In Dr. Shigetos Heimat

Ein Dramolett von Klaus Siblewski

Online seit: 3. März 2015

Der Kritiker K. ruft nach längerer Zeit wieder bei O. an, einem Literatur-Redakteur in einer Sendeanstalt im Norden der Bundesrepublik. O. sollte, weil er häufig fehlte, seine Anstellung im Sender verlieren, kann aber seine Arbeit fortsetzen. K. hatte davon gehört und entschloss sich, bei O. wieder anzurufen.

K Hier K.
O Aha.
K Ob er ihn noch kenne?
O Ihn, K., aber ja.
K Er wolle das neue Buch von Ōe besprechen. Titel: Licht scheint auf mein Dach.
O Aha.
K Habe er etwas gegen Ōe einzuwenden?
O Gegen Ōe? Warum?
K Gegen Ōe könne doch kein Kritiker literarisch anspruchsvoller Bücher Einwände haben.
O Das würde er nicht sagen. K. spitze wie immer stark zu.
K Sei O. mit Ōe doch nicht einverstanden?
O Jedes Buch verdiene kritische Betrachtung, und solange nicht feststehe, ob ein Buch gelungen sei, sei Vorsicht geboten. Aber er wolle nicht vorgreifen.
K Das verstehe er nicht. Ōe gehörte für ihn, K., zu den wenigen Autoren, deren Qualität feststünde.
O Gegen diese Sicht müsse er sich aus prinzipiellen Gründen wenden. Selbst Goethe dürfe an der Kritik nicht vorbei geführt werden?
K Das müsse er erst verkraften. Ein Literaturredakteur deute an, er wolle das neue Buch von Ōe lieber nicht besprechen lassen – mit vielem habe er gerechnet, damit aber nicht. Eine Niederlage der Literatur sei das.
O Ob er sich mit dem Verkraften etwas beeilen und das Erleben einer Niederlage demnächst ebenfalls beenden könne, sonst kämen sie in diesem Telefongespräch nicht mehr zum Kern der Sache.
K Er beeile sich. Die Verkraftungskräfte flössen.
O Er warte. Verliefen diese Verkraftungskräfte in graden Bahnen oder müssten sie viele Kurven nehmen?
K Über die Fließrichtung seiner Gefühle, gerade oder in Kehren, hätte er sich noch keine Gedanken gemacht.
O Dazu wolle er ihn auch erst nach Ende ihres Gesprächs anregen, sonst müsse er noch mehr Zeit als jetzt schon mit dem Telefonhörer am Ohr verbringen.
K Ob er in seinem Inneren der Vorstellung vielleicht Raum geben könne, er ginge gelegentlich zu weit?
O Womit. Mit Ōe?
K Hätten sie jetzt von Ōe gesprochen? Seine Verständniskapazitäten seien mittlerweile ebenfalls ausgelastet, das müsse er zugeben.
O Ja, habe K. nicht wegen Ōe angerufen? Bisher sei er, O., dieser Ansicht gewesen.
K Dann sei er Ōe doch in einem guten Sinne zugetan?
O Er, K., presche wieder vor.
K Wohin wer von ihnen gerade presche, wisse er nicht zu sagen. Ob er ihm beim Sortieren ihres Gesprächs helfen könne?
O Jetzt solle er K. sagen, was K. ihm sagen wolle. Das überträfe, was von einem Literaturredakteur erwartet werden dürfe.
K In ihm breite sich das Bedürfnis nach einer Pause aus. Vielleicht solle jeder von ihnen erst einmal mit sich selber telefonieren und dann erst wieder das Gespräch mit dem anderen suchen.
O Ob K. K.s Telefonnummer habe? Womit er nur könne, wolle er K.s Gespräch mit sich selber fördern.
K Sollte er jemals seinen Lebensmittelpunkt in eine Heilanstalt verlegen müssen und dort in Gespräche wie dem ihren verwickelt werden, wüsste er, dass er an die richtige Stelle versetzt worden sei. Aber bisher verteidige er die Vorstellung, es sei zu dieser Verlagerung seines Standorts noch nicht gekommen.
O K. formuliere schon wieder mutig und lege in seine Satzgebilde jene frische Unangefochtenheit, die er nur von K. kenne. Er, O., sei sich, wenn er an den Sender denke, nicht sicher, ob er nicht den Außenposten einer Klinik betrete, sobald er den Pförtner hinter sich lasse.
K Und ihn, K., wolle er davon überzeugen, seine Einzimmerwohnung hier in der gut gelüfteten Höhe des vierten Stockwerks eines Altbaus sei eine abgelegene Station des am Ort ansässigen Krankenhauses?
O Diesem Gedanken solle sich K. nicht verschließen, etwas Heilsames läge in ihm.
K Kurze Frage, ob er heute schon etwas geraucht oder geschluckt habe oder schon zu beidem gegriffen habe?
O Jetzt spreche er mit K. einmal unverstellt, und K. werde gleich komisch.
