Ein Gespräch über Schwänze

Kathrin Passig und Clemens J. Setz über Bücher, Träume, Krokodile und Kunstsprachen sowie über Schwänze und Schweife bei Mensch und Tier.

Online seit: 12. Oktober 2015

Clemens J. Setz Letzte Nacht habe ich von Franz Schuh geträumt, genauer: von seinem Hinterkopf. Das ist doch ein fantastischer Hinterkopf, oder? So radiergummimäßig und stoppelbehaart, ein stirnrunzelnder Oktopus, bei so einer herrlichen Struktur werden meine Fingerspitzen immer ganz kribbelig und wollen daran herumkneten … Ich frage mich, wie wohl mein eigener Hinterkopf auf andere Menschen wirkt. Ich weiß ja kaum etwas über ihn, ich sehe ihn nur gelegentlich beim Friseur ganz kurz, wenn der kleine Handspiegel wie eine Bild-Sprechblase hinter meinen Kopf gehalten wird. Schöne Hinterköpfe sind eine Wohltat. William T. Vollmanns Hinterkopf ist auch sehr hübsch. Ich lese gerade seinen Roman The Dying Grass, und das hat mich beim Lesen bisher sehr durchgeschüttelt und verprügelt, so, wie ich es bisher nur bei Michel Fabers wahnsinnigem Roman Under the Skin hatte. Oder bei Dennis Cooper.

Kathrin Passig Der Hinterkopf von Franz Schuh hat mich auch gleich fasziniert, ich wollte dich darauf hinweisen, aber wir standen zu nah dran. Ich hätte ihn gern angefasst. Under the Skin wollte ich gerne mögen, aber es ging nicht so richtig, es war mir zu sehr mit dem Zaunpfahl erzählt und auch auf eine merkwürdige Weise sexfeindlich. Schade, „verprügelt“ klang so interessant. Und ich fürchte, Dennis Cooper und ich werden auch keine Freunde, obwohl mir da der Ansatz schon besser gefällt. Aber der Vorgang des Buchempfehlens ist ja auch für sich genommen ganz sympathisch, ohne Rücksicht auf das Ergebnis.

Clemens Setz
Clemens J. Setz: Das ist bestimmt ein Sinnbild für irgendwas Dunkles und Unterbewusstes, so ein kleines, gelbes Fingerkrokodil, das einem die Nervosität vertreibt, indem es den Finger verschluckt.

Setz Ja, der Zaunpfahl schwingt bei Michel Faber über die Köpfe der Leser, das stimmt. Ich war damals, als ich es gelesen habe, wohl noch empfänglicher für so was. Aber die Erinnerung an das Buch fühlte sich, vielleicht weil es auch wie ein Thriller gebaut ist, ähnlich an wie die Erinnerung an Sand. Bei Cooper hätte ich dich vielleicht warnen müssen, dass sein neuester Roman The Marbled Swarm nicht ganz so gut ist. Frisk, Try und The Sluts haben mir dagegen sehr gut gefallen.

Passig Es war nicht The Marbled Swarm, sondern Closer, und wenn du Protagonisten magst, die von ihrem Autor nur so aus Prinzip von Sexszene zu Sexszene gescheucht werden, könnte dir Stewart Home gefallen. Ich kenne nur Stellungskrieg, den englischen Titel weiß ich nicht, ich war aber mit der deutschen Übersetzung entweder zufrieden oder habe mich so über den Inhalt gefreut, dass mir die Übersetzung egal war. Bei der Kopulation (straighter Natur, hier zählt Quantität, nicht bourgeoise Verfeinerung) werden engagierte Reden über Politik gehalten, und in der ebenfalls verwirrten Amazon-Beschreibung heißt es: „Hohe Ideen gerieren sich, wenn überhaupt, als Produkte sexueller Belästigung!“ Was dir auch gefallen könnte, ist Das Leuchten der Papaya von Christian Maier. Zum einen geht es darin um das wunderbare Konzept der Ethnopsychoanalyse, das mir bis dahin unbekannt war, sich aber sofort im Kopf festfrisst. Man taumelt danach tagelang als Ethnopsychoanalytiker durch die Welt und analysiert noch das Rascheln der Blätter im Wind. Der Autor verlässt seine Analytikerpraxis in der Schweiz und geht für einige Monate als Fußballtrainer zu den Melanesiern. Ich nehme an, die Lektüre ist noch schöner, wenn man sich für Fußball interessiert, und ich nehme an, dass du das nicht tust. Es geht aber auch so sehr gut. Disclaimer: Ich glaube nicht an Buchempfehlungen.

