Amokläufer in der Schwebe

Von Kurt Palm.
Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur

Online seit: 23. April 2021
Kurt Palm © Manfred Werner
Kurt Palm. Foto: Manfred Werner

Ich hasse den Schlaf. Schon als Kind konnte ich nicht schlafen, weil meine besoffene Mutter ständig herumgebrüllt hat. Oder ihre Männer. Oder beide. Ich habe mir die Ohren zuhalten müssen oder mich unter dem Bett versteckt, aber es hat nichts genützt. Kein Wunder, dass ich in der Schule ständig eingeschlafen bin. Die Lehrer haben mich deswegen zur Sau gemacht.

Ist das jetzt wieder der Papagei, der da schreit? Den habe ich doch seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gehört. Ich dachte, sein Besitzer wäre schon längst weg. Oder tot. Ich habe ihn ab und zu auf der Straße gesehen. Der hatte tatsächlich seinen Vogel auf der Schulter sitzen. Und dieser Idiot trug einen Overall, der am Rücken und an den Schultern vollgeschissen war. Die Leute haben ihm erstaunte Blicke zugeworfen, er hat aber nur blöd zurückgegrinst. Ich habe den Papagei oft schreien gehört. Es war ein unangenehmes Gekreische. Wie von jedem Vogel. Egal, ob Krähen, Tauben, Falken oder Papageien. Mir tut ihr Geschrei in den Ohren weh.

Fast jede Nacht wache ich schweißgebadet auf. Weil ich Angst habe, dass jemand in mein Zimmer kommen könnte. Darum habe ich auch meine Wohnungstür mit Kisten verbarrikadiert. Zum Schutz. Trotzdem fürchte ich mich, weil ich als Kind ja oft mitten in der Nacht aufgeschreckt bin, wenn plötzlich jemand neben meinem Bett gestanden ist. Meiner Mutter war das alles egal, die ist besoffen am Küchentisch gesessen oder auf der Couch gelegen. Oft hat sie ja sogar mehrere Männer in die Wohnung mitgenommen. Die haben sie dann der Reihe nach gepudert. Die Geräusche, die sie dabei gemacht haben, waren fürchterlich. Aber ich musste mich ruhig verhalten. Nicht einmal aufs Klo konnte ich gehen. Ich habe oft ins Bett gepinkelt, da ist meine Mutter am nächsten Tag komplett ausgerastet und hat mir links und rechts eine runtergehauen, dass ich Sterne gesehen habe. Und immer auf die Ohren. Heute werden auch ein paar Leute Sterne sehen. Peng.

Einmal hat sie einen angeschleppt, der hat in einer Videothek gearbeitet. Mit dem habe ich mir die ärgsten Filme angeschaut. Richtig brutale Hardcorefilme, in denen die Menschen reihenweise abgeschlachtet wurden. Er hat immer blöd gelacht, wenn das Blut gespritzt ist und hat sich das nächste Bier aufgemacht. Ab und zu habe ich mit ihm getrunken. Ich war damals vielleicht zehn, und in der Nacht habe ich dann schreckliche Albträume gehabt. Nach einem Monat ist der Typ wieder abgehauen.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man von einer Kugel getroffen wird. Irgendetwas muss einem in diesem Augenblick ja durch den Kopf gehen. Aber was? Denkt man an ein bestimmtes Lied oder an eine bestimmte Person oder an ein bestimmtes Ereignis oder an einen bestimmten Geruch? Woran würde ich denken? An Bianka? Oder an meine Mutter? Dass ich nicht lache. Alles Schwachsinn. Der Schalter wird umgelegt und dann ist es dunkel. Aus. Nur mit dem Unterschied, dass man nicht schläft, sondern tot ist. Was seine Vorteile hat, weil man nicht aufgeweckt werden kann. Weder von einem wildfremden Mann, noch von einem fürchterlichen Geräusch.

