Schalterschluss

Ein Dramolett von Klaus Siblewski

Online seit: 24. Januar 2016

Szene eins

K. würde gerne den neuen Roman von Ulrich Peltzer Das bessere Leben besprechen. Er ruft bei O. an, einem Rundfunkredakteur.
O. Ob K. größenwahnsinnig geworden sei.
K. Größenwahnsinnig, nicht?
O. K. wisse doch, Peltzer stünde auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und, das wisse K. nicht, erfahre es aber gleich, wenn es nach ihm, O., ginge, erhalte er auch den Deutschen Buchpreis.
K. Gut. Und?
O. K. käme jetzt, nachdem die Shortlist des Deutschen Buchpreises bekannt gegeben worden sei auf die Idee, diesen großen Autor und dieses große Buch besprechen zu wollen. Ob ihm da nichts auffalle?
K. Versuchen könne er es doch einmal.
O. Nicht einmal versuchen sollte er es. Warum? Weil er mit diesem Versuch nur einen lebhaften Beweis antrete, dass er mit einem Übermaß an Verschlafenheitsgenen ausgestattet worden sei.
K. Davon merke er nichts, wenn er nachts wachliege.
O. Verschlafenheitsgene hätten nichts mit Schlafgenen zu tun. Aber im Ernst: Die Besprechung von Peltzer sei seit langem schon vergeben.

Szene zwei

K. überlegt. Wie weiter? Er muss ein anderes Buch zur Besprechung finden. Die Journalistengepflogenheit, immer der erste sein zu wollen, hält er seit langem für eine literaturferne Verrenkung – sich in diesen Gedanken hineinzusteigern führt ihn aber nicht weiter. Aktuell hat er ein anderes Problem. Wenn er über die Liste der Autoren nachgrübelt, die in die engere Wahl für den Deutschen Buchpreis kommen, befällt ihn eine sonst nicht gekannte Verzagtheit. Doch eines beeindruckt ihn schon: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. „Manisch-depressiv“ klinge etwas stark nach medizinisch eingezäunter Diagnostik. Aber wenn er „manisch-depressiv“ mit „wahnsinnig“ übersetze, dann? Warum nicht dieses Buch.
K. ruft wieder bei O. an.
K. Ob er Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 kenne? Diesen Roman wolle er besprechen.
O. Prima Idee, eine sehr gute Idee sogar. Er, O., dürfe den Fehler nicht machen und K. unterschätzen. Das habe er sich schon häufiger gesagt.
K. Das freue ihn.
O. Allerdings: Diese Idee sei derart zündend und überzeugend, dass ein anderer Kritiker bereits auch von ihr heimgesucht worden sei. Wenn er sich recht entsinne: In der Mediathek müsste der Beitrag dieses Kollegen noch zu hören sein.

