber und wohne mit den Mönchen.

15 m2, Duschkabine in einem türlosen Bad, Klo am Gang. Ein Schreibtisch mit grüner Lampe. Telefon. Eiskasten. Wäschekasten. Plastikboden. Blick auf die andere Seite des Inntals. Ein Nachtkästchen mit roter Lampe, äußerst ungünstig zum Lesen. Nur wenn man sie „umwirft“, also flach hinlegt, kriegt man einen Strahl zusammen. Ich werde zwei Monate mit einer liegenden Lampe zusammenleben. Schaltet man am Abend die Beleuchtung aus, bleibt ein von der Straßenbeleuchtung erzeugtes orangenes Lichtgebilde an der Decke. Das Fensterkreuz spiegelt sich im Schein einer Straßenlampe, so entsteht der Eindruck eines Gefängnisfensters. Im Hintergrund, vielleicht vom Dachboden, das Geschrei von Eulen.

Das Essen im Saal, dem Refektorium, mit zehn Mönchen. Platz wäre für 150. Der Guardian (Chef) sagt: „Können Sie sich kurz vorstellen?“ Ich: „Ich bin 1968 in Salzburg geboren …“ Guardian: „Des isch guat.“ Ich: „… und ich lebe in Wien …“ Guardian: „… weniger guat.“ Er lacht schallend. Langes Essensgebet. Ich bete nicht mit – bin ungetauft, kann das gar nicht. Ich schaue ihnen beim Beten in die Augen. Der Mönch gegenüber schaut zurück.

Beim Frühstück habe ich mein Notizbuch dabei. „Sie sind der erste Stadtschreiber mit Notizbuch“, sagt Frater Claudio, einer der jungen Brüder. Klingt wie ein Kompliment. Ich erkläre ihm, dass ich mir Träume aufschreibe, dass beim Traumaufschreiben Ehrlichkeit wichtig sei. „Sehen Sie, drum mach ich sowas nicht“, sagt Claudio, „bei mir würd da ein Penthouse rauskommen.“

Pater Petrus zeigt mir einen kopierten Zettel: „Das ist der Text der Gebete – zum Mitbeten. Man lernt es schnell auswendig.“ Ich schweige. Ich muss ihm irgendwann meine Bet-Weigerung deutlich mitteilen.

Nach dem Abendessen werden die Namen von Mitbrüdern verlesen, die am betreffenden Tag gestorben sind, ab dem 16. Jahrhundert. Es sind meist 5 bis 10 Namen. „Ein sanfter und ruhiger Mitbruder, ein hilfsbereiter Mensch, ein ausgezeichneter Koch.“ Danach die Formel: „Diese und alle nicht genannten Mitbrüder und die Seelen aller verstorbenen Wohltäter und Verwandten sollen ruhen in Frieden.“

Zwei der Mönche, die zufällig leibliche Brüder sind, wohnen nicht im Kloster, sondern in einem Pflegeheim. Sie sind über neunzig. Bei einem dieser Brüder überlegen die Ärzte, ob sie ihm den Fuß abnehmen sollen. Über dieses Thema wird beim Essen viel gesprochen: Ob sie dem jetzt den Fuß amputieren, ob nicht.

Das Tischgebet beginnt 30 Sekunden vor dem Essen. Mein Weg ins Refektorium dauert ca. 40 Sekunden. Daher ist es nötig, 80 Sekunden vor 12.15 bzw. 18.30 das Zimmer zu verlassen. Ich spüre auch eine andere Zeitverschiebung. Ich frage mich, wie spät es jetzt in Wien ist.

Essensritual: Zunächst das lange Gebet mit der gebenedeiten Frucht des Leibes (Vorbeter und Chor), gegen Schluss das Vaterunser. Nach dem Amen wünscht der erste Vorbeter: „An guatn Appetit!“ Frater Franz fährt die Suppe auf einem Wagerl heran. Jeder packt Besteck und Serviette aus einem mit seinem Namen versehenen Plastiketui („Fr. Fridolin“, oder „P. Christoph“, auf meinem steht: „Stadtschreiber“). Most und Apfelsaft, sonntags Rotwein. Nach der Suppe fährt Frater Franz den Suppentopf weg und holt neue Schüsseln: Fleisch, Reis, Salate. Sie gehen durch die Runde. Zum Abschluss serviert er zwei mit heißem Wasser und Geschirrspülmittel gefüllte Bierkrüge, zum Abwaschen. Jeder Pater/Frater trocknet sein Besteck mit einem Tuch, rollt es in die Serviette und verstaut es im Etui. Schlussgebet, Dank für das Essen: „Deo gratias“. Frater Oliver setzt meist noch formelhaft hinzu: „Wünschen, wohl gespeist zu haben“, was mir gefällt. Nachdem sich die Patres und Fratres bei Gott bedankt haben, bedanke ich mich bei ihnen.