K Okay, dann spiele er das Spiel mit. Ob er ihn in das Heilsame seiner Überlegungen einweihen könne? Etwas Aufklärung schade in dieser Phase ihres Gesprächs sicher nicht.
O Langsam fänden sie zueinander. Der Gewinn? Demut.
K Demut. Aha.
O Er habe es präzise erfasst.
K Demut empfände er, wenn er ein Gotteshaus betrete.
O Er komme der Sache nahe.
K Der Sender entpuppe sich, wenn er als Irrenhaus begriffen werde, als Gotteshaus?
O Er solle von dieser Bemerkung das naturalistische Gewand entfernen und ihr gestatten, in die Höhen der Metaphorik aufzusteigen. Dann habe K. begriffen, was O. ihm sagen wolle.
K Er habe mit dem Lösen der naturalistischen Hülle begonnen.
O Jetzt verströme sich K. wieder in den für K. typischen Langwierigkeiten. Das zwänge ihn, O., seinerseits naturalistisch zu werden. Ob er sich unter den Sitzungen von Abteilungsleitern etwas vorstellen könne oder unter Gesprächen von Kollegen auf dem Gang. Feiern seien das, allerdings würde da in Weihestunden das nur schwer Nachvollziehbare begangen werden.
K Aha.
O Wer aber wisse, dass auf den Fluren und in den Konferenzräumen diese Feste gefeiert würden, dem falle es leichter, an diesen Messen teilzunehmen.
K Ihm falle gerade etwas ein. Vielleicht kämen sie in ihren Gespräch schneller vom Fleck, wenn er sich als Wiedergeburt Napoleons vorstelle und damit drohe, seine Truppen durch das Telefon zu schicken, falls das Buch, das er rezensieren wolle, ihm zur Besprechung nicht oder nur widerwillig überlassen werde?
O Er sähe, sie verstünden sich.
K Jetzt habe das Unverständnis zwischen ihnen einen Gipfelpunkt erreicht. Er hoffe nur, dass niemand zur Verbesserung der Gespräche mit dem Sender dieses Telefonat aufzeichne. Er möchte nicht, dass dieses an Kurven reiche Gespräch dokumentiert werde.
O Er solle nicht so zaghaft sein, ihr Gespräch erreiche bald ein Niveau, das auch K. bald nur noch als vernünftig bewerten könne. Er habe gerade das Wort ‚niemand‘ verwendet.
K Ja ja, er habe auch noch ein paar andere Wörter verwendet, falls diese Hinweise weiterführenden Charakter besitzen.
O Weswegen habe K. noch einmal angerufen?
K Er höre schon einen Pfleger mit einem Schlüsselbund sich nähern, wolle aber die Fassung bewahren. Wegen Ōe habe er angerufen.
O Er meine Kenzaburō Ōe?
K Genau, der habe ein neues Buch mit dem Titel Licht scheint auf mein Dach geschrieben, das möchte er gerne besprechen.
O Ōe, ein bemerkenswert guter Autor.
K Aber das sage er doch.
O Und jetzt kämen sie zum ‚niemand‘.
K Ob er, O., seine Ausführungen über diese Vokabel in einem überschaubaren Rahmen halten könne?
O Ōe liebe Niemande. Das stünde doch auf den letzten Seiten von Licht scheint auf mein Dach. Menschen mit mittelmäßigem Verstand, die sich für nichts besonderes halten. Diese Niemande gäbe es im Rundfunk nicht. Jeder sei ein ‚Jemand‘, mindestens. Und ‚Niemande‘ gebe es auch in Ōes Bücher eigentlich nicht. Jede seiner Figuren habe etwas Einzigartiges, und die Bücher selber seien es auch: einzigartig eben.
K Das sage er doch, oder hätte er sagen wollen.
O Und die vielen Perspektiven, die Ōe in der Schilderung seiner Familie, seinem Lieblingsstoff, eingenommen habe. Und wie viel Perspektiven in seiner Familie auf die Familie eingenommen werden würden. Aus fünf Menschen bestünde diese Familie, darunter ein behinderter Sohn, und jeder in dieser Familie sei bereits ausgiebig zu Wort gekommen
K Lebenskrisen seien immer der Ausgangspunkt bei Ōe .
O Der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki aber auch.
K Ōes Sätze klängen einfach, besäßen aber eine enorme Sprengkraft. Zum Beispiel: „Ohne den Prozess dieses immensen Leidens gäbe es auch die ‚Phase der Akzeptanz‘ nicht.“ Das sei doch ein Satz mit einer ganz eigenen Kraft.
O Er habe auch einen Lieblingssatz: „Hier in Dr. Shigetos Heimat aber, in der Jahr um Jahr alles in neuem Grün erstrahlt, denke ich an die Toten (des Atombombenabwurfs), die tiefe Spuren in mir hinterlassen haben, und spüre, dass in der Tiefe unserer Welt das Leben dieser Toten unblässig erneuert und wiedergeboren wird …“ Die Dimensionen dieses Satzes müssten erst einmal ausgelotet werden.
