Aus dem Zettelwerk

Von Karl-Markus Gauß. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 72

Online seit: 1. Juli 2022
Karl-Markus Gauß © Marco Riebler
Karl-Markus Gauß. Foto: Marco Riebler

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass jemand Faschist wird, weil es ihm schlecht geht. Er wird Faschist, weil er möchte, dass es anderen schlechter ergeht als ihm.
Es ist nicht die „berechtigte Sorge“, auf die er leider nur eine falsche Antwort parat hat, sondern die Wut, das täglich halluzinierte oder berechtigte Gefühl der Demütigung, das ihn nicht von einer besseren Welt träumen oder gar für sie einstehen, sondern nach Menschen Ausschau halten lässt, die er selber drangsalieren und demütigen könnte.

Was ist ein Shitstorm? Die Zivilisation hat für die Ausscheidung von Fäkalien besondere Orte geschaffen, in die sich in der Regel zurückzieht, wer sich der leiblichen Giftstoffe entleeren möchte. Die digitale Zivilisation stellt jenen, die Scheiße nicht in ihrem Enddarm zur Ausscheidung lagern, sondern in ihrem Gehirn, digitale Abwasserkanäle zur Verfügung, in die sie ihren Unrat kolikartig entladen können. Wenn sich viele dazu entscheiden, gerät die an und für sich schon unappetitliche Sache zum Shitstorm. Es ist hilfreich, amerikanische Wörter manchmal in ihrer Bildhaftigkeit wieder konkret zu nehmen: Um nichts anderes handelt es sich als einen Sturm aus Scheiße, mit der jemand, der eine Auffassung verfochten hat, die anderen unlieb ist, überschwemmt werden soll, auf dass er in ihr ertrinke.

Die sich am Shitstorm beteiligen, bilden die SA der digitalen Welt.

Was sind das für Menschen, die ihre geistigen Fäkalien in solche reißenden Flüsse leiten? Es ist der Abschaum, den man nicht Abschaum nennen darf, weil er sonst gekränkt ist, der aus der Demütigung anderer seine Lust und sein Gefühl von Stärke bezieht. Die sich am Shitstorm beteiligen, bilden die SA der digitalen Welt.

Vor Jahren bin ich höhnisch über einen Kritiker hergezogen, der nach Lektüre von ein paar Büchern osteuropäischer Autoren selbstherrlich proklamierte: „Der Osten leuchtet nicht mehr“. Dabei ist der Osten heute auch mir eine erloschene Hoffnung, die auffallend rasch niedergebrannt ist und einen auffallend unschönen Aschehaufen ergibt. Vermutlich war sie der Fehler, die Anmaßung des Westlers, der utopieversessen in den Osten schaute, als würde dort endlich wieder etwas Großes und Würdiges heraufdämmern. Dieser Irrglaube, andere müssten die Dinge für uns Müde richten, die wir selbst gar nichts mehr zu ändern wissen, dieser Sehnsuchtsexport nach Osten (oder eine Generation vorher nach Lateinamerika), für den wir uns einen ordentlichen Import an unverfälschtem Leben, echten Idealen etc. erwarteten.
Die meisten Ost- und Mitteleuropäer haben 1989 übrigens nicht davon geträumt, ihre Staaten auf westlich-liberalen Standard zu bringen, sondern nach Jahrzehnten der Bevormundung so etwas wie nationale Souveränität zu erlangen, also über die Geschicke ihres Landes selbst bestimmen zu können und sich nicht nach den Parteitagsbeschlüssen der KPdSU richten zu müssen. Dieses nationale Anliegen, das man nicht als nationalistisch denunzieren darf, gab ihrem Aufbegehren die Kraft und Ausdauer und ließ das wie für ewige Zeiten gefügte Staatensystem des Ostblocks binnen weniger Monate zusammenkrachen. Wer dieses nationale Motiv ignoriert, weil es dem Westen nicht konveniert und dort der Nationalstaat bereits als Hindernis gilt, das der wahren europäischen Vereinigung entgegensteht, hat vom Umsturz der europäischen Ordnung im Jahr 1989 nichts begriffen.

