Denkweisen und Todesarten

Journal des Scheiterns: Marjana Gaponenko und Tanja Maljartschuk im Gespräch mit Martin Prinz und Stefan Gmünder

Online seit: 15. August 2022
„Man sucht sich seine Wirklichkeit nicht bei Amazon aus“: Marjana Gaponenko (links) und Tanja Maljartschuk. Foto: Pavel Cuzuioc

In der Veranstaltungsreihe „Journal des Scheiterns“ diskutieren jeweils zwei Gäste über ihre Arbeit, den Umgang mit Schwierigkeiten und vor allem deren Überwindung. Am 9. Juni trafen sich Marjana Gaponenko und Tanja Maljartschuk zum Gespräch im Hotel Payerbacherhof. Das Video des von Martin Prinz und Stefan Gmünder moderierten und von Pavel Cuzuioc gefilmten Gesprächs ist auf der VOLLTEXT-Homepage sowie auf Youtube verfügbar.

STEFAN GMÜNDER Frau Gaponenko sagte in einem Interview, man könne gar nicht früh genug scheitern. In Teilen ihres vorletzten Romans Das letzte Rennen (2016) ging es ebenso um das Scheitern wie in Tanja Maljartschuks Blauwal der Erinnerung (2019). Es geht in diesen Büchern um das Scheitern der Liebe, das Scheitern der Träume, das Scheitern am Leben oder an der Geschichte – was interessiert Sie beide an diesem Thema?

TANJA MALJARTSCHUK Ich glaube, Scheitern ist das Schönste, das man im Leben machen kann. Ich mag die Geschichten von Helden und Gewinnern nicht. Nur die, die scheitern, sind für mich wirklich interessant. Scheitern ist das, was wir auf dieser Erde alle machen. Wir scheitern alle, indem wir sterben.

GMÜNDER Auch aus diesem Grund kann man also gar nicht früh genug damit beginnen, Frau Gaponenko?

MARJANA GAPONENKO Ja, das Scheitern ist keine schöne Erfahrung, aber es ist ein gutes Zeichen dafür, dass man frei ist. Multiples Scheitern spricht für eine freie Persönlichkeit, die ihr Leben in der Hand hat, die es versucht und bittere Früchte erntet, aber trotzdem noch die Hoffnung auf die süße, schöne Birne hat. Leider sind es Eltern oder andere wichtige Persönlichkeiten in unserem Leben, die uns unbewusst zum Scheitern animieren oder uns programmieren, indem sie uns aus falsch verstandener Liebe und Fürsorge sagen: „Tu das nicht, fass das nicht an, lauf nicht so weit weg, klettere nicht auf den Baum …“

MARTIN PRINZ „Tu das nicht!“, das könnte wahrscheinlich auch ein wohlmeinender Rat von außen im Hinblick auf den Beruf von Ihnen beiden gewesen sein: „Werde nur keine Schriftstellerin, das ist brotlos, das bringt nichts.“

GAPONENKO Also ich gehöre leider zu den Menschen, die einiges aus Trotz machen. Wenn mir jemand, den ich für wichtig halte, sagt: „Tu das nicht!“, mache ich genau das Gegenteil! Ich wollte immer meine eigenen Fehler machen dürfen.

Wie soll man jetzt eine Geschichte schreiben? Um einen Roman zu schreiben, muss man an die Zukunft glauben. Mit diesem Glauben habe ich Probleme.

MALJARTSCHUK In meiner Familie haben sie immer noch nicht begriffen, dass ich eine Schriftstellerin geworden bin. Ich habe Ukrainistik studiert, ich sollte also eine ukrainische Lehrerin werden, dann wurde ich Journalistin, das war nicht weit weg. Ich habe so viele Jahre in diesem Beruf gearbeitet, um sagen zu können, dass es der Journalismus ist, an dem ich gescheitert bin. Gott sei Dank bin ich raus aus diesem Beruf. Das ist eine Maschinerie gewesen, der Fernsehjournalismus, investigativer Journalismus, das war gleich nach der Orangen Revolution, zu einem Zeitpunkt, als die Journalisten vieles durften und das System trotzdem blieb, wie es vorher war. Und alle diese verlogenen Minister und Politiker, mit denen ich immer zu tun hatte, das war extrem erschöpfend.

GMÜNDER Das Problem beim Scheitern ist, dass man es irgendwie aushalten muss.

