Lob des Handwerks

Laurenz Bolligers Beitrag zur Lektoratskolumne „Unverlangt eingesandt“

Online seit: 19. Oktober 2023

Vor Kurzem krachte die Abdeckung des schick hinter der Wand versteckten Toilettenspülkastens aus ihrer Halterung. Ich hätte sie vielleicht wieder in die Auslassung zurückgekriegt, mit Müh und Not, aber mir war nicht klar, wie die komplizierte Spülungsvorrichtung mit der Abdeckung zu verbinden war. Ein Fall für den Spezialisten, der die Sache mit ein paar wenigen Handgriffen erledigt hat. Beim Fixieren der Abdeckung fiel dem Klempner allerdings auf, dass der obere Rand derselben nicht ganz parallel verlief mit der Fliesenfuge, worauf er alles wieder demontierte, um es korrekter festzumachen, als es je war.

Während der Reparatur bemerkte der Mann aber noch etwas ganz anderes, nämlich dass zwischen der Kloschüssel und der gefliesten Wand, in der diese festgeschraubt ist, die Silikonfuge einen dünnen, aber sichtbaren Riss aufwies, ein Hinweis darauf, dass das Klo sich etwas abgesenkt hat. Das störte ihn, und er wollte nicht wieder gehen, ohne sich darum zu kümmern. Und schon lag der gute Mann schweißüberströmt am Boden, mit der einen Hand wurde eine Schraube gelockert, mit der anderen die Kloschüssel an die Wand gedrückt, ich musste assistieren, man unterschätzt das Gewicht von Keramik, und bald sah die Silikonfuge aus wie neu. Die Abdeckung saß perfekt in der Wand, und die unerfreuliche Absenkung war behoben. Jetzt war der Klempner zufrieden. Ich staunte und bewunderte den Mann für die Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Job machte.

ChatGPT kann redigieren und schreiben! In den Verlagen ist das leider auch immer mehr zu spüren.

Tags darauf traf ich mich mit einem britischen Literaturagenten in einem Restaurant mit einer beliebten Bar. Wir wollten uns beim Abendessen über neue interessante Manuskripte unterhalten, es war der Beginn der heißesten Phase im Literaturbetrieb, die Buchmesse in Frankfurt stand vor der Tür, und während dieser Zeit bieten die Agenturen den Verlagen aufregende Projekte an. Weil aber alle Tische besetzt oder reserviert waren, hieß man uns, am Tresen Platz zu nehmen und bei einem Drink auf einen freien Tisch zu warten. Die Karte versprach eine beeindruckende Vielfalt von großartigen Getränken, und wir bestellten nach einigem Überlegen einen Whiskey Sour. Hinter der Bar waren zwei junge Männer am Werk, deren Arme und Hände eine beeindruckende Vielfalt von Tätowierungen aufwiesen, aber noch viel beeindruckender war, wie sie ihrer Arbeit nachgingen. Mit welcher Eleganz die flüssigen Inhalte von Flaschen in Gläser, Messbecher und Shaker gefüllt, mit welcher Grazie Eiweiß, Eisstücke und Schalen von Zitrusfrüchten beigefügt und mit welch cooler Gewissheit all diese Zutaten zu einem Kunstwerk geschüttelt, gemixt und gegossen wurden, das war allerhand. Wir beschlossen, auf das Essen zu verzichten und stattdessen mit ein paar Snacks den weiteren Verlauf des Abends dergestalt zu verbringen, dass wir möglichst ausgiebig Gelegenheit hatten, den beiden Männern hinter dem Tresen bei ihrer Arbeit zuzuschauen. Es wurde sehr vergnüglich, und über Manuskripte haben wir dann auch noch gesprochen.

