Sowjetische Witze

Von Julya Rabinowich. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXIX

Online seit: 12. November 2021
Julya Rabinowich © Michael Mazohl
Julya Rabinowich. Foto: Michael Mazohl

Marinas Hand hielt dunkelblaue Früchte verborgen. Die Handfläche war klein, kleiner als die Handflächen anderer Neunjähriger, und sie wurde in der Schule ausgelacht, weil sie immer noch Kindergartenkindfinger hatte. Sie war überhaupt klein gewachsen und hatte etwas Elendes, Verdrehtes an sich, zart wie eine Elfe und lächerlich wie ein Gnom. Sie war es gewohnt, sich vor dem Stiefvater weg zu ducken, bevor er noch die Hand erhob, der Stiefmutter zu Diensten zu sein, bevor sie die Wünsche aussprechen konnte. Ihre Grundstimmung war eine gut ausgewogene Mischung aus Angst und Dankbarkeit, und den Witz, den ihr Stiefvater brüllend vor Lachen gerade erzählt hatte, der Witz, der die Stiefmutter bleich vor Entsetzen über die Folgen werden ließ (eine Blässe, die Marina auf sich bezogen interpretiert hatte) schien ihr weder witzig noch angsterregend, er beschrieb ihr Sein in sehr konkreter Art und Weise.

„Was empfanden die Tschuktschen vor der großen Oktoberrevolution?“ grölte er in den Abendhimmel über der Veranda vor versammelten Nachbarn und Mitbewohnern der Sommerdatscha, ein holzvertäfeltes Haus mit geschnitzten Fensterrahmen und Türöffnungen, weiß gestrichen. Die Veranda war fast verfallen, Moos wucherte über die Stufen und die Wände entlang. Knarrende Holzdielen. Schöne helle Leinenvorhänge in den Fenstern. Eine große Schale mit wilden Heidelbeeren in einer Emailschüssel am Verandatisch, ein Krug mit Milch daneben, die die Vermieterin jeden Morgen eigenhändig aus den rosa Eutern der Tiere drückte. „Ein Gefühl von Kälte, Finsternis und Hunger.“
„Igor,“ sagte die Stiefmutter leise und hielt sich am geschnitzten Holzträger der Datscha fest, wie um sich davon abzuhalten, ihre Hände über seinen Mund zu legen. „Bitte.“
„Und was empfinden sie jetzt?“
Er machte eine theatralische Pause und sah triumphierend in die Runde. Marina kannte nur die Nachbarn von gegenüber, das waren dieselben, die schon letztes Jahr zur selben Zeit in dem kleinen Dörfchen in der Nähe Leningrads namens Orechovo aufgetaucht waren. Alle Städter wie ihre Stiefeltern.
„Ein Gefühl von Hunger, Kälte, Finsternis und tiefer Dankbarkeit.“
Er lachte laut. Niemand lachte mit. Ihre Stiefmutter zog die Schultern hoch. Er sah das und verstummte, Marina sah den Zorn unter seiner Schädeldecke zusammenbrauen, unter der wie poliert glänzenden Glatze, zwischen den rötlichen Backenbarden, in seiner Kehle, bald würde er hervorbrechen, zwischen den Goldzähnen und dem dichten Bart. Sie stellte sich diesen Zorn vor wie eine dunkle Wolke, oder, korrigierte sie sich gleich darauf, wie einen entweichenden heißen Dampf, der alles verbrannte, was ihm in den Weg kam. Sie wollte ihm nicht in den Weg kommen. Sie trat den Fluchtversuch an, ohne sich abzuwenden, sie ging rückwärts, vorsichtig, als ob sie sich wie der Neffe des Obergerichtsrats Drosselmeier in einen Nussknacker verwandeln könnte. Den Nussknacker hatte sie mit ihrer Stiefmutter und einmal im Theater gesehen, und das Schauspiel hatte sie so beeindruckt, dass sie noch tagelang von der Aufführung träumte. Träumte von den Kostümen, den intensiven Farben des Bühnenbildes, schon damals waren Farben für sie so wichtig wie für andere vielleicht Buchstaben oder Zahlen, man konnte in ihnen lesen, man konnte Formeln aufstellen, die Naturgesetze transportierten, jedenfalls ihre eigenen Naturgesetze. Der Stiefvater sah es nicht gerne, dass sie ihre Zeit mit einem Malblock verbrachte, und die kleine Palette, die sie sich zum 8. Geburtstag gewünscht hatte, neigte sich bereits dem Ende zu, die Farbdöschen waren kaum noch gefüllt, man sah den weißen Plastikboden durchscheinen, und sie stellte sich angstvoll vor, wie das wohl wäre, wenn sich eines Tages nicht einmal mehr ein kleiner Rest mit gespitztem Pinsel aus den Vertiefungen herausschälen ließe. Dann wäre sie stumm, blind. Dann wäre sie allein. Zum Neujahr, das im kommunistischen Russland das traditionelle Weihnachtsfest abgelöst hatte, könnte sie noch Glück haben, wenn Väterchen Frost, der den Weihnachtsmann genau so verdrängt hatte, wie das Neujahrsfest den Christtag, sich doch noch erbarmen würde, noch ein einziges Mal. Aber jetzt stand der Sommer noch in voller Hitze über den Feldern, die Wälder fielen erst spätabends in tiefe Schatten, und die Ferien hatten gerade erst begonnen.
Sie schlich sich vorsichtig weg, Schritt für Schritt, bis sie die Veranda verlassen hatte, erst da wagte sie es, sich umzudrehen, und die breite Holztreppe Gesicht voran hinabzusteigen, den Blick in die in ein Feuerwerk aus Farben explodierenden Blumen im Garten des Ferienhauses.
In kurzen Hosen auf den Stufen saß er da, mit aufgeschlagenen, schon verkrustenden Knien, dunkelbraun getönten Beinen, glatt, wie aus einem Guss. Neben der Veranda lehnte an der Hausfassade sein verrostetes rotes Kinderfahrrad mit einem platten Reifen. Marina verließ zögerlich das Haus, stellte sich neben den Aufgang, tat so, als hätte sie dort etwas zu tun, als hätte sie etwas bei ihm verloren, so, wie sie das heute noch tat.
Niedergeschlagene Augen, kurzes helles Sommerkleid, plötzliche Hitze im Bauch. Er blickte hoch und lächelte, sie sah ihn an und blieb vollkommen ernst. Ihre dunklen Augen, seine so hell wie der Badeteich hinter dem Haus. Er kniff die Augenlider zusammen, das sah nicht böse aus, nur lustig.
„Ich bin Mark. Wer bist du?“ sagte er. „Ich hab dich hier noch nie gesehen.“
Alles begann in diesem ersten Hinblicken, seinem Lächeln, und der Frage.
„Wer bist du?“.

