Atemlos ausgeklinkt

Von Jutta Treiber. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“

Online seit: 9. September 2022
Jutta Treiber © Hans Peter Treiber
Jutta Treiber. Foto: Hans Peter Treiber

Mein Sohn will sich das Leben nehmen, der Gedanke schießt in meinen Kopf, hakt sich fest, bohrt sich tief in mein Hirn, dunkle November-Corona-Nacht, ich sitze auf der Terrasse, Rauchkringel über dem Rotweinglas, das Leben ist schon seit langem nur mehr mit viel Rotwein zu ertragen, wobei Corona in diesem Jahr mein geringstes Problem war und ist, seit September spüre ich die Wolken der Depression, die über ihn, meinen Sohn Arian, hereinziehen, anfangs noch luftig und lichtgrau, später dichter und dunkelgrau, jetzt schwarz und schwer, ich habe ihm angeboten, in meinem Haus zu wohnen, so wie im Frühling und im Sommer, als das Leben zuerst bleischwer war und dann, plötzlich, wie durch ein Wunder, aber es war ein Wunder der Technik, schwerelos wurde, federleichte Sommerabende und Lachen beim Werbefernsehen, ich habe ihn gebeten, mich anzurufen und mir Bescheid zu geben, ob er mein Angebot annehmen wolle, denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, und es ist schon gar nicht gut, dass der depressive Mensch allein sei, aber er hat nicht angerufen, und am nächsten Tag konnte er sich nicht erinnern, dass ich ihn darum gebeten hatte, er konnte sich an gar nichts erinnern, außer vielleicht an seine eigene Trauer und seine Schuldgefühle, alles verschlossen hinter einem versiegelten Mund, scharfkantige Bilder von Arian und Selbstverletzung kriechen in meinen Kopf, warum gehe ich nicht einfach hinunter in sein Haus und schaue nach dem Rechten, aber da ist sie wieder, diese immerwährende Grenzlinie, auf der ich mich bewege, diese schmale Schwebebalkenlinie, Zirkusseillinie, von der man so leicht abstürzen kann, die Linie zwischen Schutz, Arian nennt es Kontrolle, und Freilassen, ich kann doch einen über 50-jährigen Mann nicht bemuttern als wäre er ein kleines Kind, das hat er mir schon viel zu oft vorgeworfen im Lauf seines Lebens, aber darf ich ihn freilassen, wenn ich spüre, dass das in seinen Freitod führen könnte, wobei … frei …, ich bete zu irgendeinem undefinierten Gott, er möge Arian diese Nacht überstehen lassen, und morgen würde ich ihn unter irgendeinem Vorwand in mein Haus locken und nicht mehr gehen lassen, morgen, denke ich, hoffentlich ist es dann nicht zu spät, noch ein Glas Rotwein, noch zwei Zigaretten, ich bin ein Idiot, warum tue ich nichts, ich stiere ins Rotweinglas, es ist leer, ich fülle es nach, zum wievielten Mal, mein Oberkörper schwankt, in so einem Zustand kann ich nicht in Arians Haus gehen, vielleicht bilde ich mir alles nur ein, vielleicht schläft er und ich würde ihn nur unnötig beunruhigen, oder ich würde ausflippen und mit ihm streiten, ich habe in den letzten Monaten zu viel Kraft verbraucht, mein Akku ist leer, ich sollte ihn anders auffüllen als mit Rotwein, Rotwein im Körper ist ein leicht entflammbarer Brennstoff. (…)

Dabei hat das Jahr 2020 geschäftlich sehr gut begonnen, im Jänner und Feber hatten wir mehr Besucher als im selben Zeitraum des Vorjahres und waren voller Hoffnung auf ein erfolgreiches Kinojahr, was mir allerdings Sorgen bereitete war, dass Arian extrem angespannt und angestrengt wirkte, er saß an der Kinokassa mit ständig gerunzelter Stirn, sprach mit zu hoher Stressstimme, jede Kleinigkeit brachte ihn aus der Fassung, automatisierte Handgriffe, die er früher wie im Schlaf erledigt hatte, fielen ihm so schwer, als würde er sie jedes Mal neu erfinden.