Gutes Handwerk ist eine Kunst. Jedes Handwerk kann erlernt werden, es braucht solide Ein- und Anweisungen, viel Übung, Wille und Beharrlichkeit. Mit der Zeit hat man die Erfahrung, die man braucht, um zuzupacken und auch die kniffligste Herausforderung zu meistern. Aber die Kunst des Handwerks erreicht erst dann ihre Vollkommenheit, wenn sie zum Ausdruck eines bestimmten Ethos wird und wenn bei allem Begeisterung aus ihr spricht. Die Arbeit einer Lektorin oder eines Lektors unterscheidet sich in diesem Grundsatz in keiner Weise von der Arbeit eines Klempners oder einer Barkeeperin, vor allem nicht die Arbeit am Text, das Redigieren oder eben: Lektorieren. Man erlernt es von der Pike auf, on the job und indem man anderen aufmerksam über die Schulter guckt, learning by doing, und es braucht nicht viel mehr als Geduld und einen guten Meister, in meinem Fall Egon Ammann. Es gibt kein Geheimrezept, und es gibt kein Lehrbuch, es ist keine Hexerei. Wir alle arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen, aber immer nach unserer ganz eigenen Art. Sie ist geprägt von unserem Selbstverständnis als Lektorin oder Lektor, ja von unserer Persönlichkeit. Ein Roman, der durch meine Hände geht, liest sich am Ende anders, als wenn er durch die Hände einer Kollegin gegangen wäre. (Ähnlich verhält es sich mit den Übersetzerinnen und Übersetzern, weshalb für bestimmte Übersetzungen nur bestimmte Kolleginnen und Kollegen infrage kommen.) Und doch sollten am Ende beide Versionen dem Roman gerecht geworden sein.

Solange wir uns ganz dem Text verschreiben, seinem Sound, seinem Rhythmus, seinem Lexikon, wird alles gut. Das Handwerk muss intuitiv sein, und wir müssen unserer Intuition vertrauen. Auch wenn der Klempner oder der Tischler am Ende der Ausbildung im Gegensatz zum Lektor eine Prüfung absolviert, sein wahres Können entspringt der täglichen Begeisterung für die Arbeit, dem Stolz, seiner Berufung nachzugehen, und es entsteht durch die unbedingte Pflicht, die er sich selbst immer von Neuem auferlegt.

Vor langer Zeit brütete ich über dem Lektorat eines schönen Romans aus der Schweiz, in dem das Wort Rebberg vorkam. Eine Kollegin sagte, ich müsse es durch Weinberg ersetzen, das sei gebräuchlicher. Ein paar Jahre später las ein beflissener, um viele Jahre älterer Verlagskollege die Übersetzung eines amerikanischen Romans, wohlgemerkt nach der Veröffentlichung. Er wusste, dass ich die Redaktion der deutschen Fassung verantwortet hatte, und steckte mir darum sein Exemplar mit von ihm im Buch eingetragenen Korrekturen zu, darunter mehrere Stellen, wo von den ganzen Leuten die Rede war, die irgendwas taten oder auf irgendwas warteten.

Wäre es besser gewesen, die ganzen Leute durch all die Leute zu ersetzen und auf die aussagekräftigen Indefinitpronomen zu verzichten, besser, aus dem Rebberg einen Weinberg zu machen? Mitnichten! In den sozialen Medien werden neuerdings von selbsternannten Lektorenausbildern sündhaft teure Kurse angeboten, für all die Leute, die ihre Freizeit oder ihr Hobby zum Beruf machen wollen, inklusive gratis Einstiegsvideo und wertlosem Abschlussdiplom. Das mag verlockend sein in unserer schnellen digitalen Zeit, schießt aber weit am Ziel vorbei. Die Verunsicherung ist groß, denn nicht nur ist heutzutage jeder ein Autor, sondern auch jede eine Lektorin. ChatGPT kann redigieren und schreiben! In den Verlagen ist das leider auch immer mehr zu spüren. Allein, dabei wird der dünne Riss in der Silikonfuge leicht übersehen, der essenzielle Schuss Angosturabitter vergessen. Weshalb ich mich gern an den umstrittenen, aber fraglos großen Lektor Gordon Lish erinnere, der auch mal einen orangenen Arbeitsoverall trug in seinem Büro in den luftigen Höhen über Manhattan. Denn darum geht’s am Ende: hands on bei einem der schönsten Handwerke der Welt, das genauso lange schon existiert und existieren wird wie die schönste Kunst überhaupt: das Erzählen von guten Geschichten.

 

Laurenz Bolliger, geboren 1972 in der Schweiz, arbeitet seit über zwanzig Jahren im deutschsprachigen Verlagswesen (Ammann, Berlin, Suhrkamp, DuMont, Amazon) und ist heute Leitender Lektor bei Hoffmann und Campe.

Die Lektoratskolumne „Unverlangt eingesandt“ wird betreut von Kristine Kress. Sie berichtet an dieser Stelle mit weiteren Lektorinnen und Lektoren aus dem Backstagebereich des Literaturbetriebs.