MALJARTSCHUK Ja, das ist schwer. Vor allem, weil ich immer eine Ehrgeizige war. Ich habe Gedichte geschrieben, als ich sechs Jahre alt war. Mich trieb immer an, dass ich etwas aus meinem Leben machen muss. Ich war die Beste in der Schule, dann an der Universität, aber irgendwann kommt das Verstehen, dass das eigentlich sinnlos war, irgendwann fallen alle diese Illusionen in sich zusammen. Man muss das einmal erleben. Ich habe es hoffentlich hinter mir, den Sinn des Ganzen nicht mehr zu sehen, es war knapp. Und dann kam die Pandemie – ein nächstes Scheitern. Und dann kam der 24. Februar 2022, eine neue Katastrophe. Gott sei Dank hatte ich zu dem Zeitpunkt meine eigene private Katastrophe schon hinter mir, ansonsten wäre ich an diesem Tag gestorben.

GMÜNDER Ist am 24. Februar 2022 nicht auch eine Hoffnung gescheitert, dass man mit normalen Mitteln zu einer Lösung kommen könnte?

MALJARTSCHUK Aber hier scheitern nicht wir, sondern die Welt ist gescheitert. Also ich oder wir können nichts dafür, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist. Doch – und das war immer so mit der Ukraine – wir als die Gescheiterten müssen jetzt mit der Welt, die mindestens ebenso gescheitert ist, verhandeln.

PRINZ Sie beide haben in den letzten Monaten mehrmals gesagt, dass der Krieg das Schreiben und Erzählen von Geschichten unmöglich macht. Was bedeutet dieser Befund für Sie beide?

GAPONENKO Das war am Anfang. Inzwischen habe ich viele Posts über den Krieg geschrieben. Ich halte sie nicht für literarisch hochwertig, es ist nicht die Art Literatur, die mein Herz wärmt. Aber ich glaube, es ist wichtig, nicht aufzuhören und seinem Handwerk auch in dieser schwierigen Zeit treu zu bleiben und zu dokumentieren, was ich an dem und dem Tag empfunden habe, wo ich gestanden bin. – An meinem Romanprojekt aber kann ich nicht weiterarbeiten, weil die Geschichte, die ich schreiben wollte, eine Dystopie war: die Geschichte eines dystopischen, surrealen Russlands. Das heißt, die Geschichte, die sich jetzt abspielt, hat mir einen Streich gespielt, ich kann nicht mehr ernsthaft über das schreiben, was jetzt unsere Wirklichkeit ist, das ist mein Drama.

GMÜNDER Tanja Maljartschuk, Sie haben gesagt, die Metapher sei tot.

MALJARTSCHUK Ja, und das Erzählen ist tot. Ich schreibe zwar immer noch Texte für die Medien über den Krieg oder über Kulturvermittlung in Zeiten des Krieges. Aber wie kann man erzählen in dieser Zeit – und worüber kann man erzählen? Über den Tod? Über Vergewaltigung? Über das Überleben? Wie soll man jetzt eine Geschichte schreiben? Um einen Roman zu schreiben, muss man an die Zukunft glauben. Mit diesem Glauben habe ich Probleme. Aber es ist sicherlich wichtig, den Moment zu verstehen, ihn in Worte zu fassen. Wer das wirklich kann, ist der Historiker Timothy Snyder. Er schreibt momentan Texte, die enorm aktuell sind, er legt einen Finger in die Wunde, er ist da. Während ich oft mehrere Tage aus der Realität falle, weil diese Realität so enorm schrecklich ist.

PRINZ Können Sie sich ein Schreiben vorstellen, das mit diesem Scheitern operiert? Mit der Unmöglichkeit der Metapher und des Romans?

MALJARTSCHUK Ich habe keine Ahnung, wohin das alles führt. Am Anfang des Krieges dachte ich, dass ich nicht mehr schreiben werde, dass es den Sinn von all dem nicht mehr gibt, wenn so ein Krieg in dieser Welt noch sein kann, so brutal, so altmodisch mit diesen Panzern, Soldaten, Raketen. Wenn das so noch möglich ist, dann will ich in dieser Welt nicht sein, nicht schreiben – und diese Welt nicht beschreiben. Ich war zerrissen von den Emotionen, und von Wut. Der Text, den Sie zur Metapher zitiert haben, hatte ursprünglich den Titel „Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann“ – dazu wurde ich eigentlich von einer Journalistin gezwungen, die keine Ruhe gab und zu mir sagte: „Sie müssen schreiben, das ist Ihr Job, macht euren Job einfach!“ Dann dachte ich mir, okay … (zu Marjana Gaponenko:) Wie ist das für dich?