Und dann steht mit einem Mal alles still, ein Virus, aus China, weit weg zunächst, dann immer näherkommend, schließlich auch bei uns, schließlich überall, Virus, Shutdown, Lockdown, Pandemie, Wörter, die wir nie zuvor gebraucht haben, werden Teil der Alltagssprache, das Kino muss schließen, geplante Lesungen werden abgesagt, Tochter und Schwiegersohn arbeiten im Homeoffice, die Enkelkinder sind im Distance-Learning und überhaupt auf distance, Kontakte zu den Enkelkindern sind verboten, vor allem, um die Großeltern zu schützen, niemand fragt mich, ob ich geschützt werden will, ich bin über 70, ich habe die beste aller Welten erlebt, ich kann gehen, wenn es sein muss. (…)

Ich verfolge die Corona-News im TV, solange bis mir Hören und Sehen vergeht, werde zunächst immer skeptischer den Fallzahlen gegenüber, besonders den Todesfallzahlen, Meldungen wie: „94-Jähriger mit Vorerkrankungen plötzlich und unerwartet mit Corona verstorben“ lassen mir die verbliebenen grauen Haare zu Berge stehen, wenn ich an die Gewinner dieser Krise, Internetriesen, Pharmakonzerne, Plastikindustrie denke, wird mir speiübel, eine Zeitlang glaube ich Sprüche wie: Wo aber Gefahr wächst, wächst das Rettende auch – und so, kaufe Klopapier, nicht so viel wie die anderen, aber doch mehr als sonst, wenn die Lage beschissen ist, kaufen die Menschen Klopapier, immerhin besser als Waffen, ich räume wochenlang mein Haus auf, entsorge Tonnen von Altpapier in der Altpapiertonne, schreibe Hunderte von E-Mails, halte Video-Lesungen, gebe Video-Interviews, schneide die Rosen, pflege den Garten, putze ein bisschen in Arians Haus herum, er hat im Klo nicht einmal die Wasserspülung betätigt, ich backe Brot, mache Bärlauchpesto, mein Mann und mein Sohn helfen mir dabei, Arian ist nicht fähig, den Bärlauch fein zu hacken, ich mache witzige Fotos zu verballhornten Filmtiteln, die sich gleichzeitig auch auf den Shutdown beziehen, für den Kinoschaukasten und fürs Facebook, damit nicht immer nur die trockene Meldung „Wegen Corona geschlossen“ dort aufscheint, was wenig attraktiv ist und schließlich zu einem völligen Desinteresse führen würde, die Postings werden von den Kinofans hundertfach geliked, manche schreiben witzige Kommentare dazu, wie: Welcher Verleih? Wie lange ist die Spielzeit? Kann ich Karten bestellen?, Arian schaut auf allen diesen Fotos angespannt und angestrengt aus, obwohl er sich die größte Mühe gibt zu lächeln, ich hatte so sehr gehofft, dass er sich in den Wochen des Shutdowns entspannen und erholen würde, aber nichts dergleichen geschieht, er scheint mir mit jedem Tag noch angestrengter zu sein, als stünde er unter Dauerstress, ich kann es mir nicht erklären, oder eher will ich es mir nicht erklären, denn tief in meinem Inneren schwelt der Verdacht, dass mit seinem Kopf wieder etwas nicht in Ordnung ist, dass wir wieder auf die Via Dolorosa zugehen, die sehr lang und sehr steinig ist.