Vielleicht war es einfach diese Frage. Vielleicht hatte sie das noch nie zuvor gehört. Vielleicht wusste sie keine Antwort darauf, und spürte, dass er ihr die Antwort geben konnte. Mit seinen zerschlagenen Knien. Mit seinem platten Reifen am Kinderfahrrad. Mit den hellen Härchen auf dunkel gebräunten Schultern, die noch etwas Mädchenhaftes hatten, damals, ebenso wie sein Gesicht. Er war ein wenig wie sie und er war ganz und gar nicht wie sie, und er war dort, wo er war, für immer in Sicherheit.
Während sie die Geduldete war, die Ausgehaltene, die unwillig Aufgenommene. Die latente Gefahr als Echo ihrer gar nicht latent, sondern sehr konkret gefährlich gewordenen Eltern, die mit ihren Eigenwilligkeiten nicht nur sich selbst, nicht nur ihr Kind, sondern auch die umgebende Verwandtschaft in Gefahr gebracht hatten, als der Blick auf sie fiel, den Marina innerlich und seit sie im Westen lebte, immer mit dem im Herrn der Ringe beschriebenen Auge verglich, das Auge, das wieder weit geöffnet Fleisch, Stein und Erde durchdrang auf der Suche nach etwas, das ihm bedrohlich hätte werden können: Stalins Blick, der sich über sein unkontrolliert verzweigendes und immer neuvernetzendes Sicherheitssystem in viele, viele Augen verwandelt hatte und in viele Ohren, seine Furcht war eine Hydra geworden, deren Köpfe nicht nachzuwachsen brachten: keiner wagte es, sie abzuschlagen.
Nichtsdestotrotz wurden es mehr und mehr Köpfe, mehr und mehr Augen, mehr und mehr Ohren. „Stelle dir nur vor, sie verehrten früher Gott genauso wie Stalin,“ flüsterte einmal die WG-Nachbarin der Stiefmutter zu. An ihre Eltern konnte Marina sich nicht erinnern, vermutlich waren sie liebevoll gewesen, vermutlich auch rechtschaffene Leute. Etwas anderes war aus ihrer Tante nicht herauszubekommen, die sie übernommen hatte, damit Marina in kein Kinderheim und in kein Umerziehungslager gebracht wurde. Ihr Bruder war ein guter, aber verrückter Mann gewesen, und seine Frau hatte diese Entwicklung noch beschleunigt, wie Papier, das man zu einem glosenden Lagerfeuer legte, bevor die Kartoffeln hinterhergelegt werden konnten. Ihre Eltern waren das Feuer und das Papier gewesen, die Kartoffel, die man erst viel später und nach abkühlen des Brandes aus der Asche klauben konnte, war Marina. Die Tante fürchtete sehr, sich die Finger an Marina zu verbrennen, aber sie war so rechtschaffen wie ihr Bruder. Vermutlich.
Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das einjährige Mädchen einem recht wahrscheinlichen Tod in einer Kleinkinderheimszenerie zu überlassen und hatte ihm ein Dach über dem Kopf gegeben. Wenn sie weinte, so weinte sie heimlich. Marina hatte sie oft schweigend am Tisch sitzen sehen, wenn der Onkel schon längst schlafen gegangen war, um den anstrengenden nächsten Arbeitstag zu bewältigen. Die Arbeit als Krankenschwester war sicherlich nicht leichter. Dennoch fand Marina die Tante immer wieder mitten in der Nacht, wenn sie auf die Toilette ging, zusammengesunken über einer Tasse erkalteten Tees, beide Ellbogen in die Plastiktischdecke mit den roten Kirschen gebohrt. Die Beziehung zum Bruder war eng gewesen, aber sie wagte es nicht, auch nur Nachforschungen anzustellen, wo er sich befinden konnte, ob er noch am Leben war. Oder aber sie wusste es und schwieg aus falsch verstandener Rücksicht dem Kind gegenüber, ließ es in trügerischer Ungewissheit, vielleicht tröstete sie sich selbst mit der Vorstellung, Marinas Eltern könnten eines Tages zurückkommen und ein neues Leben würde anbrechen. Für das Kind und für alle.