GAPONENKO Ich finde, es ist wichtig, den Verlust zu betrauern – aber diese Zeit, ich muss sagen, ich genieße sie sogar, trotz meines Schmerzes, das ist eine einmalige Chance in meinem Leben, ich habe diese Fülle an Emotionen noch nie auf so eine Art und Weise empfunden, und ich bin gerade dabei, diese Zäsur überhaupt zu akzeptieren. Ich weiß, ich werde natürlich weiter Romane schreiben, aber momentan bin ich noch am Beobachten. Und am Trauern, der Prozess des Abschiednehmens von meiner Illusion und von der Welt und von einem Zusammenleben mit einem „guten Nachbarn“ ist noch nicht abgeschlossen. Das ist auch mein persönliches Unglück, dass ich es erfahren musste in diesem Leben, aber einerseits ist es vielleicht auch ein Glück: Es ist nicht jedem gegeben, zwischen den Zeiten zu leben – oder zu sterben, den Toten bringt es nichts, aber den Lebenden bringt es auf jeden Fall eine Erfahrung. Gleichzeitig fühlt es sich für mich obszön an, sich überhaupt Gedanken zu machen, wie diese Welt von morgen aussehen kann. Ich meine, bei uns wird gekämpft, bei uns wird geschossen, bei uns sterben Menschen. Solange dem so ist, will ich mich auch nicht damit beschäftigen, warum das so gekommen ist oder wie die Zukunft mit Russland aussehen soll, wie wir zusammenleben sollen, das ist das Allerletzte, was mich interessiert, ehrlich gesagt.

GMÜNDER Das haben Sie auch in einem TV-Interview unlängst sehr deutlich gemacht, dass es derzeit nichts zu verhandeln gibt …

GAPONENKO Was will man denn in so einem Kompromiss verhandeln? Worüber will man mit einem Mörder reden? Mit einem Gaddafi im Grunde genommen? Was ist überhaupt der Sinn dieser Verhandlungen? Geht es nur darum, diplomatische Fäden irgendwie in der Hand zu halten? Die sollte man jetzt schon langsam freiwillig abschneiden, denn das ist eine Diktatur und eine Regierung, die befohlen hat, die Ukraine auszulöschen. Man soll einfach schauen, dass man die Ukraine so weit wie möglich mit allen Mitteln unterstützt – und an Verhandlungen als Letztes denken. Man kann einen Frieden verhandeln, nachdem Putin kapituliert hat. Gerne, ich komm auch gerne dazu und mache ein Foto. Das ist die einzige Art von Verhandlung, die ich mir vorstellen kann. Aber alle Verhandlungen davor, was erwartet man sich im Westen davon? Das ist mir schleierhaft. Vielleicht aber ist es die Hoffnung, dass dieser Putin und dieses Russland doch nicht so böse sind, das scheint mir naiv, aber ich weiß es nicht. Was glaubst du (zu Tanja Maljartschuk)?

Ich bin keine Philosophin, ich bin auch keine Intellektuelle. Es ist nur mein Versuch zu verstehen, was passiert.