Mitte April habe ich den Generalputz beendet, das Kinofacebook ist am Laufen, Arian schaut immer angestrengter aus, meine Nächte sind von Schlaflosigkeit und Ängsten geprägt, die ich mit meinem Mann zu teilen versuche, ein Versuch, der kläglich scheitert, sein einziger Kommentar ist, Arian sei deshalb so niedergeschlagen und lustlos, weil ich ihm alles vorschreibe und weil ich sowieso und überhaupt viel zu dominant sei, ich hatte gehofft, dass mein Mann und ich uns in der Zeit des Stillstands wieder annähern würden, aber die Entfremdung wird immer größer, ich beschließe, ihm nichts Wichtiges mehr zu sagen, eines Tages hört Arian auf, mir E-Mails zu schreiben, bisher hat er mir trotz aller Angespanntheit fast täglich ein mehr oder weniger witziges Mail geschickt, da beginnen sämtliche Alarmsirenen in meinem Kopf zu schrillen, die Erinnerung an frühere Kopfoperationen öffnen sich, alle zugleich, Arian als Baby, nach der ersten Operation mit einem völlig verschrumpelten Kopf, Arian als Erwachsener, nach der achten Kopfoperation in einer schweren postoperativen Depression, monatelanges dumpfes Schweigen und in mir ein Aggressionspegel, der nicht einen Millimeter hätte höher steigen dürfen, sonst wäre es zu einer fatalen Explosion gekommen. (…)

Als er aufsteht, wankt er, und als er dann am Terrassentisch sitzt, droht er plötzlich vom Sessel zu fallen, ich darf ihn nicht mehr allein lassen, es ist viel zu gefährlich geworden, morgen muss ich auf der Neurochirurgischen Station im AKH anrufen und einen Termin für ihn ausmachen, ich habe es in der vergangenen Woche schon zigmal probiert, hing aber nur stundenlang in der Warteschleife, niemand hob ab, nicht einmal zu den angegebenen Anmeldezeiten, ich richte meinem alten Kind ein Bett im Gästezimmer her, Arian geht früh schlafen, ich schlafe nicht, sehe Bilder von blutigen Köpfen, denke an den Kopf meines Sohnes, den achtmal aufgesägten und wieder zusammengeflickten Kopf, an diese heimtückische unheilbare Krankheit, zu viel Gehirnflüssigkeit, die künstlich abgeleitet werden muss, und wenn das Ventil nicht funktioniert und der Überdruck steigt, kann Arian nicht einmal die einfachsten Dinge tun, dann verliert er völlig die Orientierung, findet kaum vom Nachbardorf nach Hause, weiß nicht mehr, wie man von einem Rad absteigt, und irgendwann kann er nicht mehr gehen, nicht stehen, nicht sitzen, nicht essen, nicht trinken, nur schlafen.

Am Morgen ist sein Zustand unverändert, wir frühstücken, er will mir Kaffee einschenken, trifft die Tasse nicht, der Kaffee versickert im Tischtuch, ich rufe im AKH an, bin völlig überrascht, als sich nicht das Tonband, sondern eine leibhaftige Menschenstimme meldet. ( …) Die Diagnose ist eindeutig, das Ventil im Kopf ist kaputt, es habe sowieso sehr lange gehalten, meint der Arzt, mein Sohn habe Glück gehabt, 18 Jahre, das sei eine lange Zeit, normalerweise halte es bestenfalls 15 Jahre, beim Eingang zur Bettenstation wird ein Coronatest gemacht, ich muss mich von Arian verabschieden, ich werde ihn auch nach der Operation nicht besuchen dürfen, keinesfalls aber werde ich nach Hause fahren, ich werde in der Wiener Wohnung bleiben, auch wenn ich Arian nicht besuchen darf, falls irgendetwas passiert, bin ich zur Stelle, die Wohnung in Gehdistanz zum AKH, ein kalter Wind bläst, die Straßen menschenleer und dreckig, Geschäfte, Restaurants und Cafés geschlossen, meine beste Freundin liegt seit fast 20 Jahren auf dem Hernalser Friedhof, als sie starb, war sie kaum älter als mein Sohn jetzt ist, ich wollte, ich könnte sie anrufen. (…)

Arians Zustand hat sich in den letzten zwei Tagen massiv verschlechtert, (…) ich muss es ihm sagen, ihn aufs Schlimmste vorbereiten, ich habe den Spitalskoffer gepackt, Arian nickt … Wir haben beide unsere Rüstungen aus Stahl angezogen … nur mein Mann besitzt keine … ich habe ihn schon lange nicht mehr so verzweifelt gesehen, und dann, am nächsten Tag, das technische Wunder, das Kopfventil wird umgestellt, mittels eines Magneten, von außen, ohne neuerliche Operation, ohne dass Arian noch einmal der Schädel aufgesägt wird, Kopfdruck weg, Kopfschmerzen weg, Müdigkeit weg, alle neurologischen Funktionen sind mit einem „Dreh“ wieder da, von diesem Augenblick an ist Arian wie verwandelt, ein Wunder, das wir auch am nächsten Tag, als wir eine stundenlange Wanderung durch die Stadt machen, kaum fassen können.

