Die Korrespondenz mit meinen russischen Freund:innen gestaltet sich wie zu längst überwunden geglaubten Zeiten. Wir vermeiden bestimmte Worte, reden um den Brei herum, schreiben übers Wetter und hoffen, dass das Eigentliche zwischen den Zeilen gefunden und richtig verstanden werden möge. Wir schicken einander Gedichte zum Entschlüsseln. Lyrik hat wieder ihre Zeit, und sie eignet sich überraschend gut für diesen Zweck.
Im Oktober war ich in Moskau. Eingeladen hatte das Österreichische Kulturforum zu einer Lesung aus meinem Roman Junischnee. Letztlich waren es zwei Lesungen in Bibliotheken und eine im Gulag-Museum. Gewohnt habe ich eine Woche lang in der legendären Schriftstellerkolonie Peredelkino. Für mich ein klangvoller Name, ein Sehnsuchtsort. Mein Kindheitsidol, einer, der meine innere Welt und meine Sprache geprägt hat, lebte und arbeitete dort, Kornej Tschukowski, Schöpfer von Gedichten, die so musikalisch sind, dass fast jede:r Sowjetbürger:in sie zeitlebens im Gedächtnis behält, oder eher im Blutkreislauf? Sie klingen warm und zärtlich, aufregend und frech, fröhlich und tiefsinnig. Dass die Kindergedichte nur ein kleiner Teil von Tschukowskis Werk sind, erfahre ich erst jetzt, beim Besuch seines als Museum zu besichtigenden Hauses im ehemaligen Dorf Peredelkino nahe Moskau, das mittlerweile der gefräßigen Stadt eingemeindet wurde.
Zu Beginn der 1930er-Jahre wenden sich fast zeitgleich zwei namhafte Personen an Stalin. Maxim Gorki wünscht sich einen „Ort, wo 20 bis 25 talentierte Literaten in völliger materieller Unabhängigkeit leben und arbeiten können, am besten an Werken, die sich den sozialen Fragen der Zeit widmen“.
Eine Gruppe von Autorinnen und Autoren rund um Boris Pilnjak ist gerade dabei, eine „Datschen-Genossenschaft“ ins Leben zu rufen. Schreiben sei eine einsame Tätigkeit, da seien Begegnungen und Austausch notwendig für das Fließen von Ideen. Man formuliert eine Anfrage an den Obersten Sowjet.
Stalin befüllt einen staatlichen Fond und befiehlt den Bau eines „Städtchens für Schriftsteller irgendwo in der Nähe von Moskau, wo sie mit ihren Familien zusammenleben können, ohne sich gegenseitig zu stören, und intensiv schaffen können.“
Das Dorf Peredelkino und das Wäldchen ringsherum wird rasch mit etlichen Datschen, einem Gästehaus, einem repräsentativen „Haus der Künste“, einer Bibliothek und einem Veranstaltungsraum bebaut. Ein Paradies in Zeiten des ringsum herrschenden Mangels. Eine Möglichkeit, aus der grauen Stadt hinaus in die frische Natur zu kommen und Gleichgesinnte zu treffen – oder sich von ihnen fernzuhalten. Sich eine Zeitlang nicht um das Beschaffen und Zubereiten von Nahrung zu kümmern – der Ruf der Kantine ist legendär.
Pasternak, Tschukowski, Fadeew, Roshdestwenski, Jewtuschenko, Wosnesenski, Achmadulina, Okudshawa sind die bekanntesten Namen der ehemaligen Bewohner:innen und Besucher:innen. Nicht alle schrieben der herrschenden Ideologie das Wort, wie es ganz sicher der Wunsch des Diktators war. Hier fühlte man sich frei. Zuweilen war Peredelkino sogar ein Ort für verfemte und verfolgte Dichter. Solschenizyn „versteckte“ sich hier – und alle wussten davon.