Szene drei

Auf bereits erschienene Besprechungen wird K. nicht gerne hingewiesen. Vielleicht sollte er sich erst einen gründlicheren Überblick verschaffen, welche Bücher angekündigt sind und wann sie erscheinen, bevor er zum Handy greift. Die Vorschauen der Verlage wieder hervorzukramen hat er aber keine Lust. K. überlegt weiter. Gerade liest er einen Roman von Gary Shteyngart, Titel: Kleiner Versager. Wenn er ehrlich ist, macht ihm dieser Roman nur eine geteilte Freude. Das dauernde Pointengedrechsel geht ihm etwas auf die Nerven. Aber Shteyngarts Geschichte ist gut. Ein Fünfjähriger übersiedelt von Leningrad nach Queens und wird in New York erwachsen. Das ist eine gute Geschichte. Warum also nicht. K. zieht wieder das Handy aus der Hülle und ruft O. an.
K. Ob Shteyngart vergeben sei?
O. Jetzt durchlebe K. offenbar eine Sternstunde als Literaturkritiker. Im Ernst: Er, O., müsse fragen, was denn geschehen sei, dass er, K., sich mit einem derart blendenden Vorschlag melde? Er werde auf der Stelle zwei Fanfarenbläser aus dem Schallarchiv bestellen, die mit einem Duett diesen Vorschlag musikalisch würdigen.
K. hört Gescharre, weiß nicht, wie er reagieren soll. Er nimmt sein Telefon vom Ohr, um nachzuschauen, ob er mit O. noch verbunden ist. Das ist der Fall. Dann hört er O. wieder sprechen.
O. Endlich schlage K. ein Buch zur Besprechung vor, das nicht ein Autor geschrieben habe, der für niemanden mehr eine Überraschung böte. Endlich wolle sich K. mit einem Schriftsteller beschäftigen, der nicht die übliche maßvoll abgeschmeckte Ware biete. Er könne nur sagen, was er die ganze Zeit bereits sage: Bravo.
K. Wenn er jetzt ehrlich sei, mache ihm O.s Begeisterung etwas Angst. Deshalb wolle er gleich sagen:  Nur loben könne er Shteyngarts Roman nicht.
O. Warum er ihn derart enttäuschen müsse! Das habe er sich fast gedacht: Jetzt habe sich K. vom wohlig wärmenden Mainstream einmal ein wenig entfernt, was geschehe: K.s Mut sinke.
K. Er könne Shteyngarts Roman, nur weil der Autor keiner aus der Klasse der vielfach beachteten Autoren sei, nicht ohne Abstriche loben. Weniger beachtet zu werden, sei doch nicht die Grundlage für eine positive Besprechung.
O. Nein, das würde ja auch niemand von ihm verlangen. Ein schwächer durchgesetzter Autor müsse nicht hochgeschrieben werden, weil dessen Präsenz weniger stark entwickelt sei.
K. Wofür spreche sich O. aber dann aus?
O. Er spreche sich für nichts aus, er sei gerade in der Prophylaxe  tätig.
K. Und er warne.
O. Genau darum ginge es, um Prophylaxe. Kritiker glaubten, sie stünden auf der sicheren Seite, wenn sie warnten, das erfordere seinen vorbeugenden Einsatz.
K. Nein, Warnen sei für einen Kritiker eine vornehme Aufgabe.
O. Eben nicht. Vornehm sei am Warnen nichts. Entweder es sei notwendig oder es gäbe keine Gründe, die einen Kritiker zum Warnen veranlassten, und wenn es diese Gründe nicht gäbe, dann soll er im Warnen auch keine vornehme Aufgabe sehen.
K. Er verstünde nicht, was er ihm sagen wolle.
O. Genau, da beginne bereits das Problem. Er wolle ihn nämlich nicht verstehen, denn verstünde er ihn, würde seine Lust am Warnen sofort erkalten.
K. Und er, O., sei sich sicher, dass sie noch über Shteyngart sprächen, oder  nicht doch über Frank Witzel und sein vom Wahnsinn getriebenes Buch, oder selber die Zone des Nachvollziehbaren schon verlassen hätten?
O. Neinnein, sie sprächen noch über Shteyngart, aber K. hätte jetzt genau das Manöver vollzogen, das Kritiker gerne vollziehen, sobald sie ihre innige Beziehung zum Warnen lösen könnten: Sie ziehen sich in metaphorische Höhen zurück und entziehen sich den vorgebrachten Argumenten.
K. Er wolle ihn zu weniger Vorsicht überreden?
O. Richtig.
K. Und – das bedeute?
O. Wenn es um ein Buch wie das von Gary Shteyngart gehe, keine Angst davor zu haben, ein Urteil abzugeben, das ihn angreifbar mache.
K. Aber Shteyngarts Roman zwinge ihn zum Abwägen.
O. Sie könnten es austesten, ob es diesen Zwang wirklich gäbe. Wann spüre er diesen Zwang das erste Mal?
K. Beim zweiten Satz des Buchs.
O. Vorlesen.
K. Was, am Telefon? Okay, er lese: „Im Jahr davor hatte ich versucht, für eine Bürgerrechtskanzlei als Anwaltsassistent zu arbeiten, aber das war nichts. Die Stelle bedeutete viel Kleinstarbeit. deutlich mehr, als ein nervöser junger Mann mit Pferdeschwanz, mittelschwerem Drogenproblem und einem Hanfstecker auf der Pappkrawatte bewältigen konnte. Nie war ich näher daran, den Traum meiner Eltern von einem Anwaltssohn zu erfüllen. Wie die meisten sowjetischen Juden …“ usw.
O. Und?
K. Ob er nicht verstünde: Jeder dieser Sätze sei überdeterminiert. Shteyngart hätte seinen Ideen und seinem Drang zum Überpointieren einmal Schalterschluss verordnen sollen.
O. Schalterschluss – exakt darum ginge es.
K. Da stimme er ihm zu, darum ginge es. „Nervöser junger Mann“ plus „Pferdeschwanz“ plus „mittelschweren Drogenproblemen“ plus Hanfstecker“ – das sei zu viel des Guten. Erstens. Und zweitens: Dieses Überangebot hätte zudem den Nachteil, dass es die geschilderte Figur nur zum Teil ernst nähme. Ihr gehe es schlecht, aber der Autor benutze sie als Plattform zu Ironiedemonstrationen. Das sabotiere die Figur, und wenn sich solche Passagen summierten, werde ihm, K., das zu viel. Nicht grundsätzlich, aber bis zu einem gewissen Grad. Es gäbe ja auch andere Passagen.
O. Was er eben gehört habe, sei Kritikers Nachtgesang oder Abgesang, wie immer man es sehen wolle. Ein Zuviel, dem ein Weniger gegönnt werden solle; grundsätzlich natürlich nicht, aber wenn die entsprechenden Passagen kämen.
K. Das nenne er nicht Nachtgesang oder Abgesang, dafür benutze er ein sachlicher klingendes Wort: das Wort „differenzieren“.
O. Oh ja, er differenziere, bis er als Kritiker in der Differenz verschwunden sei. Tatsächlich bestünde zum Differenzieren bei Shteyngart kein Grund.  Dessen Überdrehtheit zeichne ihn als Autor aus. Das mache die Individualität dieses Autors aus und stelle ihn, K., vor die Alternative: entweder diese Individualität gut zu finden oder den Autor nicht zu mögen, und dann die Finger von seinem Buch zu lassen, wegen Nichtzuständigkeit.
K. Das sei das Ende der Literaturkritik. Er kenne keinen literarischen Duktus, der entweder zu einem pudelwohligen „Ja“ oder zu sorgenzerfurchter Enthaltsamkeit zwinge. Keinen.
O. Nächste Kritikerkrankheit: an den falschen Stellen prinzipiell zu werden.
K. Jetzt werde er auch noch zum Arzt geschickt.
O. Nein, da sei er schon. Er erinnere an Prophylaxe. Es ginge doch nicht darum, ob ein literarischer Duktus zu etwas zwingen könne. Sie sprächen über Shteyngart. Und dessen zugespitztes Erzählen in das abkühlende Bad des Abwägens zu legen und zu dem Schluss zu kommen, Shteyngarts Kleiner Versager sei ein gutes Buch, auch wenn er gelegentlich über das Ziel hinausschieße, darum ginge es doch.
K. Genau.
O. Eben, und ein solches „ja, aber“ ginge am Erzählduktus von Shteyngart vorbei.
K. Nein, es fasse seinen Leseeindruck gut zusammen. Er würde gerne noch etwas differenzierter in der einzelnen Formulierung werden, aber im Prinzip hätten O.s Formulierungen eben schon die richtige Richtung eingeschlagen.
O. Und auf diese Weise wolle er tatsächlich die Geschichte dieses jüdischen Jungen vom Einwandererkind zu einem amerikanischen Schriftsteller mit einem Ausbildungszwischenstopp am Oberlin-College abschmecken und diese Geschichte mit spitzen Fingern anfassen, wenn er mit seinen Hanfsteckern und mittelschweren Suchtproblemen anfange? Und dann noch sagen: Nicht der Inhalt habe ihn auf Abstand zu dieser Geschichte gehalten, sondern das übertrieben locker Dahingeworfene in den Formulierungen?
K. Genau. Jetzt bestelle er zwei Fanfarenbläser im Schallarchiv.
O. Da solle er noch ein bisschen warten. Denn das sei risikoloses Dahinräsonieren in dem Stil: Hier ein bisschen gut, da ein bisschen schlecht, und da ein bisschen gar nichts von allem.
K. Zu solchen Urteilshöhen gelange, wer das Unterschiedliche herausarbeite.
O. Bei Shteyngart sei das aber eine Anstrengung am falschen Objekt. Und da seine Kollegin die ganze Zeit über schon vor ihm stehe und einen großen Kreis mit ihren beiden Händen forme, das Zeichen, dass er zum Schluss kommen solle, komme er jetzt zum Schluss. Über Shteyngarts Kleiner Versager möchte er von K. keine Kritik lesen. Und K. solle sich auch eine kleine Pause gönnen, bis er ihn wieder anriefe und ihm eine wohl abgewogene Buchbesprechung vorschlage.