Nach ein paar guten Tagen zu Hause bekommt er eine schwere Darmgrippe, die ihn wieder für drei Wochen aufs Krankenbett wirft und sieben Kilo Gewicht kostet, während dieser ganzen Zeit (vor und nach Arians Wiedergeburt) haben wir in wochenlanger Arbeit den durch einen Wasserschaden völlig morschen Fußboden des Kinosaals renoviert, 100 Kinosessel werden abgeschraubt und zwischen den stehengebliebenen Reihen verstaut, der Teppichboden wird abgelöst, der morsche Holzuntergrund bis zur Betongrundplatte abgetragen, der Schutt entsorgt, ein neuer Holzuntergrund aufgebaut, ein neuer Teppichboden darübergelegt, die Sessel werden wieder angeschraubt, das klingt nach einem Spaziergang, ist aber eine langwierige, mühsame und sehr staubige tour de force, die purpurroten Sessel von einer dicken Staubschicht bedeckt, rostgrau, ich habe die Bauarbeiten koordiniert und beaufsichtigt, Arian hat teilnahmslos am Rande zugeschaut, wenn er überhaupt dazu fähig war, und als alles fertig war, habe ich dreihundert Kinosessel geputzt und alles andere auch, und sah danach selber rostgrau aus, nach monatelangen zähen Verhandlungen hat sich schließlich die Versicherung gnädig bereit erklärt, den Großteil des Schadens zu bezahlen.

Irgendwie schaffen wir es, Anfang Juli das Kino wieder zu eröffnen, es war schwierig, das erste Programm zu erstellen, nach dieser langen Abstinenz, aus den Facebookpostings habe ich ein Büchlein gestaltet und drucken lassen, ein Bilderbuch von mir ist in einer mehrsprachigen Ausgabe erschienen und in Deutschland ausgezeichnet worden, beide Bücher stellen wir bei der Eröffnungsfeier vor, die Kinobesucher versichern uns immer wieder, wie froh sie über die Wiedereröffnung sind, es ist ein sonniger Tag, lebhaft und bunt, vor dem Kino spielt eine Trommlergruppe, Menschenmengen wogen auf der Straße, Arian ist gesund, der Lockdown ist vorbei, alles wird gut, Nachmittage am Pool, kinofreie Sommerabende auf der Terrasse, wir haben die Anzahl der Spieltage reduziert, Arian muss eine bessere Work-Life-Balance bekommen, jahrelang hat er sieben Tage die Woche gearbeitet, ohne Pause, ohne Ruhetag, kaum ein Urlaub, aber jetzt eine angenehme Reduktion und ein Programm wie ein Arthouse-Kino, wahrscheinlich das beste, das wir jemals hatten, mit den wenigsten Besuchern, die wir in einem Juli oder August jemals hatten, dennoch schwebt eine Leichtigkeit über diesem Sommer, diesem Sommer mit Arian, sein Lachen malt Sonnenkringel ins Wohnzimmer, seine Kommentare machen das Werbefernsehen zum Kabarett, meine Tochter, die Enkelkinder, Freunde kommen uns besuchen, man kann sich endlich frei bewegen, es finden auch wieder Lesungen statt, mein Mann und Arian begleiten mich, ein bisschen Normalität, und wenigstens jetzt ein bisschen Erholung, wenn sie uns in der Zeit des Shutdowns schon nicht vergönnt war. (…)

Und jetzt sitze ich da, in dieser dunklen Novembernacht, Arian will sich das Leben nehmen, ein Gedanke, so scharf und spitz wie ein feingeschliffenes Küchenmesser mit Diamantklinge, habe ich Arian zu viel zugemutet, hätte er nach der Operation eine längere Auszeit gebraucht, ist ihm die Arbeit im Kino ganz einfach zu viel, ist er ausgebrannt, war er in seinem Leben immer überfordert, habe ich ihn überfordert? (…)