Das Problem beim Schlafen ist ja auch, dass man keine Geräusche hört, also nicht weiß, was um einen herum gerade passiert. Allerdings glaube ich, dass ich ohnehin bereits beim leisesten Geräusch aufwachen würde. Ob meine nächtlichen Panikattacken damit zusammenhängen, weiß ich nicht. Dann laufe ich zum einzigen Fenster, das nicht mit Zeitungspapier zugeklebt ist, und reiße es auf. Ich muss tief durchatmen, weil ich sonst sterben müsste. Ich habe einmal versucht, so lange wie möglich wach zu bleiben. Aber das hat nicht funktioniert. Obwohl das gar nicht so schlecht war, weil ich nach 36 Stunden ohne Schlaf derart fertig war, dass ich in einen Tiefschlaf versunken bin und mich wie tot gefühlt habe. Wenn ich schlafe, verliere ich die Kontrolle. Das ist das Problem. Und obwohl ich meine Wohnungstür mit Kisten verbarrikadiert habe, könnte es ja doch sein, dass jemand in meine Wohnung eindringt. Dann steht der Eindringling plötzlich neben mir und greift mich an. Und ich bin vollkommen wehrlos. Alleine bei dieser Vorstellung bekomme ich schon Herzrasen und Schweißausbrüche. Aber heute habe ich alles unter Kontrolle. Und das werden in drei Stunden auch einige zu spüren bekommen. Ich hoffe, dass auch die beiden Schüler im Pausenhof sein werden, die mich als Fettsack und fette Sau beschimpft haben.

Meine beste Zeit hatte ich als Nachtwächter. Da konnte ich in der Nacht wach bleiben. Zuerst habe ich den Stall der Veterinärmedizinischen Universität am Stadtrand bewacht. Dort waren die Tiere untergebracht, die operiert worden sind oder irgendwelche Krankheiten hatten. Kühe, Pferde, Schweine, Hunde, Katzen, alles mögliche. Ich musste jede Stunde mit der Stechuhr einen Rundgang machen und protokollieren, wie es den einzelnen Tieren geht. Die Tiere hatten ja alle Namen: Eberhard, Julius, Britta, was weiß ich. Auf eine Kuh sollte ich besonders aufpassen. Sie hieß Belinda und hatte seitlich am Bauch ein faustgroßes Loch, das mit einem Stöpsel verschlossen war. Einmal habe ich gesehen, wie ein Arzt seinen Arm tief in dieses Loch gesteckt hat, um irgendwelche Untersuchungen zu machen. Fistulierung heißt das in der Fachsprache. Die Kuh dürfte das aber gar nicht gespürt haben, weil sie ganz ruhig geblieben ist. Was der Arzt genau gemacht hat, weiß ich nicht, aber mich hat das natürlich interessiert, und so habe ich in der darauffolgenden Nacht mit der Taschenlampe in dieses Loch hineingeleuchtet und tatsächlich bis in den Magen der Kuh gesehen. Es war irgendwie gruselig, aber in der ganzen Aufregung ist mir der Stöpsel runtergefallen und zwar genau in einen Haufen Kuhscheiße. Am nächsten Tag war die Kuh tot und weil der Stöpsel verdreckt war und ich als einziger Zugang zum Stall hatte, hat mich die Sicherheitsfirma sofort versetzt.

Die von der Veterinärmedizin haben ja auch behauptet, dass ich in der Nacht, in der die beiden Schafe Frieda und Paula aus dem Stall gestohlen wurden, geschlafen hätte, statt auf die Tiere aufzupassen. Das Fell und die Knochen der Schafe wurden in einem nahe gelegenen Wald gefunden, aber das Fleisch hatten die Diebe mitgenommen. Angeblich waren es Mohammedaner oder Islamisten, ich hatte damit jedenfalls nichts zu tun. Frieda und Paula waren allerdings krank und hatten eine Art Tuberkulose, aber das konnten die Diebe natürlich nicht wissen.

Nach dem Vorfall mit der Kuh bin ich zur Bewachung eines Labors für Tierversuche abkommandiert worden. Aber nur für ein paar Wochen, weil die Betreiber des Labors herausgefunden hatten, dass ich vorbestraft war. Das hat ihnen nicht gepasst. Ich bin kein Tierfreund, aber was ich dort gesehen habe, hat sogar mich schockiert. Affen, die in Käfigen angekettet waren und die ganze Nacht gebrüllt haben, oder Hunde, die aus dem Maul geblutet haben. Besonders unheimlich fand ich aber eine Halle, in der hunderte Katzen apathisch am Boden hockten oder auf Katzenbäumen saßen. Am Anfang dachte ich ja, dass die tot wären, aber die haben gelebt und wahrscheinlich irgendwelche Beruhigungsmittel bekommen.