Ich überlegte, ob passieren kann, dass sich einer verbetet. Ich kam zu dem Schluss, das sei unmöglich. Heute passierte es: Pater Petrus verbetete sich! Frater Fridolin wäre dran gewesen, Petrus kam ihm versehentlich zuvor und entschuldigte sich: „Ah, du bischt dran.“ Es war nicht Pater Petrus bester Tag. Nach seinem Versprecher schüttete er noch den Most beim Einschenken daneben, und dann hätte er fast den Schnittlauch (für die Suppe) in sein Trinkglas gestreut.

Bei einem Gespräch mit Pater Petrus stelle ich klar, dass ich nicht Mitbeten werde. Petrus reagiert freundlich, man könne ja niemanden zum Mitbeten „vergattern“. Das Wort „vergattern“ kommt häufig vor, ebenso wie das Wort „zukehren“ (= vorbeischauen). Ununterbrochen kehren die Patres und Fratres irgendwo zu.

Pater Petrus spricht über das Verbeten: Jede Woche wird eine Betordnung festgelegt. In jenem Moment habe er einen Teil des Gebets zu sprechen begonnen, der erst zu einem späteren Zeitpunkt gekommen wäre. Beim Beten komme es manchmal zu unwillkürlichen Verbetungen, im Prinzip müsse, laut Petrus, „drin sein, dass einmal ein Mitbruder unter dem Beten in unbändiges Lachen ausbricht – auch das gibts.“

Petrus erzählt von der einst stark hierarchischen Ordnung im Kloster, als der Unterschied zwischen einem studierten Pater und einem Frater als derartig groß empfunden wurde, dass sie an getrennten Tischen mit einem Leertisch dazwischen saßen. Für einen Theologieprofessor sei es damals überhaupt unvorstellbar gewesen, mit einem Gärtner oder Koch zu reden. Allerdings sei diese Trennung gegen den franziskanischen Gedanken, der Gleichheit der Brüder untereinander vorschreibe. Viele jüngere Patres wollen als „Bruder“ angesprochen werden, nicht als Pater. Früher ließen sich die Patres von den Fratres bedienen, vom Holz aufs Zimmer Bringen bis zum Schuhputzen. Bis heute seien die Unterschiede zu spüren. Das sei auch die Schuld von ihm und den anderen Patres, die sich manchmal aus Unaufmerksamkeit oder Faulheit bedienen lassen.

Was mir vage bewusst war, wird nun klar: Die anderen mobben Frater Franz. Das ist der Pförtner, ein kleiner, serviler, etwas ungeschickter Mönch mit grauweißer Beatles-Frisur.
Szene1: Frater Franz: „Man soll sich jetzt gegen Grippe impfen lassen, Influenza heißt die Impfung.“ Pater Christoph, halb lächelnd: „Also soll man sich jetzt gegen Grippe oder gegen Influenza impfen lassen, kennscht du da an Unterschied?“ Frater Franz: „Bei der Apotheke steht Influenza.“ Pater Christoph: „Also i lass mi nur gegen was Deutsches impfen, net gegen was Lateinisches, was sagst du, Franz?“.
Szene 2: Franz teilt Puddinge aus, Pater Christoph bekommt keinen hingestellt. Pater Christoph: „Und ich?“ Franz: „I hab ma denkt, du willst nie…?“ Er läuft mit einem Pudding zu Christoph. Pater Christoph lehnt den Pudding mit einer ungeduldigen Handbewegung ab: „Will i eh keinen. Aber gfragt möcht i werden.“
Szene 3: Franz serviert die Teller und Gläser ab. Vor Frater Lukas steht ein voller Pudding, den dieser nicht berührt hat. Franz nimmt ihn. Lukas: „Jetzt lassn halt da stehen!“ Franz: „Entschuldige, ich hab gedacht …“ Lukas zischt, fast mit geschlossenem Mund: „Lassn stehn, Herrschaftseitn!“

Gestern Abend störte mich der Jesus über meinem Bett, ein Holzkreuz mit „INRI“, darunter die lackierte Holzfigur, Nägel durch Hände und Füße, verwischtes Blut. Unter seinen Füßen ein Totenkopf, statt einer Kinnlade ein längerer Knochen. Als Ungläubiger benötigt man beträchtliche Toleranz für diese blutrünstige Leidensreligion.