Nach der dunklen Novembernacht gelingt es mir, Arian mit einem guten Abendessen in mein Haus zu locken, wir essen schweigend, räumen schweigend den Tisch ab, dann sitzen wir auf der Terrasse, Arians Mund noch immer versiegelt, ich rede auf ihn ein, ich komme mir vor wie ein Granitbohrer, stoße auf undurchdringliches Gestein, Arian schweigt, schweigt beharrlich, als könne er nie wieder auch nur einen einzigen Satz sprechen, ich spüre, wie eine unbändige Wut in mir aufsteigt, ich darf die Beherrschung nicht verlieren, ich gebe auf, da öffnen sich seine Lippen, zaghaft, mühevoll, und stoßweise und in winzigen Häppchen gibt Arian preis, was ihn in den letzten Tagen beschäftigt hat und bedrückt, Ideen, die seinen Kopf völlig kolonialisiert haben und jeden vernünftigen Gedanken unmöglich machen, ich erfahre, nach Stunden, dass er versucht hat, sich mit einem Schal den Hals zuzuschnüren, hat er tatsächlich gedacht, er könnte sich selbst erdrosseln, ich erfahre, dass er sich in einer dieser schon sehr kalten Novembernächte auf den nackten Betonboden seines Balkons gelegt hat, in der Hoffnung, er würde einschlafen und erfrieren, ich bin erschüttert, mein Sohn hat tatsächlich daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, mein Gefühl hat mich nicht getäuscht, Gott sei Dank hat Arian es so stümperhaft gemacht, dass die Versuche nicht geglückt sind, aber grellrote Alarmzeichen sind sie allemal, genauso sieht das auch der Arzt (…), als wir gehen, sagt er: „Wenn ich nicht wüsste, dass er bei Ihnen gut aufgehoben ist, würde ich Ihren Sohn stationär aufnehmen, man darf ihn in diesem Zustand keinesfalls allein lassen.“ (…)

Der Feber und der März scheinen mich für die Strapazen des letzten Jahres entschädigen zu wollen, eine französische Übersetzung eines meiner Bücher wird gemacht, der WDR sendet eine szenische Lesung eines meiner Texte, ich bekomme einen neuen Bilderbuchauftrag, mein Mann und ich gestalten ein kleines Tanzprojekt, eine Arbeit, die uns wieder näherbringt, der ORF macht einen Bericht darüber, Interviews, Podcasts und Hörbücher gehen online, und das größte Geschenk: Arian lächelt, Arian lacht, seit Monaten zum ersten Mal.

Ich atme auf, ich atme durch.

Arian entrümpelt sein Haus, zum ersten Mal seit er dort wohnt, macht er es sich zu eigen, gestaltet es nach seinen Wünschen, mein Mann und Arian machen täglich einen langen Spaziergang und kommen einander so nah wie noch nie zuvor.

Ruhe ist eingekehrt. Endlich.
Von mir aus kann der Lockdown noch lange dauern, für mich hat er eben erst begonnen.