Ich war mir so sicher, dass nach dem Ende der Sowjetunion dieses Gelände, das einst dem Sowjetischen Schriftstellerverband gehört hatte, längst filetiert und verkauft worden war. Die Lage in einem Wäldchen, so nahe der überbevölkerten Megacity, ist zu attraktiv, um nicht Begehrlichkeiten zu wecken. Umso größer meine Überraschung: Nachdem ein luxuriöses Ausflugsrestaurant samt Edelbordell untergegangen war, und nach einem Dasein als Unterkunft für die modernen Arbeitssklaven – meist Männer aus den ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken, die als Fernfahrer, Erntehelfer oder am Bau ohne jede soziale Absicherung als illegale U-Boote leben – fiel Peredelkino in einen Dornröschenschlaf. Den Straßenbelag durchbrach struppiges Gewächs, der Jungwald stand schon drei Meter hoch, Eigentümer war immer noch der – jetzt mittellose – Schriftstellerverband.
Superreiche Oligarchen lassen prächtige Kirchen bauen, oder sie kaufen in Windeseile in aller Welt wertvolle Kunstwerke zusammen und eröffnen Galerien. Da hat es einem von ihnen doch tatsächlich die Literatur angetan. Dem Schriftstellerdorf wird gerade neues Leben eingehaucht, es wird geputzt und gebaut und renoviert und geplant, und von überall her ruft man Menschen herbei, die mit Sprache arbeiten. Angeblich mischt sich der Mäzen nicht ein, weder in die Personalauswahl noch in die Programmgestaltung.
Neben Residencies, Konferenzen und Workshops zu allen möglichen literarischen Genres und fächerübergreifenden Projekten, Lesungen und Konzerten inmitten der wunderbaren Wald-Park-Landschaft bietet Peredelkino der Öffentlichkeit ein Café, eine Bibliothek und viel Raum für Begegnungen und Vernetzung.
Warum haben wir so etwas eigentlich nicht in Österreich?
Mir ist in den Wochen der Stillstände so richtig bewusst geworden, dass eine Schriftstellerin mehr braucht als einen Tisch und – je nach Vorliebe – Stift und Papier, Schreibmaschine oder Notebook. Kein Kaffeehaus, kein Museum, keine Bibliothek. Kein Ort zum Ausweichen. Kein Ort der Ruhe. Womöglich ein Partner im Homeoffice, Kinder im Homeschooling, da blockiert es schon mal Herz und Hirn und Hand.
Bildende, tanzende, musizierende Künstler:innen haben ihre Ateliers und Probenräume. Was haben wir? Es fehlt ein Ort des Austausches mit anderen Literat:innen als unabdingbare Quelle von Inspiration. Ein In-der-Welt-sein, wo sonst bekommen wir unser Material her? Österreich braucht dringend eine Schriftstellerkolonie!
Im Wiener Augarten steht seit Jahren ein Objekt leer, das geradezu danach schreit: das ehemalige Ambrosi-Atelier, später Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, mit aufwendig ausgebauten Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Arbeitsräumen, mit verstaubenden Artist-in-Residence-Apartments, an einem öffentlich zugänglichen Ort.
Etwa im Zweijahresabstand verkündet eine kurze Pressemeldung, man sei auf der Suche nach einer „kulturellen Nutzung“. Wir zeigen auf und rufen „Hier!“, aber niemand hört uns. Es will nicht einmal gelingen herauszufinden, wer eigentlich zuständig ist für dieses „Hier!“ (Burghauptmannschaft? Ministerium? Belvedere?), sondern es wird in österreichischer Tradition im Kreise herumgeschickt zwischen den Institutionen, bis die Müdigkeit eintritt – eh wurscht.
Neben dem Gebäude steht eine mächtige, ehrwürdige, denkmalgeschützte Platane, die sogar einen Namen hat, „La Grande Dame“. Die alte Dame lässt ihre Fingerspitzen über Dach und Terrasse tanzen und wartet womöglich seit 250 Jahren darauf, dass eines Tages die Literatur hier einzieht? Vielleicht hätte sie auch gleich einen Vorschlag für den Namen parat: Friederike Mayröcker-Haus?
Das Kulturforum in Moskau plante ab diesem Sommer gemeinsam mit Peredelkino ein Austauschprogramm für Schriftsteller:innen und Übersetzer:innen. Seit dem 24. Februar ist alles anders.
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