MALJARTSCHUK Vor Kurzem hat Serhij Zhadan in einem Interview einen treffenden Satz gesagt: „Ich habe das Gefühl, dass die im Westen noch immer glauben, dass wir uns irgendwie doch versöhnen, dass das, was passierte, schlimm war, aber am Ende versöhnen wir uns doch und dann sind alle glücklich.“ – Als wären wir zwei kleine Kinder, die miteinander streiten. Wenn man jetzt im Westen von Verhandeln, Kapitulieren usw. spricht, sagt das über den Westen viel mehr als über die Ukraine. Und es sagt viel über die Angst. Hier in Österreich etwa hatte man eigentlich nur Glück, dass nicht zumindest ein Teil des Landes in den 1950er-Jahren zum Ostblock kam. Dann würden wir hier in diesem Moment nicht so schön sitzen. Die Angst vor Russland ist im Westen natürlich groß, man spricht hier aber nicht über diese Angst. Man versucht, sie zu intellektualisieren, und so wird dann über Pazifismus gesprochen. Man versucht, sich hinter solchen schönen intellektuellen Konstrukten zu verstecken, es gibt im deutschsprachigen Raum überhaupt eine lange Tradition, „schön“ zu formulieren … Ich bin aber keine Philosophin, ich bin auch keine Intellektuelle. Es ist nur mein Versuch zu verstehen, was passiert. Wenn österreichische Schriftsteller am Anfang des Krieges schreiben, es sei besser, sich aufzugeben, als zu sterben, frage ich mich, was sich hinter einem solchen Ratschlag wirklich verbirgt. Die Angst, irgendwann selbst in den Krieg ziehen zu müssen? Für Ukrainer steht die Entscheidung fest, sie verteidigen sich, weil sie genau wissen, dass Aufgeben denselben Tod bedeutet, nur in einer anderen Art und Weise. Vielleicht erfährt man darüber nichts, vielleicht erfährt man über all die KZs und Massengräber und Massendeportationen, die jetzt schon stattfinden, erst in zwanzig Jahren. Es gibt keine Besänftigung dieser Angst, auch im Westen nicht. Man muss sie überwinden. In der Ukraine hat man das schon getan. Ich glaube, ich selbst auch. Denn was ist diese Angst? Das ist die Angst vor dem eigenen Tod.

GMÜNDER Und vor dem Verlust von Sicherheit.

MALJARTSCHUK Aber Verlust von Sicherheit, das ist auch eine Todesangst im Endeffekt. Doch man lebt hier im Westen, als wäre der Tod überhaupt nicht da, als würde man eh nicht leben …

GMÜNDER Wir haben erst im Zug der Coronapandemie festgestellt, dass wir alle sterben werden …

MALJARTSCHUK (lacht) Sowieso. Aber diese Ängste vor dem Tod sorgen nur dafür, dass wir nicht bereit sind zu kämpfen … Ich habe vor Kurzem in Deutschland mit einem jungen Mann gesprochen und dann, irgendwann gegen Mitternacht, habe ich ihn gefragt: Bist du überhaupt irgendwann bereit, in die Armee zu gehen und vielleicht in den Krieg zu ziehen? Und er hat mich angeschaut, als wäre ich vollkommen verrückt! Aber ist diese Frage tatsächlich so verrückt? Man kann im Moment nichts ausschließen. Die Ukraine, indem sie sich verteidigt, gibt uns die Zeit, alle Möglichkeiten zu besprechen. Aber man spricht lieber über den Pazifismus oder darüber, ob es richtig oder falsch sei, die große russische Kultur zu boykottieren, weil man Angst hat. Man kann auch nicht hier leben, als wäre nur irgendwo in der Ukraine dieser Krieg … Man muss jetzt aber über alle Möglichkeiten sprechen! Aber man spricht nicht darüber, weil man Angst hat.

PRINZ Oder eben, wie Ilse Aichinger es nennen würde, nur in den besseren Wörtern – wobei, für mich dreht sich beim zweiten Hinschauen auch einiges um. Wenn es etwa heißt, die Ukraine verteidige jetzt die westlichen Werte. Das klingt auf den ersten Blick zumindest anerkennend, auf den zweiten Blick stellt sich aber die Frage: Ist es nicht so, dass die Werte des Westens eigentlich an der Tatsache, wie man sich verhält, zerschellen? Man schaut zu, tut nur das Notwendigste und schützt im Prinzip vor allem die eigene Marktwirtschaft. Insofern demaskiert dieser Krieg nicht ohnedies einige der hehren Werte des Westens, wofür die anderen angeblich kämpfen?

