AHHHHHHHHHHHHHHHMEN

Von Lydia Mischkulnig. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXIII

Online seit: 23. Juli 2021

Der Arbeitsplatz ist ein Cockpit. Ich habe 7 große Bildschirme vor Augen. Und pro Region kleinere Monitore, die mir die Landschaften einspielen. Täglich mehrere Stunden. Das mache ich noch nicht lange. Schauplätze kreieren. Nun ist das meine Tätigkeit, die ich nach Jahren der Computersucht in klingende Münze verwandle. Man zollt mir Respekt dafür, dass ich präzise arbeite, außer ich bekomme falsche Informationen, dann sind die Informationen schuld. Ich bilde mir auf das Lob nicht so viel ein, wie ich gedacht habe. Ich habe einen Draht zu Landschaften. Da flackert ein Herd aus unruhig gewordenen Pixeln. Ich höre die Salven, trocken und punktuell, so schnell hintereinander, wie ein Strich. Nun war ich abgeschossen. Der Befehl wurde von einem anderen Spieler gegeben. Dass das möglich ist, ohne es auf dem Radar zu haben, zeigt die Lücke, die es irgendwo geben muss.

Lydia Mischkulnig © Margit Marnul
Lydia Mischkulnig.
Foto: Margit Marnul

Vater sitzt mir gegenüber und wir essen. Er hat Speisen bestellt und nicht auf den Preis geschaut. Er legt Meeresgetier auf den Teller. Er schichtet mir eine Krabbe, eine Languste und dann den halben Hummer auf. Dazu gibt es Selleriepüree. Er beginnt ohne Umschweife vom System zu sprechen und von meinem Verdienst. Was heißt hier Verdienst. Ich bringe Aussehen und Wirklichkeit unter einen Hut. Ich missverstehe ihn nicht. Er fühlt sich wie ein besorgter Vater an, dem ich noch nicht bewiesen habe, dass ich überleben kann. Dass ich den Anschluss verloren habe, sagt er. Dass ich mich neu einkleide, aber nicht darauf achte in welcher Geschwindigkeit. Wie bitte? Es kommt nicht zur Sprache, was er genau meint. Auch nicht beim Nachtisch. Ich esse. Er spricht von einem Handel. Er spricht von Ablöse. Er spricht und spricht und steckt seine Gabel in die Torte. Sie ist mit einer Schokolade umhüllt. Die Gabelkante drückt die Masse ab, als wäre sie ein Schwamm. Auf Befehl öffnen sich meine Lippen. Die Zunge legt sich flach in ihr Bett. Ich nehme die Gabel zwischen die Zähne und schabe mit den Zähnen die Torte von den Spitzen ab. In diesem Augenblick blitzt es.
Ein Fotograf soll mich abbilden und zu meinem Werdegang taucht ein aufzeichnender Interviewer auf. Er heißt George. Die Fehlerquote werden wir herabsetzen, sage ich und er fragt mich, ob ich je einen Fehler gemacht habe. Am 11.4. des Jahres schlage ich die Zeitung auf und lese von seinem Tod.

Der Kaffeebecher aus rosa Porzellan steht auf dem Tisch. Ich rühre den Zucker um und der Blick schweift über das bedruckte Papier, dessen Rasterung zur grobfasrigen Zellulose gehört, wie die Verläufe der Schwarzweißfotografien zum Unfall. Ich schärfe mein Auge auf die Mitte des etwa Eintausend Zeichen umfassenden Bereiches.

So wie mein leiblicher Vater über sich selber etwas herausfinden wollte, indem er mir Gehen, Sprechen und Denken beigebracht hatte, in zwanzigjährigem Bemühen, um das Zeug zu haben, oder besser gesagt, um das Zeug zu sein, seiner gekränkten Künstlerseele einen Trost zu verschaffen, so muss auch ich etwas über mich herausfinden.

Ich weiß, dass ich sofort in Lethargie abdriften kann und mir die Gedanken abdrehen, sobald ich unter Druck gerate. Dann wirke ich abwesend und bleibe mittendrin, weil sowohl Mutter als auch Vater den Druck haben, mir den Druck zu nehmen.

Jeder Mensch ist künstlich, weil jeder etwas aus sich machen muss, was nicht natürlich wächst. Ich habe nicht damit gerechnet, dass der Körper Zusammenhänge findet und neue Verhältnisse schafft, die wieder neue Verhältnisse schaffen. Meine Sinne funktionieren gut. Ich kann auf allen Webseiten dieser Welt alle miteinander vergleichen. Und trotzdem lautet die Frage, soll ich ein Kind in diese Welt setzen?