Einer der Brüder aus dem Altersheim, Pater Anselm, starb vorige Nacht, 94-jährig. Er ist der leibliche Bruder von jenem Pater Placidus, dem letzte Woche ein Fuß abgenommen wurde. Nach dem Essen wird ein mehrstimmiger Gesang angestimmt. Trauriges Lied.

Frater Franz wurde von Pater Petrus zurechtgewiesen („Schlafst jetzt ein im Stehen?“), heute wird Franz von den anderen rüde angefasst.
Ein Kind habe längere Zeit an der Pforte gewartet, habe sich nicht getraut zu läuten, sei wieder gegangen.
„Das ist schon gut, wenn sie lernen, dass ein Pförtner nicht immer bei der Pforte sitzt, sondern auch woanders im Haus zu arbeiten hat“, sagt Frater Franz.
Pater Christoph mit tiroler „R“: „Der Pförtner arbeitet nicht an der Pforte? Das ist ja, wie wenn der Gärtner nicht im Garten arbeitet!“
Alle lachen, der Guardian wiehernd.
Frater Franz ist halbwegs schlagfertig: „Horch, Christoph, jetzt lacht dich der Guardian aus.“

Beim Abendessen kommt die große Stunde von Frater Franz. Ein ziviler Gast isst mit, Zvonimir aus Kroatien, dessen Bruder offensichtlich Franziskaner ist. Schwierige Verständigung, schlechtes Englisch, kein Deutsch. Frater Franz bemerkt, dass er Slowenisch spricht, weil er in einem zweisprachigen Gebiet aufwuchs. Als einziger kann er sich mit Zvonimir verständigen.

Begräbnis Pater Anselms, die erste komplette Messe meines Lebens. Pater Petrus hält die Einführung und führt die Messe. „Er war ein bescheidener, selbstloser Mitbruder, dessen fröhliche, humorvolle Art ihn liebenswert machte.“ Der erste Satz in der darauf folgenden Rede des Guardians geht schief, er bezeichnet Anselm als „Ansgar“, verbessert sich. Ich kriege beim Guardian das Gefühl der fehlenden Authentizität nicht los. Mit seinem blechernen Lachen und seiner Umgänglichkeit hat er etwas Amerikanisches, Schauspielerisches. Pater Petrus könnte die Nummer 1 glaubhafter repräsentieren, allein sein Gesicht ist mönchischer – während der Guardian einem Schilehrer ähnelt.
Erstmals sitzen Frauen im Refektorium. Es gibt Nudelsuppe, zwei Sorten von Würstchen, Bier in Flaschen. Patres aus anderen Klöstern sitzen unter uns. Es herrscht Feststimmung, oder, wie Pater Petrus in der Einleitung meinte: Der Tod eines Priesters sei immer auch ein fröhliches Ereignis.

Zum ersten Mal bin ich zum Essen knapp zu spät gekommen; seltsamerweise begannen die Brüder heute dreißig Sekunden früher als üblich mit dem Gebet. Werde künftig nicht mehr so knapp kalkulieren.

Pater Petrus lässt zu Mittag einen bemerkenswerten Satz fallen: „Der Mensch ist der furchtbarste Irrtum der Schöpfung.“ Lässt man die Möglichkeit beiseite, dass Petrus es ironisch gemeint hat, dann sagt er hier etwas, was im Widerspruch zu jeder christlichen Auffassung steht.
Petrus über Marienbildnisse: Eine Maria ohne Kind würde „irgendwie nackert“ aussehen; eine Maria mit gefalteten Händen ginge ja noch. Aber wenn die einfach nur dasitzt, „schaut das nix gleich.“ Interessant die männliche Perspektive auf die Flagship-Frau dieser Religion. Eine Maria ohne Kind und ohne Händefalten wäre entreligiosiert und auf ihre weiblichen Eigenschaften zurückgeworfen. Das erregt ästhetischen und praktischen Unmut.