Setz Ja, manchmal mag ich solche Bücher tatsächlich, wo die Leute sich andauernd paaren. So etwas ist ja relativ weit von meiner eigenen Erfahrungswirklichkeit entfernt (also das mit der Quantität, nicht das mit der bourgeoisen Verfeinerung), also kann es mich schon faszinieren, so als Konzept. Ich war erst ein einziges Mal in meinem Leben in einem Raum voller kopulierender Menschen und da bin ich relativ bald wieder gegangen, weil es so befremdlich ausgeschaut hat, wie der misslungene Versuch, die Teile einer Rube-Goldberg-Maschine zu synchronisieren … Alles aus dem Takt. Andererseits – wie befremdlich wäre es wohl gewesen, wenn alle Körper tatsächlich im Takt gewesen wären? Na ja … Mir kommt manchmal vor, je mehr Sexszenen ich in Romanen lese, desto romanhafter werden sexszenenähnliche Erlebnisse in der Wirklichkeit. Vor ca. zwei Jahren zum Beispiel hat mich eine Bekannte zu sich eingeladen, weil sie und ihre Freundin gerne jemanden haben wollten, der ihnen beim Liebesspiel zuschaut. Das mögen die beiden gern. Also wirklich nur zuschauen, nicht beteiligen. Und so was geschieht normalerweise, hab ich mir gedacht, nur in Romanen oder Filmen, aber da war’s auf einmal real. Und ich war natürlich sehr nervös, weil ich nicht wusste, wie das wird. Hinterher hat mir meine Bekannte erzählt, dass man mich hätte fotografieren sollen, wie ich da mutlos zusammengesackt in dem Sessel vor ihnen gehockt bin, wie vor einer Prüfung. Wir sind dann glücklicherweise als lachende Selbstironiker auseinandergegangen (sicher ist sicher), aber ich hab mich dann doch beim Nachhausegehen gefragt, ob sie vielleicht ab irgendeinem Zeitpunkt ihre Orgasmen einfach vorgetäuscht haben, aus Mitleid, um mich aus meiner albernen Starre zu erlösen. Eine recht eitle, aber literarisch wiederum sehr reizvolle Theorie …

Katrin Passig
Kathrin Passig: Wenn ich alles wieder vergesse, möchte ich weiterhin bei Bedarf auf Esperanto sagen können: Das Krokodil hat einen schönen Schwanz.

Passig Ich saß mal im Taxi neben Thomas Macho, einem österreichischen Kulturwissenschaftler aus Berlin. Es ging um den Kittler-Nachlass, und Macho sagte, Kittler habe den Fehler gemacht, als er krank wurde, nicht seine Festplatten zu löschen, die jetzt von Studenten aus Werkausgabegründen durchwühlt werden. Er habe vor, seine Festplatten auf jeden Fall rechtzeitig zu löschen. Ich sagte: Aber man ist doch dann tot, und es ist einem nichts mehr peinlich. Er sagte: Als Österreicher bin ich sehr wohl in der Lage, noch tot alles Mögliche peinlich zu finden. Das werde ich als Nichtösterreicherin nicht fertigbringen, aber lebendig bin ich darin ganz gut, was unter anderem dazu geführt hat, dass ich nach dem Erscheinen von Die Wahl der Qual jahrelang SM-Veranstaltungen gemieden habe, weil ich dachte: Die Leute denken doch, ich müsste mich damit jetzt auskennen! Später bin ich dann aus anderen Gründen wieder nicht hingegangen. Letztes Jahr hat mich jemand schriftlich zum Thema „Scheitern“ interviewt. Ich habe den naheliegenden „an Kleinigkeiten gescheitert, aber insgesamt natürlich total erfolgreich, haha“-Text geschrieben und dann ein paar ernsthafte Scheiternsthemen vorgeschlagen, darunter auch diesen Abstand zwischen ausgefeiltem Wunsch und alberner Wirklichkeit. Aber natürlich wollte er gar nichts über Scheitern wissen und hat die uninteressante Version genommen.

Setz Also für den Unsinn, der auf meinen Computern ist, würde ich mich, glaube ich, nicht genieren, auch nicht als Lebender. Oder, na ja, vielleicht doch. Es ist immer ein bisschen komisch, wenn Leute plötzlich etwas über einen erfahren, das sie überrascht und verwirrt, obwohl es einem selbst recht gleichgültig und selbstverständlich ist. Eine Schriftstellerkollegin aus