Szene vier

K. nimmt sein Handy vom Ohr und schaut auf das Display. O. hat tatsächlich aufgelegt. Derart abserviert wurde er schon lange von keinem Redakteur mehr. In der oberen Magengegend spürt K. kurz etwas Helles und Hartes. Danach gerät seine Atmung durcheinander. Er hat vergessen, wann er ein- und wann er ausatmen soll. Genau betrachtet, hat noch nie ein Redakteur derart abrupt ein Gespräch mit ihm beendet, fällt ihm ein. Aber: über das Gespräch möchte er jetzt lieber nicht nachdenken. Es wäre jetzt gut, wenn er aus der Wohnung herauskäme. Im Park gäbe es mehr Luft als hier, und was er jetzt benötigte, sei Luft. Er steht auf, geht in den Flur, zieht seine Jacke an und eilt das Treppenhaus hinunter. In welchen Park geht er? Zwei Parks sind ungefähr gleich weit entfernt. Er weiß es nicht, öffnet die Haustür und schaut nach oben. Graue Wolken. Vom Himmel sieht er nichts.

Klaus Siblewski ist Verlagslektor, Initiator der Deutschen Lektorenkonferenz und Herausgeber. Zuletzt erschienen von ihm die Bände Wie Romane entstehen (2008, zusammen mit Hanns-Josef Ortheil) und Wie Gedichte entstehen (2009, zusammen mit Norbert Hummelt) im Luchterhand Verlag.

Gary Shteyngart: Kleiner Versager.
Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt.
Rowohlt, Reinbek 2015.
480 Seiten, € 22,95 (D) / € 23,60 (A).