GAPONENKO Ich glaube, es geht nicht darum, ob der Westen vielleicht an seinen eigenen Werten zerbricht, sondern darum, dass er den eigenen Werten gar nicht gewachsen ist, oder gewachsen sein möchte, weil es zu anstrengend ist. Wenn diese wenigen österreichischen Kollegen, die ich nicht erwähnen möchte, der Ukraine empfehlen, sich zu ergeben, frage ich mich, woher kommt diese Denkkultur? Ich versuche es mal ein bisschen klarer zu sehen und mich auf den Menschen zu fokussieren, nicht auf das Land, und mir vorzustellen, wie ist dieses Kind aufgewachsen? Was hat es für Eltern gehabt? Was hat es für einen Vater gehabt? Was wurde ihm damals gesagt? Bloß nicht zu laut werden, weil dann scheppert es richtig, weil dann der Vater kommt – keine Ahnung, mit dem Besen? Die Angst ist menschlich, sehr menschlich, die Angst nämlich, dass der große, übermächtige Vater es doch ernst gemeint hat. Aber für die Ukraine gibt es da keinen hypothetischen starken Vater, da ist ein Psychopath vor der Tür, der mit der Axt dasteht und versucht, dir den Schädel einzuschlagen! Du bist da und du hast keine Zeit, dir zu überlegen, habe ich mich vielleicht getäuscht? Ist er betrunken und ich kann ihn vielleicht überreden? Und dann bring ich ihn einfach ins Bett und morgen sieht die Welt anders aus. Dafür hat die Ukraine keine Zeit. Man sucht sich seine Wirklichkeit nicht bei Amazon aus. Die wird einem einfach in den Rachen geschoben. Sorry, dass ich es so formuliere, wenn man Pech hat, schmeckt sie bitter. Aber man muss sie verdauen, man muss Zähne haben. Man muss sie zerbeißen und verdauen und dann ist man entweder tot, vergiftet oder man ist stark, man ist gewachsen, man ist ein Riese. Und ich hoffe, wir werden zu Riesen, wenn wir dieses kränkliche – ich will keine falschen Ausdrücke benützen –, dieses kränkelnde, zum Teil übergeschnappte Russland einfach niederschlagen und vertreiben aus unserem Land. Wenn ich mich verletze, einen Dorn im Finger habe, versucht der Körper, diesen Dorn auszustoßen, und dann blutet man.

MALJARTSCHUK Bei dir sind die Me­taphern noch nicht tot.

GAPONENKO Sind nicht tot?

MALJARTSCHUK Du kannst das noch sehr gut!

GAPONENKO (lächelt) Also ich sehe das so, dass die Ukraine ein gesunder Körper ist, ein zorniger, starker, blutender Körper, wir sind stark, wir sind besser, weil wir auf der Seite der Wahrheit stehen. Wir waren alle vorbereitet, du ja auch, wir haben monatelang alles verfolgt, die haben sich schon im Mai oder April aufgebaut an der Grenze. Da wurde mir das klar. Acht Jahre Krieg, das war eine Vorbereitung auf die Fortsetzung …

MALJARTSCHUK … da dieser hybride Krieg seit 2014 gescheitert ist. Deswegen mussten dann andere Mittel eingesetzt werden, deswegen musste diese große Gewalt jetzt kommen. Denn das Land als Ganzes war bereits verloren für Russland. Jetzt ist es nur eine Eroberung von Gebieten. Sie brauchen nicht einmal die Bevölkerung, sie erobern einfach nur zerstörte Gebiete. (Pause) Aber ich will doch noch die Anwältin des Westens spielen, ich glaube, der Westen hat schon genug zu verteidigen. Man kann jetzt auch nicht alle und alles in einen Topf werfen.

PRINZ Wie meinen Sie das?

MALJARTSCHUK Was der Westen nicht versteht, ist, dass es hier deswegen so gut ist, weil es irgendwo in der Welt nicht so gut ist. Dieser Krieg ist auch eine Folge von diesem schönen Leben hier. Deshalb muss man, um das endlich zu stoppen, die Verantwortung übernehmen und bereit sein, Opfer zu bringen, wenn so ein brutaler Krieg mitten in Europa herrscht. Man muss Opfer bringen, man muss handeln und die Verantwortung, die man hat, verstehen. Aber wie eine andere Kollegin vor Kurzem geschrieben hat, irgendwie scheint hier alles wertvoller zu sein als die Leben in der Ukraine. Dieser Satz ist brutal traurig. Im Moment sterben pro Tag Hunderte Menschen in der Ukraine, allein Soldaten … Manchmal habe ich den Verdacht, dass man im Westen versucht, das Gleiche zu machen wie 1945. Okay, wir geben diesem hungrigen Monster das, was es will, und dann haben wir für einige Jahrzehnte Ruhe … 1945 hat es funktioniert, weil die Sowjetunion sehr geschwächt war.

Ich glaube, es geht nicht darum, ob der Westen an seinen eigenen Werten zerbricht, sondern darum, dass er den eigenen Werten gar nicht gewachsen ist.