Steirische Werbung in der Sonntagskrone: „Besuchen Sie das Schwarzenegger-Museum in Thal. Feiern Sie Arnold Schwarzenegger, den größten Österreicher aller Zeiten.“ Einmal nach Thal fahren, diese Tatsache im Wirtshaus bestreiten und bei lebendigem Leib von gesunden steirischen Zähnen zerfleischt werden.

Kaum läuft die Kamera, beginnt er zu würgen und endlich tüchtig zu schluchzen. Er wird nicht mehr damit aufhören können, so lange die Kamera auf ihn gerichtet ist. Es ist nicht Berechnung, die ihn so handeln lässt. Die Kamera hat die Aufgabe des Pfarrers von früher, dessen hör- und spürbare, im Dunkel des Beichtstuhls aber kaum sichtbare Präsenz im Sünder das Gefühl seiner Sündhaftigkeit steigerte. Hier ist es die Kamera, die Gefühle befeuert, die der Weinende gar nicht hatte, und die er erst zu empfinden fähig wurde, als über die Kamera eine Öffentlichkeit hergestellt war: die öffentliche Beichte als Bekenntnis zur Lüge.

Identitäres Leid. Ein Radfahrer, der in einer dieser hocherotischen Radlerhosen steckte und auch sonst adjustiert war, als würde er gleich bei der Österreich-Radrundfahrt mitfahren, beschwert sich in einem Leserbrief an die Salzburger Nachrichten, dass er im Café Bazar scheel von den Gästen und dem Personal angesehen und von beiden offenbar weder als zahlender Gast noch als Mensch wahrgenommen, sondern auf seine Existenz als Radfahrer reduziert wurde. Eine radikale deutsche Modephilosophin, die ihr Gesicht mit einem streng gezogenen Kopftuch eingefasst hat, beschwert sich im Interview mit dem Standard, dass die Leute in ihr immer nur die Muslima sehen. Als was möchten sie und der ihr wesensverwandte Radfahrer denn wahrgenommen werden? Er als gemütlicher Zivilist und sie als für den laizistischen Staat werbende Atheistin? Oder wollte er mit seinem Sportdress als Muslima anerkannt werden und sie mit ihrem Kopftuch als Radsportler? Sie treten aller Welt mit demonstrativen Zeichen ihrer Identität entgegen, werden sie aber mit ihrer identitären Selbstinszenierung identifiziert, empfinden sie das als unerhörte Kränkung.

Im Radio höre ich eine berühmte Skandalnudel, die ihre Karriere damit bestritten hat, sich als Nudel zu skandalisieren, bitterlich darüber greinen, dass sie in die Schublade der Skandalnudel abgelegt und nur aus dieser noch ans Licht der Öffentlichkeit geholt werde. Das ist ungerecht, denn sie beteiligt sich seit Jahren an einem Projekt zum Schutz von Löwenbabys in Afrika.

Avantgarde ist der Versuch, das Revier des Kommerzes beständig auszuweiten, die Avantgardisten sind die Fährtensucher des Kapitals. Warhol, der Werbestratege, hat die Glamourprodukte, für die er Reklame machte, eines Tages zu Meta-Glamourprodukten erklärt, sie aus der Sphäre der Werbung also in die der Kunst geholt. Für den dauerhaften Schaden, den er mit der Ausweitung der Kommerzzone anrichtete, wurde er hervorragend entlohnt, mit dem Geld der Kommerz- und dem Ruhm der Kunstwelt, aus denen er ein und dieselbe gemacht hat.