Dann habe ich vier Jahre lang ein großes Baustofflager bewacht, was mir wirklich getaugt hat. Alles ging auch gut, bis sie uns erwischt haben und ich wieder einmal für ein Jahr in den Bau musste. Wir waren zu viert, zwei Jugos, ein Grieche und ich. Der Grieche hieß merkwürdigerweise Wagner. Der war schon älter und hat seit seiner frühesten Jugend als Nachtwächter gearbeitet. Deshalb war er wahrscheinlich auch ein bisschen durcheinander im Kopf. Er hat mir erzählt, dass er gar nicht mehr anders leben könnte als in der Nacht. Der ist auch tagsüber in seiner Nachtwächter-Uniform herumgelaufen und hat, wenn ihm danach war, den Verkehr geregelt. Bis die Polizei gekommen ist und ihn nach Hause geschickt hat.

Jeder von uns hatte seinen eigenen kleinen Container, mit einem Tisch, einem Sessel und einem Radio. Fernseher gab es natürlich keinen. Das Klo war draußen, ein Mobiclo, was im Winter sehr unangenehm war. Einmal sind Wildschweine gekommen. Das Baustofflager lag ja am Stadtrand in der Nähe von einem Wald. Ich habe zuerst an einen Überfall gedacht und habe sofort meine Pistole gezogen, die ich immer bei mir hatte. Es war keine Dienstwaffe, weil wir für die Bewachung des Baustofflagers ja keine Waffen brauchten. Ich habe gewartet, bis ich plötzlich ein Grunzen gehört habe, dann habe ich die Tür einen Spalt geöffnet und habe vier Wildschweine gesehen. Eine Sau mit drei Jungen. Ich hätte sie abknallen können, aber ich habe es nicht getan. Sie sind dann wieder im Wald verschwunden. Ich habe keine Ahnung, was die im Baustofflager gesucht haben. Die Jugos waren sauer, weil sie gerne ein Wildschwein am Spieß gebraten hätten.

Den Abtransport der Zementsäcke und der anderen Materialien, die ihre Leute zum Bauen brauchten, haben die beiden Jugos organisiert. Josip und Pero haben sie geheißen, aber Wagner, der Grieche, hat sich herausgehalten. Er hat gesagt, dass er lieber Kreuzworträtsel löst. Tausende Kreuzworträtsel hat der gelöst, und zwar in Windeseile, weil er ja alle Lösungen schon gekannt hat. Ich habe das Haupttor bewacht und dafür gesorgt, dass alles schnell geht. Ich habe auch geschaut, dass sie nicht zu viel mitgehen lassen, weil das ja sonst aufgefallen wäre. Das war ein schöner Nebenverdienst für mich, weil ohne mich wäre ja nichts gegangen. Aber die Jugos sind immer unvorsichtiger geworden und irgendwann haben die Besitzer Kameras installieren lassen und nach drei Wochen war alles vorbei.

Wegen meiner Vorstrafen habe ich ein Jahr unbedingt bekommen. War eine schöne Scheiße, trotzdem war es eine gute Zeit als Nachtwächter. Der umgekehrte Tagesablauf. Man sieht die Welt mit anderen Augen. Da hatte ich beim Schlafen auch viel weniger Angst, weil es immer hell war, wenn ich aufgewacht bin. Durch das Leben in der Nacht haben sich die weißen Blutkörperchen vermehrt und die roten sind weniger geworden. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber der Grieche hat das behauptet, weil er wegen der jahrzehntelangen Nachtarbeit an Halluzinationen gelitten hat und deshalb zum Arzt gegangen ist. Und weil ihm dauernd kalt war. Wegen der weißen Blutkörperchen. An den Wochenenden habe ich oft sechsunddreißig Stunden durchgearbeitet. Dem Sicherheitsunternehmen war das egal, weil es ja keine Kontrollen gab und sie die Belege ohnehin gefälscht haben. Wir mussten ein Wachbuch führen, das hat der Grieche immer einen Monat im voraus ausgefüllt: Schlüssel vollzählig vorhanden. KbV – Keine besonderen Vorkommnisse.