Freitags servieren sie diesmal Fischlaibchen. „Des isch der erschte Fischmäc, den ma hier im Kloster essen“, sagt Pater Christoph. Ein Trubel entsteht, alle sprechen durcheinander. Es geht nicht nur um Fisch. „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt“, singt Frater Lukas beim Austeilen des Essens.

Frater Franz sagt im Gespräch: „Zum Teufel!“. Frater Lukas: „Jetzt hast den Namen des Teufels ausgesprochen – in einem Kloster. Das ist ganz schlecht. Jetzt musst schon sagen, dass du das nicht so gmeint hast.“ Frater Franz: „Also, Herr Teufel, ich wollt zu dir gar nicht ´zum Teufel´ sagen! Ich habs nicht so gemeint.“ Frater Lukas (mit Entsetzen): „Jetzt hat er sogar noch mit dem Teufel geredet!“

Frater Oliver erzählt, Pater Placidus (jener mit dem amputierten Fuß, der Bruder des verblichenen Pater Anselm) ginge es „gar nicht gut“. Ich mach mir Sorgen, dass auch Pater Placidus noch während meiner Stadtschreiber-Zeit ins Jenseits übergeht. Bin ich ihre Lainzer Todesschwester?

Frater Franz erzählt mir, er sei als „Spätberufener“ mit 27 in den Orden eingetreten. Vorher war er im Gastgewerbe. Nach einem „Gespräch mit einem Bibelforscher“ hätte ihn zunehmend der spirituelle Weg interessiert. Nach einiger Zeit bei den Franziskanern habe er daher das Noviziat gemacht. 10 Jahre lang war er Koch in einem anderen Kloster, doch „hier hab ich schon geschluckt, als ich die ganzen alten Mitbrüder gesehen habe“. Mönch zu werden sei die richtige Entscheidung gewesen. Seine Familie versteht sie bis heute nicht ganz.

Mittags wieder einige Sekunden zu spät. Sie haben nicht um 12.15 angefangen, sondern um 12.14. Werde noch früher erscheinen: 2 Minuten vor dem Termin.

Pater Petrus ist in der Sitzordnung aufgerückt! Er sitzt jetzt auf dem Platz am Tischende, direkt gegenüber vom Guardian. Er findet seinen ungewohnten Platz kaum. „Muass er si erscht dran gwöhnen“, sagt jemand.
Und auch sein dunkelgrünes Bestecketui hat eine neue Aufschrift: Nicht mehr „P. Petrus“, sondern „Pater Provinzial“!
Wein wird ausgeschenkt, wie sonst nur am Sonntag.
Später verkündet der Guardian, wie schade es sei, dass Pater Petrus uns für höhere Aufgaben verlassen würde. „Aber hier ist immer Platz für dich, in einigen Jahren, wenn du zurückkommen willst“, alle brechen in Gelächter aus, am lautesten der Guardian selbst. Das „zurückkommen“ bedeutet in diesem Zusammenhang offenbar: Alter und Pflege.

Nach dem Abendessen entdeckt Frater Franz im Refektorium eine Riesenspinne. Unter den Brüdern entsteht ein mittlerer Trubel. Keiner will dem Tier zu nahe kommen. „Nicht umbringen, das bringt Unglück.“ – „Raus muass sie aber schon.“
Meine große Stunde! Behutsam stülpe ich ein Glas über die Spinne. Ihre langen Beine passen gerade unter das Glas. Frater Kilian gibt mir einen Karton, ich trage sie hinaus.
Die Brüder sind erleichtert, man dankt mir.

Frater Kilian: „Heute Nacht ist wieder ein Pater gstorben.“ Gegen 3 Uhr früh ist Pater Placidus, wie sie sagen, „hinübergegangen“. Frater Oliver erzählt, zwischen 1 und 2 Uhr sei das Gesicht des Sterbenden „ganz schwarz“ geworden, am Ende sei er friedlich gestorben. Der Tod sei genau zwei Wochen nach dem Pater Anselms eingetreten.
„Jetzt bist du der älteste Kärntner Franziskaner in der Provinz, Franz!“ – Alle lachen.
Franz ist jedoch wirklich geschockt: „Schon unheimlich, wenn zwei Kärntner in so kurzer Zeit sterben.“

