Hier und heute – aber heute heute auch dort

Von Julian Schutting. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 76

Online seit: 29. Juli 2022
Julian Schutting © Christoph Luger
Julian Schutting. Foto: Christoph Luger

Bin doch nicht hier und nicht heute
im Kampf um Troja gefallen, vom einem Hektor
zugedachten Pfeil ins Herz getroffen, als wäre
ich der gewesen, bin vielmehr in älteren Tagen,
gleichfalls weder hier noch heute, an der Seite
des Großen Kurfürsten vom Pferd geschossen,
ohnmächtig liegengeblieben, bin als den Helden-
tod Gestorbener sowohl hier als auch heute
von Feldmarschall von Hindenburg gefeiert worden.
hier bin ich, damals war mein letztes Heute,
von Achilles, ihm von Athenes Hand geführtem Pfeil
in den Kopf getroffen, hingesunken, ins Schatten-
reich abberufen worden, wo jedem Neuankömmling
die Koordinaten erlöschen, die zu Feststellungen
wie HIER und HEUTE den Krieger geleiten.
hier war es, daß ich: HIER und HEUTE? mich
fragend, alt erwacht bin, über Nacht gealtert
(und dabei geblieben, und wärs kein Traum gewesen).
hier und heute, das läßt sich alle Tage sagen,
sofern man geboren worden und nicht tot ist.
hier, aller Voraussicht hier, werde ich, nicht andern-
orts, nicht gestern, wie befürchtet, eher morgen
als erst heute, nicht mehr ein- oder aufatmen.
werd mich aber (wann?) am Jüngsten Tag
(wo?) auf dem Friedhof, aus dem Familiengrab
mit allen Auferstandenen erheben.
die Feststellung HIER und HEUTE setzt Zeit-
und Raumgefühl voraus, bei Menschen ausgeprägter
als bei Säugetieren. bei Säuglingen so wenig
vorhanden wie bei den Fischen, wohl aber bei den
Pflanzen, die ihre Bewegungen der Sonne anpassen.
Als ich hier und heute am Nil spaziere, wird mir
auf der Götter Geheiß der kleine Moses zu Füßen
in einem Bambuskörbchen angespült, von mir
geborgen und großgezogen zu werden.
gestern, heute und morgen, diese Trias hat uns
die Logik eingegeben, vor der Zeit der ersten
Mondkalender. und wer HIER sagt,
denkt unbewußt ein DORT mit,
ein Irgendwo, ein Nirgendwo.

* * *

Julian Schutting, geb. 1937 in Amstetten, nach der Ausbildung zum Fotografen Studium der Germanistik und Geschichte, anschließend Lehrtätigkeit. Lebt als freier Schriftsteller in Wien. Seit 1973 ca. 60 Buchveröffentlichungen und zahlreiche Literaturpreise, 2022 H. C. Artmann-Preis; schreibt Lyrik, Prosa und dramatische Texte. Zuletzt erschienen: Unter Palmen (Jung und Jung, 2018), Winterreise (Otto Müller Verlag, 2021), Das Los der Irdischen (Literaturedition Niederösterreich, 2022).

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.