Jetzt trampeln im Haus wieder irgendwelche Kinder herum. Sollen sie. Natürlich könnte ich an die Tür klopfen und sie einfach abknallen. Wie die Schweine während meiner Metzgerlehre. Aber dazu müsste ich die Kisten vor meiner Wohnungstür wegräumen. Nein, nein, im Schulhof ist die Auswahl ja viel größer. Zuerst werde ich mir mit meinem Feldstecher einen Überblick verschaffen, und dann geht es los. Wahrscheinlich wird sofort Panik ausbrechen und sie werden weglaufen und versuchen, sich zu verstecken. Aber ich werde ganz ruhig bleiben. Das ist das wichtigste. Keine Hektik. Ich werde nicht einfach drauf los ballern, sondern mir genau überlegen, wen ich ins Visier nehme.

Damals bin ich tagsüber fast gar nicht mehr aus dem Haus gegangen. Die Einkäufe habe ich nach der Arbeit erledigt. Während der Woche hat meine Schicht zwölf Stunden gedauert. Von sieben am Abend bis sieben in der Früh. Im Gefängnis habe ich Probleme gehabt, weil ich mich ja erst wieder an den normalen Rhythmus gewöhnen musste. In der Nacht war ich wach, tagsüber wollte ich schlafen, was aber nicht ging. Das war nicht lustig. Natürlich hatte ich vor Gericht keine Chance. Ich war ja vorbestraft und sie haben mir einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt, dem völlig egal war, was mit mir passiert. Diese verdammten Schweine. Selbst bei den beiden Jugos haben sie mildernde Umstände berücksichtigt. Den Griechen haben sie gar nicht angeklagt, weil der sich hinten und vorne nicht mehr ausgekannt hat. Trotzdem haben sie auch ihn gekündigt und kurze Zeit später hat er sich aufgehängt, weil er sich einfach nicht mehr zurechtgefunden hat. Ich habe als einziger die Höchststrafe bekommen. Aber heute ist mir das alles egal. Heute fälle ich die Urteile. Und es wird keine mildernden Umstände geben. Auch nicht für den Direktor.

Fertiggemacht haben sie mich in der Hauptschule. Vom ersten Tag an. Die Lehrer haben genau gewusst, wie sie mich am besten quälen können. Obwohl ich nicht singen konnte, musste ich in jeder Musikstunde vor der ganzen Klasse irgendwelche Lieder singen. Alle Vöglein sind schon da. Und alle haben gelacht. Die Lehrer genauso wie die Schüler. Auch meine Aufsätze musste ich laut vorlesen, obwohl ich mir beim Schreiben schwer tat. Und rechnen musste ich immer vorne an der Tafel. Damit alle sehen konnten, wie ich geschwitzt habe vor Angst. Einmal habe ich das meiner Mutter erzählt, aber sie hat mir sofort eine Ohrfeige gegeben. „Recht geschieht dir, weil du zu allem zu blöd bist“, hat sie gesagt. Und sich die nächste Zigarette angezündet. Bis sie dann im Badezimmer selbst krepiert ist wie ein Hund.

Ich bin ganz verschwitzt und stinke, aber ich werde mich nicht mehr umziehen. Wozu auch? In der Volksschule habe ich oft eine ganze Woche lang dasselbe Gewand getragen. Am liebsten hätte ich in diesen Kleidern auch geschlafen. In der frischen Wäsche habe ich mich nie wohl gefühlt. Was meiner Mutter ohnehin recht war, weil sie dann weniger waschen musste. Meine Mutter war ja eine richtig faule Sau, die das Geschirr nur abgewaschen hat, wenn es schon zu stinken begonnen hat oder wenn sie Männerbesuch erwartet hat. Ihren Männern war das aber ohnehin egal. Die haben ja auch gestunken, nach Alkohol und Zigaretten und Schweiß. Vom Jugendamt sind sie auch ein paar Mal gekommen, aber meine Mutter hat es immer irgendwie geschafft, die Beamten davon zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung sei. Ich glaube, dass sie einmal einem Beamten sogar einen geblasen hat. Sie hat jedenfalls gegrunzt wie ein Schwein und irgendwann hat der Beamte kurz aufgeschrien. Ich musste mich in der Zwischenzeit in meinem Kabinett verstecken. Wenn ich etwas gesagt hätte, hätte sie mich umgebracht.