Geländegewinn. Die Avantgardisten erkunden als kühne Kavallerie neues Gelände, ob die Kunstwelt es nicht für ertragreich, nützlich, bewirtschaftenswert halten könnte. Dicht auf den Fersen folgen der Kavallerie der Kreativen die Bodentruppen der Kulturindustrie, die ihre Claims abstecken und nun lauter Dinge verkaufen, die vor den avantgardistischen Fährtengängern für unnütz, hässlich, peinlich gehalten wurden. Es waren die Wiener Aktionisten, die den Ekel, die Schlacht um die Exkremente zur Kunstform adelten und so den Ekelshows, dem Dschungel-TV, den Weg bereiteten. Man hat es ihnen pekuniär nicht wirklich gedankt, aber in Form von Staatspreisen, die sie sich in der Miene von Gedemütigten umhängen ließen. Auf die österreichische Fahne haben sie seinerzeit so fröhlich geschissen, wie sie heute betreten das Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaften tragen.

Die weißen Juden. Gemäß dem alten Nazibegriff galten Heisenberg und Thomas Mann als Juden, weil sie, wiewohl „Arier“, geistig „verjudet“ waren. Die antikoloniale Bewegung von heute hat das Naziwort aufgegriffen und die Juden zu Angehörigen der weißen, also der rassistischen Rasse erklärt. Der Holocaust, ist neuerdings zu lesen, werde gegenüber dem Kolonialismus überschätzt, und zwar aus dem rassistischen Grund, dass ihm mit den Juden Weiße, also Angehörige der Herrenrasse zum Opfer gefallen seien. Diese Thesen sind in den USA und Großbritannien keine Äußerungen skurriler Außenseiter, sondern gerade dabei, linksliberaler akademischer Mainstream zu werden.

Dass es arische Juden gebe, davon war auch Heimito von Doderer überzeugt. Den Juden war es, seinem gedanklichen Ringen in den späten dreißiger Jahren zufolge, nicht möglich, gebührend ergriffen zu sein, wenn die Nation vor wahrhaft Großem stehe und ihrer als „Schicksalsgemeinschaft“ innewerde: „Wer den profunden Stoß“ der Erweckung und Ergriffenheit nicht verspüre, ist „seiner Schicksalsgemeinschaft gegenüber – Jude. Oder er wäre zumindest zum Juden zu ernennen, auch wenn er keinen Tropfen semitischen Blutes hätte“. So kann man es auch sehen: Wer von der Erweckung der Deutschen durch Adolf Hitler nicht ergriffen wird, der muss ein Jude sein.

Woran erkennen Putin und die Seinen, welche Ukrainer dem Nazismus verfallen sind? Der Historiker Timothy Snyder hat die Reden und historischen Aufsätze Putins analysiert: Nationalsozialist ist jeder Ukrainer, der sich weigert zuzugeben, dass er in Wahrheit Russe ist. Da mag Erdogan in der Umwertung der Begriffe nicht zurückstehen. Wer sind Terroristen? Jene, gegen die das türkische Militär mit Terrorangriffen vorgeht. Also die Kurden in Syrien, deren Milizen Abertausende Jesiden und Christen vor der Vernichtung durch den IS gerettet haben.

Die Erfahrung des Jahrhunderts: „Gottes Gleichgültigkeit“. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist: Die Welt menschengemäß zu gestalten. Wie das gehen soll? Indem die „von allen Dogmen emanzipierte Ehrfurcht vor dem Leben“ gelehrt und gelernt werde. Eine Schule der Ehrfurcht könnte, müsste gerade die Kunst sein. Davon ist Joseph Hahn nie abgekommen, egal, wie oft er erfuhr, dass er eines Anderen belehrt werden sollte. 1917 als Sohn deutschsprachiger Juden geboren, war er definitiv einer der letzten Repräsentanten der deutschen Kultur Böhmens und Mährens. Ästhetik und Moral sind eins, davon war er überzeugt und ist es geblieben.
Er besuchte die Prager Kunstakademie, flüchtete 1938 nach England, später in die USA. Seine drei Gedichtbände sind nicht so sehr dem Holocaust, auch nicht der atomaren Bedrohung gewidmet, mit denen sie sich auseinandersetzen, als der bohrenden Frage, wie sich das Menschengeschlecht trotz alledem aus der Barbarei herausarbeiten könne. Seine Gedichte wie seine von bedeutenden Museen erworbenen Zeichnungen sind düster, aber Joseph Hahn appelliert gleichwohl dafür, nicht zu verzweifeln: „Wir kamen fortzuwaschen/den Schweiß der Verknechtung“. Erschienen ist das schmale Buch vor Jahren im Verlag Edition Memoria, der nichts anderes ist als das Lebenswerk eines merkwürdig weltfremden und menschenzugewandten Mannes, Thomas B. Schumann, der als Gymnasiast auf die deutsche Literatur des Exils kam und ihr seither sein wachsendes Archiv, seinen Verlag, sein Forschen, Sammeln und Edieren, sein Leben gewidmet hat.