Das Begräbnis von Placidus gleicht jenem von Anselm fast aufs Haar, wie Popstars ziehen sich die Mönche zwischendurch um, zuerst sind sie violett, am Ende alle weiß gekleidet, außer dem Guardian mit Prachtmantel. Der Trick mit dem Weihrauch, der rund um den Sarg versprüht wird, funktioniert diesmal schlechter. Weniger Rauch.
Ich erkenne einen eindeutigen Fokus auf die Mutter des Propheten. Einer der wunderbaren, fast bedrohlichen Gesänge am Grab ist das mir schon bekannte „Ultima“. Er hat so ungefähr den Refrain „dass wir selig scheiden hin – Jungfrau Mutter Königin“. Zuerst wird der Text auf Latein gesungen, dann auf Deutsch. Er kreist um den Tod, die Melodie ist getragen, feierlich. Irgendwie rührend, auch schockierend, wenn erwachsene Männer, die, zumindest theoretisch, nie sexuelle Beziehungen führen, in inbrünstigem Gesang eine Frau anbeten.
Auch im Mittagsgebet ist Maria überrepräsentiert, sie wird unter anderem als „Heilige Gottesgebärerin“ angesprochen, was auf mich blasphemisch wirkt, wegen „Gottesanbeterin“.
Kaum reden sie von Maria, regt sich Mitleid in mir. Am liebsten würde ich die Mönche tätscheln: Das wird schon mit den Frauen!

Frater Franz verhält sich ungeschickt, er setzt z.B. mit dem Reden an, wenn das Gebet beginnen soll, fällt anderen versehentlich ins Wort, formt verlegen Sätze, die ins Nichts führen. Dauerthema ist der Vorwurf an den Pförtner, nicht in seiner Pforte zu sitzen. Würde Frater Franz jedoch dort sitzen, würde ihm Faulheit vorgeworfen. Alle „Beschuldigungen“ sind spaßartig vorgebracht, dennoch nicht lustig. Frater Franz ist der einzige wirklich hart Arbeitende. Manchmal verzichtet er aufs Essen, weil er noch herumzuräumen hat.
Leider glaubt Franz, allen anderen über seine Tätigkeiten Rechenschaft schuldig zu sein. Er agiert naiv ehrlich. Das Resultat: Kritik, Demütigung, Selbsterniedrigung.
Keiner springt Bruder Franz je bei, nur er selbst findet manchmal originelle Auswege aus dem Gelächter. Ich muss aufpassen, dass sich mein Mitleid nicht zu sehr auf Franz konzentriert. Es sollte eher Frater Lukas treffen, der darauf angewiesen ist, sein Selbstbewusstsein mit Hilfe des Schwächsten aufzupolieren.

Frater Franz erzählt, ein Bettler habe an der Pforte geklingelt und von ihm Wurst erhalten. Aber eigentlich sei die Armenküche oben bei den Nonnen. Die Nonnen hätten heute nur mehr Reis gehabt. Der Guardian: „Da siagstas, Franz, ich möchte ja nix sagen, aber wenn du immer so freundlich bist, dann kommen die dauernd.“ Franz: „Was soll i tuan. Er hat halt gfragt.“

Ich zeige den Brüdern die neue Währung: Eine neue 1-Euro-Münze und einen 10-Euro-Schein. Sie haben das noch nicht gesehen. Sie sind begeistert. Es kommt zu einer Balgerei zwischen Petrus und dem Guardian, der lautstark Witze macht: „Danke, ich nehm mas gleich mit“, etc. – Netter Anblick, wenn sie herumtollen.

„Bruder Franz, du hast die Damen ja lieber als den Guardian!“
Franz genießt den zweifelhaften Ruf, sich allzu gerne mit Frauen zu unterhalten, sie nennen sie „Weiberleut“ oder „Damen“, wobei ich an die Toilette denken muss.
Der angegriffene Frater antwortet überraschend: „Das stimmt schon, da bin ich ehrlich.“ – Entsetzen und Gelächter unter den Brüdern. Franz: „Ist eh wahr. Aber es heißt nicht, dass das, was man lieb hat, einem auch guat tuat.“ Der Guardian: „Und da hascht gar nicht an mi dacht?“ Franz, simpel und charismatisch: „An dich hab ich als letztes dacht!“
Unterdrücktes Gejohle.
Ich weiß nicht, wieso mir immer vorkommt, dass Franz jener ist, der den Idealen des heiligen Franziskus am nächsten kommt. Wenn einer der Brüder irgendwann einmal heilig oder zumindest selig wird, dann Frater Franz.