Wie es weitergehen wird?
Manchmal denke ich, dass ich zu einem normalen Leben wie in Vor-Coronazeiten nicht mehr fähig bin, dass ich diese Hektik nicht mehr aushalte, dass ich nicht ständig eingespannt sein will in den Kreislauf tausender Pflichten, dass ich nicht mehr im Kino werde arbeiten können, ich habe alles verlernt und vergessen, der Megastress des letzten Jahres hat 90 Prozent meiner Kopfdateien gelöscht, alles ist verloren, jeden Handgriff werde ich wieder mühsam neu lernen müssen, ich kann den Computer nicht mehr handhaben, kann keinen Film mehr laden, ich kann wahrscheinlich nicht einmal mehr die Popcornmaschine bedienen, ich habe mich im letzten Jahr, mit Ausnahme der vier Monate, in denen wir das Kino geöffnet hatten, nicht mehr mit neuen Filmen beschäftigt, auch habe ich das Gefühl, dass Arian sehr gut ohne Kino leben kann, dass er endlich ein wenig Freiheit erlebt, ich weiß nicht, ob er sich noch jemals vor diesen Kinokarren spannen wird, ironischerweise jetzt, wo alles repariert, renoviert und auf den neuesten technischen Stand gebracht ist, jetzt, wo wir vielleicht zum ersten Mal seit Jahren einwandfrei funktionierende Projektoren haben, aber durch diese lange Zeit des Stillstands, so dankbar ich wegen Arian dafür bin, er und auch ich haben diesen Stillstand dringend gebraucht, ist die Energie verpufft, das Feuer brennt nicht mehr, ich weiß nicht, ob wir das noch auf uns nehmen wollen, dass wir immer auf die Uhr schauen müssen, von jedem Familienfest wegrennen müssen, zu jeder anderen Kulturveranstaltung nur allein gehen können oder uns mühsam freimachen/freikaufen müssen, den Stress von nicht funktionierenden Computern, Maschinen, Heizungen etc. haben wollen, den Stress von fast leeren Kinosälen, man steht den ganzen Tag herum, ist am Abend hundemüde, hat das Leben versäumt, für nichts, schon nach dem ersten Lockdown gingen die Besucherzahlen um zwei Drittel oder fast drei Viertel zurück, und was wird jetzt sein, nach diesem riesig langen Lockdown, wo allen schon alles wurscht geworden ist, wo man die ganze Energie verloren hat und den Glauben, dass alles wieder gut wird, jetzt, wo man sich fragt: Wie lange wird die Krise noch dauern? Werden sich die Leute ins Kino trauen? Und werden sie das Kino überhaupt noch brauchen, nachdem sie ein Jahr lang sehr viel Zeit vor dem Fernseher verbracht haben, fast jeder die Dienste eines Streamingdienstes in Anspruch nimmt und das Leben insgesamt mehr digital als real geworden ist?

Die Big Player sind die großen Gewinner dieser Krise.
Sie sind die Gewinner in der Krise, sie werden die Gewinner nach der Krise sein.
Die kleinen gehen unter in dem Spiel.
Die Kultur ist sowieso nicht „systemrelevant“.
Systemrelevant sind Essen, Trinken, Hygiene, ärztliche Versorgung, Post und Bank, Tabak, Zeitungen, Fernsehen und Streamingdienste, Friseure und Hundesalons.
Wir könnten also das system-irrelevante Kino zusperren, die letzte ständige Kultureinrichtung in unserem Dorf, das sich „Stadt“ nennt.
Dann wird es vorbei sein – mit guten Filmen, Begegnungen mit Menschen, mit gemeinsamem Lachen und Weinen im Kinosaal, mit Lesungen, Diskussionen, Konzerten, Theater, Kabarett … Dann muss man Kultur tatsächlich mühsam mit dem Auto er-fahren oder ganz darauf verzichten.
Und was geschieht mit Arian, wenn er seinen bisherigen Lebenssinn verliert?
Und was geschieht mit unseren frisch renovierten Ruinen?

Die zweitgrößte Kinokette in den USA wird nicht mehr aufsperren.

Der Gesundheitsminister ist zurückgetreten.

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Jutta Treiber, geb. 1949, Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Wien, unterrichtete 15 Jahre lang am Gymnasium Oberpullendorf und arbeitet seit 1976 im Kino Oberpullendorf mit. Seit 1988 freiberufliche Autorin, schreibt für Menschen jeden Alters, ihr Werk umfasst mehr als 50 Bücher (Romane, Kinderbücher etc.), Übersetzungen in 25 Sprachen, mehr als 3000 Lesungen in 22 Ländern Europas (und Asiens), Preise (u.a.): Leserstimmenpreis der Bibliotheken, Kulturpreis des Landes Burgenland, Österreichischer Kunstpreis. Werke für Erwachsene: Solange die Zikaden schlafen (2021), Halt den Mund, sagte Mutter und dann starb sie (2018), Liebestrommeln (2012), Fleckerlteppich (2010), Die Zeit und Hannah (2007)

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Hier und Heute. 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. 100 Wochen lang, jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.