Der Protestwähler. Wer Parteien wählt, die verlangen, dass aus dem Ausland kommende Arbeiter zwar die gleichen Sozialabgaben und Steuern wie einheimische Arbeitnehmer entrichten, aber damit keine Rechte und Ansprüche erwerben sollen, der will damit natürlich gegen die soziale Ungerechtigkeit protestieren. Das ist doch klar. Man muss nur endlich richtig verstehen, was das heißt: protestieren.
Ein Protestwähler sieht das Unrecht in der Welt und ärgert sich. Er hört, dass die Immobilien-, Versicherungs- und Bankenkonzerne, die vor ein paar Jahren Milliarden verspielt haben, schon wieder mit Spielen und Spekulieren beschäftigt sind, und macht sich Sorgen. Und er hat auch Grund, sich zu ärgern und Sorgen zu machen. Doch weil er gegen die Konzerne nicht ankann, schlägt er ersatzweise auf Leute, die noch kleiner sind als er. Und weil er keine transnationalen Profiteure kennt, hält er sich eben an den Ausländer, den Arbeitslosen, den Armen von nebenan. Gewohnheitsmäßig vor den Mächtigen zu kuschen und auf Hilfsbedürftige einzudreschen, das ist das Metier des Protestwählers, der dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist, und er Grund hat, sich zu ärgern, sich Sorgen zu machen und auf Schwächere einzuschlagen. Merkwürdig, wie viele Ausreden gesucht werden, den Protestwähler zu würdigen, zu verstehen, zu rechtfertigen. Dabei sind nicht die Parteien zu fürchten, die er wählt, sondern er selbst, der sie wählt und dem, was jene ideologisch und propagandistisch verfechten, verhängnisvoll zu gesellschaftlicher Wirksamkeit verhilft.

Seit langem halte ich in täglichen Notizen fest, was mir durch den Kopf geht, gleich ob es sich um meine eigenen politischen Ressentiments, Beobachtungen auf der Straße, Gedanken beim Lesen von Zeitungen oder Büchern, beim Fernsehen oder Spazieren, um ästhetische Einsichten, Gedankenblitze, aphoristische Wendungen, Ideen für literarische Projekte und noch vieles mehr handelt. Fast alle meine Bücher haben in diesen Notizen ihre Keimzelle. Für mich selbst nenne ich diese Aufzeichnungen „Das Zettelwerk“.

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Karl-Markus Gauß, 1954 in Salzburg geboren, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. Er hat u.a. eine Serie von Reisebüchern, die zwischen Reportage, Erzählung und kulturgeschichtlichem Essay changieren, sechs Bände mit Journalen, in denen er eine Vielzahl von Genres erprobt, um seine subjektive Chronik der Gegenwart zu verfassen, sowie autobiographische Versuche und Essaybände veröffentlicht. Er wurde zuletzt mit dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur (2013), dem Jean-Amery-Preis für europäische Essayistik (2019) und dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2022) ausgezeichnet. Ende 2022 wird er die Herausgeberschaft der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ nach 32 Jahren zurücklegen.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.