Meine letzte Woche im Kloster. Noch einmal konzentriere ich mich, um während dem Beten ihre Gefühle und Gedanken zu erraten. Aber sie sind einfach Profis.

Frater Bertrand feiert Geburtstag – schon beim Frühstück bekam er ein Tischtücherl unter seinen Teller. Wir stoßen mit Wein an. Der Guardian überreicht ein Geschenk. Plötzlich, total überraschend, stimmen die Brüder „Ultima“ an, jenes Lied, das bei Todestagen und offenen Gräbern zum Einsatz kommt.
Pater Petrus muss meine Verstörung bemerkt haben. Er nimmt mich beiseite und erklärt, dass es ein Brauch der Franziskaner sei, mitten unter einem fröhlichen Fest innezuhalten und dieses „Ultima“ zu singen. Beim Feiern hält man sich den bevorstehenden Tod vor Augen.
Petrus zeigt mir auch den Spruch „Certa sed ignotus“, eine Inschrift auf der Uhr im Refektorium, die ich zwar verstanden hatte, aber nie so recht interpretieren konnte. „Sicher, aber unbekannt“, der Spruch bezieht sich auf die Todesstunde, könnte laut Petrus aber auch bedeuten, dass die Uhr todsicher falsch gehe.

Heute fährt Zvonimir zurück nach Zagreb. Er hat es geschafft, während seinem gesamten Aufenthalt zu jedem Essen im gleichen Pullover zu erscheinen – dunkelrot mit einem verwaschenen Muster.
Der Guardian trägt (ich weiß nicht, ob wegen Zvonimirs bevorstehendem Abschied oder wegen dem sich nähernden Weihnachtsfest) einige Zeilen aus einem Buch vor. Dann bedankt er sich bei Zvonimir für dessen Arbeit und wünscht ihm eine gute Reise, „aber die kann eh nur guat werden, weil sie durch den Pinzgau geht. Dort bin ich geboren!“

Guardian: „Franz, an welchem Tag ist Serviettenwechsel?“ (Die Stoffservietten in den Etuis werden einmal pro Woche gewechselt.) Franz: „Am Samstag.“ Guardian: „Und welcher Tag ist heute, Franz?“ Franz: „Heute ist Samstag, Guardian.“ Guardian: „Und wann werden die Servietten gewechselt?“ Franz: „Am Samstag.“ Danach betretene Stille. Daraufhin Lukas, zu Franz gewandt: „Das ist ja unglaublich, wie unhöflich du zum Guardian bist. Das klingt ja, als würdest du dich lustig machen über ihn. Samstag, Samstag! Sag halt gleich, du hast es vergessen und tu nicht so blöd.“
Der Guardian weist nicht etwa Lukas zurecht, wegen dieser Anmaßung. Bruder Franz ist zu schwach für eine Antwort. Er steht auf und holt die Servietten.
Diesmal bin ich nahe daran, Bruder Lukas zurechtzuweisen: Das Aufpolieren des eigenen Selbstbewusstseins auf Kosten des Schwächsten der Gruppe ist eine beschämende Strategie, lieber Lukas.
Nach dem Essen sage ich zu Franz: „Heute Abend ist mein letztes Essen.“
„Letztes Abendmahl“, antwortet Franz und lächelt.

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Martin Amanshauser, geb. 1968 in Salzburg, Autor und Übersetzer aus dem Amerikanischen und Portugiesischen, journalistische Arbeiten (Profil, Der Standard, Die Presse, Die Zeit, Die Welt, Süddeutsche Zeitung), Preise u.a.: Georg-Trakl-Förderungspreis für Lyrik 1992, Max von der Grün-Förderungspreis 1998, Rauriser Förderungspreis 2011, Sonderpreis beim Feldkircher Lyrikpreis 2013. Bücher, u.a.: Im Magen einer kranken Hyäne, 1997, Erdnussbutter, 1998, NIL, 2001, 100.000 verkaufte Exemplare 2002, Chicken Christl 2004, Alles klappt nie 2005, Logbuch Welt 2008, Viel Genuss für wenig Geld 2009, Das Rogner Bad Blumau 2013, Falsch Reisen 2014, Der Fisch in der Streichholzschachtel 2015, Typisch Reisen 2016, Die Amerikafalle oder: Wie ich lernte, die Weltmacht zu lieben, 2018, Es ist unangenehm im Sonnensystem 2019.

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Hier und Heute. 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. 100 Wochen lang, jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.