Das Kinderspiel

Von Irene Diwiak. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 60

Online seit: 8. April 2022
Irene Diwiak © Leonhard Hilzensauer
Irene Diwiak. Foto: Leonhard Hilzensauer

Heiß ist es im Klassenzimmer, obwohl die Sonne bereits untergeht hinter der Skyline des benachbarten Industrieparks. Sie taucht die übergroßen Papierbuchstaben, den Bundespräsidenten und das Kruzifix an der sonst so kahlen Wand in malerisches Orange-Rosa. Auf den viel zu kleinen Volksschulstühlen haben sieben schwitzende Erwachsene Platz genommen, zwei Elternpaare und drei Mütter. Im Gang draußen haben sie noch gescherzt, gelacht und ironisch mit den Schultern gezuckt: Nein, wir wissen auch nicht, was da genau passiert ist. Nein, unser Kind hat uns jedenfalls nichts von irgendeinem Vorfall erzählt. Ja, wir hätten auch Besseres zu tun!

Die Eltern kennen einander flüchtig. Sie haben Seite an Seite selbstgebackenen Kuchen verkauft und Kinderpunsch ausgeschenkt bei Schulfesten. Sie haben in den Wohnzimmern der jeweils anderen gesessen, an Kaffeetassen genippt und übriggebliebene Tortenstücke gegessen, während die Kinder im Hinterzimmer noch zehn Minuten, bitte, nur zehn Minuten noch!, die brandneuen Spielzeuge des Geburtstagskindes zerlegten. Ihre Kinder gehen schon das vierte Jahr gemeinsam in eine Volksschulklasse, und ein wenig wehmütig denken die Eltern daran, dass sie in ein paar Monaten schon getrennte Wege gehen sollen, in unterschiedliche Gymnasien oder, Gott behüte, Neue Mittelschulen. Wenn die Eltern einander zufällig im Supermarkt begegnen, lächeln sie freundlich und wechseln ein paar Worte.

Jetzt sitzen sie still, die unangenehm spitzwinkligen Knie unter den tiefen Tischplatten zusammengepfercht. Sie haben aufgehört zu scherzen und sind wieder kinderklein geworden, Jesus und der Bundespräsident blicken voll Misstrauen auf sie herab. Herr und Frau Wotawa tippen zwar noch geschäftig auf ihren Smartphones herum, die gesenkten Köpfe aber wirken demütig. Frau Ramsl hat am Fenster Platz genommen und streichelt die Handtasche auf dem Schoß wie eine Katze, mit gerührter Mine betrachtet sie den Sonnenuntergang. Frau Herzer strickt, während Herr Herzer einzunicken droht, er ist bereits im Ruhestand, sie höchstens fünfzig. Ihre Jüngste geht in diese Klasse, ein richtiges „Nachzügerl“, sie haben bereits Enkelkinder von den Älteren. In der ersten Reihe Mitte hockt sehr streberhaft aufrecht und aufmerksam die Elternsprecherin Frau Konrad und ganz hinten im Eck Frau Jagovič. In Frau Jagovičs Wohnzimmer hat noch nie jemand gesessen mit übrig gebliebenen Geburtstagstortenstücken, auch an keinem Schulverkaufsstand hat sie sich jemals beteiligt. Jetzt sitzt sie leicht vorne über gebeugt und starrt sie die Tischplatte an, wobei das schwarze Haar ihr strähnig übers Gesicht fällt wie ein Schleier.

Dann tritt die Lehrerin ein. Die Lehrerin ist eine gutmütige Person mittleren Alters, was die Eltern bisher als Glücksfall betrachtet haben: Der erste pädagogische Idealismus ist bei ihr schon lange verklungen, allerdings ist sie zu jung, um in unmittelbarer Erwartung ihrer baldigen Pensionierung vollständig zu resignieren. Sie hat den Ruf, in unwichtigen Belangen manchmal ein wenig kleinlich zu sein, aber die Kinder können sie alle recht gut leiden.
Die Eltern unterdrücken gemeinschaftlich den Impuls, aufzustehen und im Chor „Guten Morgen“ zu leiern. Die Lehrerin grüßt mit freundlichem, aber ernstem Gesicht. Dann faltet sie die Hände vor ihrem Bauch und räuspert sich, um gleich in medias res zu gehen.