K Dazu fordere er ihn aber bitte jetzt nicht am Telefon auf.
O Nein. Seine Auslotkapazitäten würden vermutlich nur genauso zäh in Schwung kommen wie seine Verkraftungsenergien vorhin in Bewegung geraten seien. Aber ihr Gespräch erinnere ihn an Passagen in Ōes neuem Buch. Um Tod ginge es nicht, aber um viel nervlich Angegriffenes.
K Er wolle jetzt nicht fragen, ob sie über den gleichen Autor sprächen?
O Er merke, selbst wenn sie der gleichen Meinung seien, verstünden sie sich trotzdem nicht.
K Es herrsche Verwirrung zwischen ihnen, wie es bei Ōe gelegentlich um durcheinander geratene Gefühle zwischen den Familienmitgliedern ginge. Soweit könne er folgen.
O Obwohl das neue Buch doch nicht die Kraft der früheren Bücher Ōes besitze. Stille Tage sei sein Lieblingsbuch. Möglicherweise kenne sich Ōe mittlerweile in den Themen, wenn er über seine Familie schreibe, zu gut aus. Das schwäche seine Sätze.
K Obwohl, mit zunehmender Dauer finde das Buch zu der von ihm bewunderten Ōeschen Kraft.
O Und der Anfang? Der müsse doch auch gelesen werden.
K Vielleicht solle er dem Buch die Chance einräumen, sich zu entwickeln?
O Zu einer Art Lebensratgeber? Denn  darum ginge es Ōe anscheinend. Ein alter Mann denke über seine Familie nach und wolle alles in einem guten Licht erscheinen lassen, damit er sich keine Vorwürfe machen müsse, wenn es mit ihm zu Ende gehe. Er habe einen Lebensratgeber mit sich als Ratgebendem und Ratsuchenden geschrieben.
K Jetzt münde ihr Gespräch wieder in einer gefährlichen Zone ein. In Ōes Buch einen Ratgeber zu sehen, würde sein Vorstellungsvermögen transzendieren. Er habe ein Familienporträt mit sich als gelegentlich undeutlichem Zentrum geschrieben. Das sei doch sympathisch.
O Wer Sympathie als eine Kategorie in die Literaturkritik einführe, dem gehörten sämtliche Stifte weggenommen und der Computer entzogen.
K Er habe doch gleich vermutet, es werde wieder schwierig. Warum solle es keine Bücher geben, die sich dem Leben zuwenden. Auf lebensbejahende Art?
O Weil das Leben ein Schrecken sei.
K Im Augenblick stelle er nur fest, dass das Gespräch mit O. ein hohes Schreckpotenzial besäße.
O Wenn er schreckfreier voran kommen wolle, solle er sich kurz an Ōe schulen und es einmal mit einem einfachen Satz versuchen.
K Er versuche es.
O Er solle mit dem Versuch beginnen.
K Er wolle fragen, ob O. sich vorstellen könne, dass K. für O. den neuen Roman von Ōe bespreche.
O Den Satz habe er in K.s übliche komplizierte Verschachtelungen hineingetrieben, die Frage dagegen sei tatsächlich von simpler Natur.
K Und das bedeute?
O Was das bedeutet? Ob er diese Frage ernst meine?
K Wenn er ihm seine Direktheit nicht übel nehme.
O Aber das sei doch klar. Jedes neue Buch von Ōe verdiene es, besprochen zu werden.
K Aber genau das habe er O. doch sagen wollen. Über Ōes Meisterschaft müssten sie dich doch nicht verständigen.
O Ganz im Gegenteil: Aber auch etwas Selbstverständliches müsse als selbstverständlich erst begründet werden.
K Um Gottes willen, jetzt führten sie das Gespräch, das sie gerade hinter sich gebracht hätten, nochmals von Neuem.
O Er habe K. bisher nicht in dieser Weise für fragil gehalten, wie er sich gerade gebe.
K Ob er auflegen und sich mit Ōe weiter beschäftigen dürfe?
O So reagierten in letzter Zeit viele auf ihn.
K Vielleicht gäbe es für diese Reaktionsweise Gründe. Darüber spräche er mit ihm aber lieber in einem nächsten Gespräch.
O Dann solle er gefestigter anrufen.
K Er werde sich Mühe geben, aber, offen gesagt, zittere er schon jetzt.

Klaus Siblewski ist Verlagslektor, Organisator der Deutschen Lektorenkonferenz und Herausgeber. Zuletzt erschienen von ihm die Bände Wie Romane entstehen (2008, zusammen mit Hanns-Josef Ortheil) und Wie Gedichte entstehen (2009, zusammen mit Norbert Hummelt) im Luchterhand Verlag.

Dieser Beitrag erschien zuerst in VOLLTEXT 1/2015.

Kenzaburō Ōe: Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie. Roman. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 352 Seiten, € 19,99 (D) / € 20,60 (A).