Laura Lichtblau – „Schwarzpulver“

Von Larissa Plath
Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

Den kalten Wintertagen um den Jahreswechsel kommt seit jeher eine besondere mythologische Bedeutung zu. ‚Rauhnächte‘ werden die zwölf Nächte zwischen dem zweiten Weihnachtsfeiertag und dem Fest der Heiligen Drei Könige genannt. Es ist die Zeit der Weissagungen und Bräuche, der Veränderung und Erneuerung. „Während der Rauhnächte klopfen die Geister am Diesseits an, […] sie schweben über unseren Straßen. Während der Rauhnächte ist alles wandelbar“, heißt es am Anfang von Laura Lichtblaus Schwarzpulver. Das Motiv verleiht dem düsteren Setting eines in naher Zukunft liegenden Berlin, in dem die „urbane Dystopie“ (so der Klappentext) angesiedelt ist, die Atmosphäre einer Zwischenwelt – und damit eine Unbestimmtheit, die sich im Roman auf mehreren Ebenen ausdrückt.

Unter Führung der rechtspopulistischen „Partei“ gehören in diesem dystopischen Szenario reaktionäres Gedankengut, Rassismus, Misogynie und die Ablehnung von Diversität genauso zur Tagesordnung wie die Überwachung der Bürger*innen. Was zu den bestehenden Verhältnissen geführt hat, lässt der Roman offen, die Auswirkungen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung bekommen die Figuren auf unterschiedliche Weise zu spüren. Über die Namen der drei Protagonist*innen Burschi, Charlie und Charlotte sind die einzelnen Kapitel der jeweiligen Figur zugeordnet und werden aus der Ich-Perspektive erzählt. Was sie alle gemeinsam haben ist eine Art Gleichgültigkeit, die erst durch das Auftauchen einer weiteren Person und die darauffolgenden Verstrickungen aus dem Lot gebracht wird und sie zum Handeln bringt.

Burschi, die eigentlich Elisa heißt, kümmert sich als Gesellschafterin um ein altes Ehepaar, hängt den Erinnerungen an ihre Kindheit in einem bayrischen Bergdorf nach und verliebt sich in die mysteriöse Johanna. Der 19-jährige Charlie arbeitet als Praktikant bei einem Hip-Hop-Label, möchte im Job vorankommen und sich gleichzeitig von seiner Mutter Charlotte emanzipieren. Diese hat ihre beruflich und privat gescheiterten Lebensentwürfe hinter sich gelassen und sorgt nun als Präzisionsschützin der Bürgerwehr „für sichere Straßen und Recht und Kontrolle“. Mistelspritzen und Alkohol verhelfen Charlotte zur nötigen Ausgeglichenheit, ihr kaum ausgeprägtes politisches Bewusstsein kaschiert sie durch phrasenhafte Aussagen und ihre Lieblingsvokabel „zielführend“. Mit der Politik der Regierung habe ihr Einsatz nichts zu tun: „Wir hatten uns übers Internet gefunden, allesamt unruhig und besorgt“, erinnert sich Charlotte an die Geburtsstunde der Bürgerwehr, eine Vereinigung, die diffuse Ängste ihrer Mitglieder kanalisiert.

Eben diese Vagheit trifft auf den gesamten Roman zu und macht die Aussage von Schwarzpulver schwer fassbar. Ob es ausreicht, offensichtliche Parallelen zur Gegenwart aufzugreifen, sie im derzeit beliebten Genre der Dystopie literarisch zu verarbeiten und eine Warnung zu implizieren, ist fraglich. Wenn Schwarzpulver in einer drohend nahen Zukunft angesiedelt ist, wieso werden dann aktuelle Entwicklungen und Tendenzen, die sich in der Realität abzeichnen, wenig weitergedacht, wirken zum Teil gar wie aus der Zeit gefallen (Denunziation und die anachronistischen Überwachungsmaßnahmen des „Amts für Staatsmoral“ beispielsweise erinnern eher an Stasi-Methoden). Oder ist die anfängliche Gleichgültigkeit der Figuren bereits das Resultat einer weitaus effektiveren Form der Kontrolle, in deren Folge Kritik und Aktivismus ohnehin schon keine Rolle mehr spielen?

Es braucht eine Figur wie Johanna, um Veränderung in den Alltag der anderen zu bringen, aber auch hier sind die Assoziationen mit Blick auf ihre berühmte Namensvetterin nicht klar einzuordnen: Für die einen Symbolfigur des Widerstands, wird Jeanne d’Arc auch von der rechtsnationalen Partei Front National als nationales Symbol vereinnahmt. Auf einen möglichen Umbruch, eine mit Zerstörung einhergehende Erneuerung weist auch der mehrdeutige Titel hin: Schwarzpulver wurde ab dem Beginn der Neuzeit vermehrt eingesetzt und markiert einen historischen Wendepunkt, an dem bisherige Gefüge auseinander brachen und Kriege durch neue Militärtechniken brutaler wurden. Von „langsam entstehendem Aufruhr“ ist am Ende des Romans die Rede. Ob er verpufft oder Sprengkraft entwickelt, bleibt offen.

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