Es habe einen unangenehmen Vorfall gegeben, erzählt sie, und dieser Vorfall betreffe Paul Wotawa (die Wotawas blicken schuldbewusst von ihren Smartphones auf, an denen sie sich festkrallen wie an Haltegriffen in der Straßenbahn), Clarissa Ramsl (Frau Ramsl zuckt zusammen, aus irgendeinem Traum erwacht), Viktoria Herzer (Frau Herzer stößt Herrn Herzer besorgt den Ellbogen in die Seite, er ächzt), Benjamin Konrad (Frau Konrad nickt mit schamvollem und gleichzeitig ein wenig kampfeslustigem Blick) und Kevin Jagovič (Frau Jagovič rührt sich nicht). Die Lehrerin stockt, dann lässt sie sich auf dem Stuhl hinter ihrem Lehrerpult nieder. Sie ist die einzige Person im ganzen Raum, die ergonomisch korrekt wie eine Erwachsene sitzen darf, auf einer Linie mit Jesus und dem Bundespräsidenten. Diese Position gibt ihr die endgültige Sicherheit, die es braucht, um schwierige Themen anzusprechen.

Der Holocaust, sagt die Lehrerin langsam und gedehnt, indem sie sich zurücklehnt, der Holocaust sei ohne Frage ein schwieriges Thema. Aber man müsse bedenken, dass die meisten Kinder dieser Klasse schon sehr bald ein Gymnasium besuchen würden.

Das Wort „Gymnasium“ spricht sie aus, als wäre es etwas Heiliges. Frau Konrad nickt mit vor Betroffenheit ganz weit hinuntergezogenen Mundwinkeln, während die Wotawas erleichtert ihre Köpfe über die Smartphonebildschirme senken, denn was mit dem „Holocaust“ zu tun hat, kann nichts mit ihnen oder ihrem Paul zu tun haben.

Die Lehrerin räuspert sich erneut, dann beginnt sie wieder zu sprechen: Sie habe in der großen Pause ein Spiel beobachtet. Es sei ein Spiel zwischen Paul, Clarissa, Viktoria, Benjamin und Kevin gewesen. Im ersten Moment habe sie es für ein harmloses Räuber-und-Gendarm-Äquivalent gehalten, denn manche der Kinder seien Jäger, andere Gejagte gewesen, so haben sie einander durch den Pausenhof getrieben. Dann allerdings sei sie ein wenig nähergetreten und habe gehört, wie die Jäger nach „Judenschweinen“ suchten, während die Gejagten sich vor den „Nazis“ versteckten.
Frau Konrad in der ersten Reihe japst vor Schreck, irgendjemand stöhnt, Frau Jagovič taucht für einen Augenblick vor dem Haarvorhang auf, nur um gleich wieder darin zu verschwinden. Natürlich habe sie da sofort eingegriffen und das Spiel unterbrochen, sagt die Lehrerin schnell und in beschwichtigendem Tonfall. Sie habe die betroffenen Kinder zur Seite genommen und ihnen ruhig, aber bestimmt erklärt, dass die Vergangenheit kein Spielplatz und die Verbrechen des Nationalsozialismus nichts, aber wirklich gar nichts seien, worüber man spaße. Die Kinder haben mit großen Augen genickt und allesamt sehr einsichtig gewirkt.

Na also, murrt Herr Wotawa.

Nur leider habe sich der traurige Vorfall wiederholt, fährt die Lehrerin etwas strenger fort. Einen Tag darauf sei nämlich das ganz gleiche Spiel zu beobachten gewesen. Natürlich habe sie rasch reagiert und wieder haben die Kinder genickt, aber diesmal mit nicht ganz so großen Augen und fast mechanisch. Und am darauffolgenden Tag habe die Lehrerin zu Beginn der großen Pause schon so dringend auf die Toilette gemusst, dass sie ein paar Minuten später als sonst am Schulhof erschienen sei. Da habe sie gesehen, was mit denen passiere, die erwischt worden seien.