Weil mich meine Mutter an den Wochenenden los sein wollte, hat sie mich einmal sogar in das nahe gelegene Pfarrheim geschickt. Sie hat dem Pfarrer irgendeinen Unsinn erzählt, dass ich gerne bei der Jungschar dabei wäre und dass ich in Religion immer gute Noten hätte, was ein völliger Blödsinn war. Das einzige, was mich im Pfarrheim interessiert hat, war Tischfußball. Ich habe gleich gegen ein paar Burschen um Geld gespielt und jedes Mal gewonnen. Nach dem dritten Wochenende hat mich der Pfarrer rausgeworfen, weil ich nicht bereit war, mich an irgendwelchen Gesprächen über Gott und die Welt zu beteiligen. Meiner Mutter habe ich das natürlich nicht gesagt, stattdessen bin ich in den Park gegangen und habe mich mit ein paar Typen angefreundet, die mir gezeigt haben, wie man Kellerabteile aufbricht.

Was ist das für ein Lachen? Es kommt vom Schulhof, aber es können keine Schüler sein, weil die ja jetzt Unterricht haben. Ich muss mich anschleichen, damit mich niemand sieht. Vielleicht ist es ja eine Falle. Okay, langsam, langsam. Ich sehe zwei Männer in grauen Arbeitsmänteln, das sind die Schulwarte, die kenne ich. Die leeren die Mistkübel aus und erzählen sich dabei sicher irgendwelche ordinären Witze. Und dann lachen sie wie Idioten. Es ist eigentlich kein richtiges Lachen, eher ein Bellen. Und sobald sie einen Kübel ausgeleert haben, zünden sie sich eine Tschick an und werfen die Stummeln auf den Boden. Die sind wahrscheinlich unkündbar und gehen alle zwei Wochen in den Krankenstand. Ein richtiges Gesindel.

Jetzt frage ich mich natürlich schon, was das Leben überhaupt für einen Sinn haben soll. Mein Leben hat jedenfalls keinen Sinn gehabt, deshalb ist es mir auch egal, wenn es heute zu Ende geht. Wozu soll ich noch leben? Kinder habe ich keine und selbst wenn ich welche hätte, wer weiß, was aus ihnen geworden wäre. Das Leben meiner Mutter war ja auch sinnlos, obwohl sie ein Kind gehabt hat. Aber sie hat mich von Anfang an abgelehnt. Ich verstehe gar nicht, warum sie mich nicht abgetrieben hat. Da wäre uns beiden viel erspart geblieben. Komischerweise fühle ich mich bei dem Gedanken, dass ich heute nicht alleine abtreten werde, irgendwie wohl. Und ich werde keine Erklärungen hinterlassen.

Worauf soll ich noch warten? Auf die Frau meines Lebens? Dass ich nicht lache. Die eine Ehe hat mir gereicht und die anderen Weiber waren auch nicht viel besser. Solange ich Kohle hatte, war ich gut genug für sie, kaum war ich aber abgebrannt, haben sie sich einen anderen gesucht. Zweimal bin ich auch delogiert worden. Das will ich nicht noch einmal erleben. Und ins Gefängnis gehe ich auch nicht mehr. Am Montag um neun soll ja die Delogierung stattfinden, mit Gerichtsvollzieher, Rechtsanwalt, Schlosser und Spediteur. Wahrscheinlich wird auch die Polizei dabei sein. Der einzige, der nicht da sein wird, bin ich. Die können mich alle.