GMÜNDER Sie sind beide für einige Jahre in der Sowjetunion aufgewachsen. Hätte mit der Zeitenwende 1989 bzw. ’91 die historische Chance bestanden, dass es anders hätte kommen können, oder ist das eine Illusion?

GAPONENKO Ich spüre es deutlich, dass die Sowjetunion nicht tot ist. Ich habe als Kind die Sowjetunion erlebt, die man heutzutage unter älteren Menschen als nostalgische, schöne Zeit empfindet, ich kann nicht sagen, dass mich diese Zeit geprägt hat. Aber ich weiß, sie war für Erwachsene alles andere als gut, weil die fehlende Freiheit und die Unmöglichkeit, zu reisen, die Welt zu sehen, sich zu behaupten, im Wettbewerb zu stehen und sich auszutauschen, alles andere als gut waren. Wir erleben gerade, was in Russland passiert, wenn es sich abschottet. Das ist wirklich Nordkorea 2.0 – vielleicht noch krasser, aber es ist nicht unser Bier, solange wir nicht wie Russland sind. Ich kann nur beten und hoffen, dass unsere Streitkräfte ihnen diese Gebiete nicht überlassen, dass zurückerobert wird, was jetzt unter russischer Besatzung ist und das Land intakt bleibt und wir vor allem keine faulen Kompromisse eingehen, denn ich möchte nicht mit meinem ukrainischen Pass mein Leben irgendwo im Westen verbringen und nicht mehr nach Hause fahren dürfen.

MALJARTSCHUK Das ist meine größte Angst, dass die Ukraine jetzt ein Teil Russlands ist und ich dann nie einreisen dürfte. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie es den Menschen in Zeiten des Eisernen Vorhangs ging. – Aber zu der Frage, ob es anders kommen hätte können: Ich glaube, dass es nicht möglich war, und ich bedauere sehr, dass ich und meine Landsleute sehr naiv waren und nicht verstanden haben, dass es irgendwann zu einem Krieg kommt. Entweder werden wir verschluckt vom russischen Imperium oder wir kämpfen für die Freiheit. Existieren kann die Ukraine nur als Teil Europas.

GMÜNDER Das heißt, sie würde sonst von Russland aufgesogen?

MALJARTSCHUK Natürlich. Ich glaube, dass alles, was jetzt passiert, noch immer eine Folge des Zweiten Weltkriegs ist. In Europa gab es zu dieser Zeit zwei Diktaturen, Nazideutschland und die Sowjetunion. Und die Sowjetunion ist aus diesem Krieg als Sieger hervorgegangen …

GMÜNDER Oder als eine der Siegermächte …

MALJARTSCHUK Russland schreibt den Sieg nur sich zu. Jedenfalls hat man diese Diktatur nie für ihre Gräueltaten bestraft, und es wurde in Russland auch nie verarbeitet. Dass etwa das Menschenrechtszentrum „Memorial International“, das so viele Massenverbrechen in der Sowjetunion aufgearbeitet bzw. entdeckt hat, kurz vor dem Krieg verboten wurde, ist für mich sehr symbolisch. Genau diese Organisation musste noch verboten werden – und dann fing der Krieg an. Diese Diktatur ist in anderer Form geblieben, sie ist nicht bestraft worden, deswegen war klar, dass sich irgendwann das wahre Gesicht wieder zeigt.

PRINZ Die Frage, die ich mir stelle, ist, welche Aufgabe hat hier die Literatur? Also nicht das große Erzählen und nicht die schöne Metapher, nicht die geglückten runden Romane, sondern die Literatur in ihrer existenziellen Funktion, die großen Wörter zu zerlegen?

Entweder wir werden verschluckt vom russischen Imperium oder wir kämpfen für die Freiheit. Existieren kann die Ukraine nur als Teil Europas.

GAPONENKO Ich sehe das ganz klar, die Ukrainer haben es erkannt. Diese Sprache, die die russische Seele berührt, diese Narrative wie „Entnazifizieren“, „ukrainische Nazis“, das haben die Ukrainerinnen und Ukrainer früh genug erkannt und angefangen, gegenzusteuern, indem sie der Presse genau aus dieser manipulativen Ecke ähnlich starke Begriffe angeboten haben. Ich habe bemerkt, dass Frau von der Leyen ganz früh „Diktator Putin“ gesagt hat – und ich glaube,