Schreiben in der Erregungsröhre

Sollen Künstler zu Wortführern von Debatten werden? – Von Julia Schoch

Online seit: 28. Oktober 2022
Julia Schoch © Ullrich Burkhardt CC BY-SA 4.0
Julia Schoch: Wir sind keine Diskursgefäße. Foto: Ullrich Burkhardt (CC BY-SA 4.0)

Es gab Zeiten, da wurde den Schreibenden, ja KünstlerInnen ganz allgemein eingeflüstert, sie würden gebraucht, zum Beispiel zur Erneuerung des Denkens oder gar für den „Aufbau einer neuen Gesellschaft“. Heute gibt es natürlich weder das Bedürfnis nach der heilsamen Belehrung durch die Kunst noch „die Gesellschaft“, die ein solches Bedürfnis formulieren könnte oder wollte und die eigentlich ohnehin nur noch in Anführungszeichen gedacht werden kann.

„Es ist eine Neigung von Intellektuellen, sich gern in die Mitte des Lebensstroms gestellt zu fühlen. Sinngefühl ist die stärkste Droge“, schreibt Peter Sloterdijk.

Wenn dem so ist, und das glaube ich, versteht man, warum so viele Künstler das Gleis wechseln und zu Wortführern von Debatten oder Unterzeichnern von Petitionen werden. An den Sinn der schöpferischen Kraft, der Kunst ganz allgemein zu glauben, ist derzeit – mal wieder, möchte man fast sagen – nicht leicht. Angesichts der äußeren politischen Umstände, dem Druck der Debatten, der Erregungszustände auf allen Kanälen und der beinahe schon zur Gewohnheit gewordenen Aussichtslosigkeit müssen Kunstschaffende heutzutage vor allem blind sein. Eine Art von absichtlicher Blindheit. Ja, die kräftezehrendste Aufgabe, mit der wir uns herumschlagen müssen, besteht im Ausblenden des bedrückenden Informationstsunamis und dem Einblenden oder eher: der Autosuggestion der eigenen Bedeutsamkeit.

1977 traten Frankreichs Intellektuelle, von Sartre und de Beauvoir bis zu Aragon und Barthes, für die Legalisierung der Pädophilie ein.

Dabei half mir in den vergangenen Monaten unter anderem eine Liste, die ich angelegt habe. In unregelmäßigen Abständen und eher zufällig habe ich AutorInnen und ihre Reaktionen auf die politischen Zustände ihrer jeweiligen Zeit notiert.

Ich habe das getan, weil ich mich in meiner eigenen Ratlosigkeit nicht ganz so allein fühlen wollte.

Dieses Abgleichen ist ein natürlicher Drang. Man möchte sehen, wie andere es geschafft haben, dem Druck bestimmter äußerer Umstände standzuhalten. Vielleicht will man sich sagen können: Das jetzt alles ist nur eine Phase … Selbst wenn wir wissen, dass