Oft habe ich mich gefragt, wo ich in meinem Leben die falsche Abzweigung genommen habe. Oder war ich von Anfang an auf dem Holzweg? Vielleicht habe ich ja nicht einmal die Chance gehabt, einen anderen Weg einzuschlagen. Es war ja von Anfang an alles verkorkst. Zimmer, Küche, Kabinett. Eine Alkoholikerin als Mutter. Kein Vater. Nie Geld zu Hause. Kürzlich habe ich in einer der Kisten ein Heft aus meiner Volksschulzeit gefunden. Da schreibe ich immer irgendetwas von meinen Eltern und Geschwistern, weil ich auf keinen Fall wollte, dass meine Mitschüler wissen, dass ich keinen Vater und keine Geschwister habe. Wenn mich meine Schulkameraden gefragt haben, welchen Beruf mein Vater ausübt, habe ich gesagt, dass er Hochseekapitän ist, und dass er mich deshalb nicht von der Schule abholen kann. Am Anfang wollte ich mit anderen Kindern nach Hause gehen, aber das wollten deren Eltern nicht. Dass ich ein Einzelkind war, habe ich auch verschwiegen. Wenn die anderen von ihren Geschwistern erzählt haben, habe ich einfach einen Bruder oder eine Schwester erfunden, aber irgendwann sind sie mir draufgekommen, weil ich ständig die Namen verwechselt habe. Als Achtjähriger habe ich einen Brief an das Christkind geschrieben:

Liebes Christkind, ich freue mich wieder wenn Du heuer am 24. Dezember komst. Ich hätte auch einpaar Wünsche: ein paar Ski, einen Anorack, einen Schipullover und viele andere Sachen, auch einen schönen Christbaum wo viele gute Schlegereien oben hängen. Auch daß meine Eltern lange leben und meine Geschwister auch alle gesund bleiben. Viele Grüße Dein …

Alles Unsinn natürlich, weil es bei uns gar keinen Christbaum gab, und ich nie in meinem Leben Schi bekommen habe. Einmal habe ich ein Gedicht geschrieben, das uns die Lehrerin diktiert hat:

Liebe Mutter, mir ist kalt,
mach das Stübchen warm!
Setz dich hintern Ofen dann
und nimm mich in den Arm!

Ich habe das Gedicht meiner Mutter vorgelesen, aber sie ist nur wütend geworden. Noch wütender ist sie geworden, wenn ich sie gefragt habe, wo mein Vater ist. Ihre Antwort bestand aus einer Aneinanderreihung von Flüchen, dass er ein verdammter Hurenbock war und ein Säufer und dass er abgehauen ist, wie ich auf die Welt gekommen bin. Irgendwann habe ich mit dem Fragen aufgehört, weil ich ja ohnehin keine Antwort bekommen habe.

Wie soll man unter solchen Umständen etwas aus seinem Leben machen? Andererseits ist es mir auch nicht schlecht gegangen, wenn ich nur nicht immer an die falschen Freunde geraten wäre. Sobald Drogen im Spiel waren, ist alles schief gegangen. Oder sie sind übermütig geworden. Wie die Jugos im Baustofflager. Dann ist die Sache aufgeflogen und sie haben mich wieder für ein Jahr auf Kur geschickt. In den Augen der Richterin war ich ja ein Rückfalltäter und schwer zu sozialisieren. Blöde Sau, blöde. An sie werde ich auch denken, wenn ich abdrücke.

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Kurt Palm, geboren 1955 in Vöcklabruck. Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg. Dr. phil. Schreibt Romane und Sachbücher, dreht Filme und inszeniert Opern und Theaterstücke. Einem breiten Publikum bekannt wurde Palm mit der TV-Produktion Phettbergs Nette Leit Show (1994–96). Für Bad Fucking erhielt er 2011 den renommierten Friedrich-Glauser-Preis. Das Buch wurde auch fürs Kino verfilmt. 2017 erschien bei Deuticke sein Roman Strandbadrevolution, 2019 der Roman Monster. Zuletzt inszenierte er das Theaterstück Die Verlockung im Werk X in Wien. Kurt Palm lebt als Autor und Regisseur in Wien. www.palmfiction.net

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.