Als Marina ihn sah, wusste sie, dieses still versprochene neue Leben war angebrochen. Als sie ihn später an diesem Tag das erste Mal berührte, Fingerkuppe auf Schulter. Aber er wusste es noch nicht, und ihn musste sie unbedingt darauf hinweisen.
Die hölzerne Verandatreppe im hereinbrechenden Abend mitten im russischen Sommer blieb ihr Heimat für die nächsten 45 Jahre. Dieses Land. Dieses Dorf. Diese Veranda. Auch, nachdem sie all das längst hinter sich gelassen und sich die Wurzeln mit der Entschlossenheit eines wilden Tieres abgerissen hatte, das sich nur durch das Abtrennen der gefangenen Pfote aus der Falle befreien kann.
Dieses Ankommen, neben ihm sitzend. Die Beine hochgezogen, Oberschenkel an Oberschenkel, Heidelbeeren in der Hand. Mitten im wohltemperierten russischen Sommer. Die optimale Temperatur für ihre Haut, für Waldhimbeeren und Heidelbeeren, für Moosbeeren, deren oranges Leuchten nur den nordischen Ländern vorbehalten ist. Ihre Familien würden sich später anfreunden, vor allem die Frauen. Sie waren froh, jemanden gefunden zu haben, der ihnen Gesellschaft leistete. Die Männer verbrachten den Urlaub beim Spirituosenkiosk des Dörfchens oder beim Angeln am See. So kam es, dass die Kinder immer wieder gemeinsam auf Urlaub fuhren. Im Sommer und bald auch im Winter, der ein grünes verwunschenes Schimmern über den Schneewehen für Marina und Mark ausbreitete.
Dieses winterlich grüne Licht, das sie später in Norwegen erwartete, hatte sie so oft mit ihm geteilt, als sie noch klein waren. Bei Ausflügen auf Langlaufschiern, erst in Begleitung der Tante oder seiner Eltern, später allein, erst aufgeregt und dann routiniert. In dem ersten Winter lachte er, als sie nach seiner Hand greifen wollte, und sagte: „In einem Jahr weiß ich bestimmt gar nicht mehr, wer du bist.“ Sie sagte nichts darauf und biss auf ihre Lippe, aber sie dachte: „Aber ganz bestimmt weisst du es“, und sie behielt recht.

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Julya Rabinowich, * 1970 in St. Petersburg, seit 1977 in Wien. Autorin, Simultandolmetscherin, Kolumnistin. Regelmäßige Beiträge in Der Standard, im Falter, in Die Furche, Die Zeit und Ö1 sowie im Deutschlandfunk. Debütroman Spaltkopf 2008 in der edition exil, danach Herznovelle bei Deuticke 2011, sowie bei Hanser Dazwischen: Ich 2016 und Hinter Glas 2018. Diverse Uraufführungen im Volkstheater, Rabenhof und im Schauspielhaus. Ausgezeichnet u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis sowie für Dazwischen: Ich mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis, dem Oldenburger Kinder- und Jugendliteraturpreis und den Friedrich-von-Gerstäcker-Preis.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.