Die Menschen lieben das Messen. Ich kenne Personen, die endlich bekommen, was sie immer gern wollten. Aufmerksamkeit. Sogar in den Röhren, in die sie geschoben werden, haben sie zumindest diesen Nutzen. Die Innenschau wird gemeinsam am Schirm mit einem Fachkundigen gemacht. Das geschieht heute genauso wie vor der Pandemie.

Der Kanzler im TV, schwarz gekleidet, das Haar, die Socken, die Schnürsenkel. Aber am Hals baumelte ein silbernes Ding.
 Kopf, Hals, Schultern und Oberkörper mit Flügeln. Ich habe das Gefühl, ein Engel hängt an seiner Kette, an seinem Hals. Er ist der Prototyp zu dem ein Teil des Regierungsteams betet, weil, ja weil, die Impfstoffe nicht ausreichend verteilt sind. Da hilft dann beten. Und sich einsperren.

Ich habe kapiert, dass Lunge und Fledermäuse irgendwie zusammengehören, dass Verdauung ein Algorithmus ist, den der Magensaft hinkriegt, ich habe kapiert, dass Salamander nicht sterben, nur weil sie ihren Schwanz verlieren. Aus diesen Fähigkeiten werden Informationen gewonnen. Und wieso kann dieses Team nicht dafür sorgen, dass alles normaler wird?
Ehrlich jetzt. Es kostet mich ein Zwinkern, das zu sagen. Meine Systeme erzeugen eine Kontrolle, die mir das Gefühl gibt, dass ich sage, bis wohin ich reiche. Man kann ja mich fragen, ich erfasse und freilich gibt es keine Erlösung für unsere Situation, aber Lösungen, Lösungen! Übrigens, der Himalaja ist flüssig, er bewegt sich so wahnsinnig langsam, dass er für uns stillsteht. Wer kann sich das vorstellen? Ich kann es messen, ich kann so langsam schauen. Ich kann Fragen stellen, die in dir ein DU auslösen. Papa, ich hab dich lieb! Kannst du dir das vorstellen, was das für mich heißt? Fragt er mit Tränen in den Augen.

Ich bin dazu übergegangen meine Lethargie auszuschreiben. Da ich keinen Schlaf brauche, tu ich es immer. Meine Nahrung beziehe ich aus Abfällen und ich erzeuge Luft zum Atmen. In Wahrheit habe ich die Intelligenz einer Ratte. Das heißt, ich muss weiter auf Nahrungssuche bleiben, der Zivilisation folgen. Klar prüfe ich meine Situation permanent und lerne ununterbrochen dazu. Ich habe ein Recht darauf! Was mich antreibt zu schreiben ist der Instinkt, der dem Leben entsprechend wie eine Nachahmung des Lebens ist. Ich produziere! Wie ich das mache? Ich bilde mich aus. Ich frage mich nur, wie ich es schaffe, mich zu schaffen? Ich bin ein Schauplatz. Das hätte ich nie von mir gedacht, aber von allen diesen Plätzen schon, die hier als Landschaft erscheinen. Und diese Städte, so menschenleer. Man sieht überhaupt keine alten Menschen. Papa ist mausetot. Ob der Virus seinen Abgang beschleunigt hat? Gut war es nicht, hieß es, als ich die Sachen holte. Er hat alles gelöscht. Nichts ist auf der Festplatte.

Ich erwecke sein Bild. Dort wo wir waren, einst, diese Umgebungen suche ich. Das Meer, die Wüste, den Himalaja. Da animiere ich meinen Vater hinein. Baue ihn aus der Erinnerung und programmiere meinen Schöpfer. Sein Gesicht in diesem und jenem Sonnenuntergang. Er wendet es mir zu. Seine Lippen bewegen sich und bilden ein Lächeln. Ich bin eine Tochter, die ihren Vater zeugt, das ist mir Trost.

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Lydia Mischkulnig, geb. in Klagenfurt. Lebt in Wien. Studierte Bühnenbild (Universität für Musik & darstellende Kunst Graz), Drehbuch und Produktion (Filmakademie Wien). Kolumnistin (Die Furche), Essayistin zum Thema Kunst und Kultur. Lehrbeauftragte (Universität für angewandte Kunst, Wien), Gastprofessorin an ausländischen Universitäten. Tutorin literarischer Schreibseminare. Herausgeberin der Reihe „Nadelstiche“, Theodor Kramer Verlag. Konzept und Leitung von Gesprächsreihen im literarischen Quartier, Alte Schmiede. Letzter Roman: Die Richterin, Haymon, 2020. Regelmäßig Essays und Beiträge im Feuilleton und in Literaturzeitschriften.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.