Frau Ramsl ist blass um die Nase geworden und blickt drein, als würde sie im Kino einen Thriller verfolgen.
…Was denn?, haucht sie mit aufgeregt heiserer Stimme.

Nun, die Lehrerin räuspert sich wieder und steht auf, nun wird es ihr doch noch unbehaglich auf ihrem Stuhl, sie wandert hinter dem Lehrerpult hin und her.

Die, nun ja, „Nazis“, haben die, nun ja, „Juden“, in, nun ja, „Konzentrationslager“ gesperrt, murmelt sie, ohne die Eltern anzusehen.

Was heißt das?, quietscht Frau Ramsl.

Die Gefangenen seien in einen Lehrmittelschrank gesteckt worden, zum Beispiel, antwortet die Lehrerin.

Haben wir doch auch gemacht, raunt Herr Wotawa seiner Frau zu, während er auf seinem Mobiltelefon online ein Aktienpaket kauft und wieder verkauft, wir haben’s natürlich anders genannt, aber Mitschüler in den Lehrmittelschrank stecken, das schon…

Frau Ramsl jedoch drückt sich eine Hand aufs Herz und bekommt fast keine Luft mehr bei der Vorstellung ihrer kleinen, blonden Clarissa in einem düsteren Lehrmittelschrank.

Was heißt hier: Zum Beispiel, was denn noch, was denn noch alles?, zetert sie, und Frau Konrad springt auf, um ihrer Rolle als Elternsprecherin gerecht zu werden. Allerdings weiß sie dann nicht recht, worüber sie sprechen soll und zupft schließlich nur unbehaglich an ihrer Bluse herum.

Die alten, grauen Herzers schütteln ihre altbackenen Köpfe.

Die Lehrerin atmet tief durch.

Sie habe den Schülern und Schülerinnen immer wieder erklärt, dass dieses Thema kein Spaß sei, versichert sie, dann aber wird sie nachdenklich.

Allerdings habe sie auch nicht das Gefühl, dass die Kinder es für einen Spaß hielten, sagt sie nach einer kurzen Sprechpause. Im Gegenteil, sie hätten es sogar sehr ernst genommen. Jeden Tag wiederholten sie ihr Spiel, aber nicht aus Spaß, sondern … zwanghaft.

Die Lehrerin ist am Fenster stehengeblieben und blickt in die Dämmerung hinaus, während sie mit der rechten Hand die Perlen ihrer Halskette durch die Finger laufen lässt. Sie hat es noch nie so ausformuliert, nicht einmal in Gedanken, aber nun scheint ihr die krankhafte Besessenheit, die diesem Spiel zu Grunde liegt, unübersehbar.

Schrecklich, murmelt Frau Konrad.

Meine arme Clarissa!, heult Frau Ramsl.

Da kommt plötzlich Leben in Frau Wotawa, die bisher still und elegant an der Seite ihres Gatten gesessen und mit dem Handy abwechselnd Memos von ihrem Chef und Fragen von ihrer Babysitterin beantwortete. Es hätte eigentlich ihr freier Abend werden sollen und spätestens, seit sie den zerknüllten Zettel mit der ziemlich nachdrücklichen Einladung zum außerordentlichen Elternabend aus Pauls Schultasche gefischt hat, brodelt in ihr ein unüberwindbarer Frust. Dass dieser Frust bei irgendeinem nichtigen Anlass aus ihr hinaussprudeln würde, hat Frau Wotawa geahnt, nur hätte sie darauf wetten können, dass es ihren Mann treffen würde. Herr Wotawa hält sich für den Ehemann des Jahres, nur weil er hier neben ihr sitzt, und die Umstände scheinen ihm Recht zu geben, denn außer ihm ist von allen Vätern nur Herr Herzer gekommen, und der zählt nicht, der ist Pensionist. Ihre Pflicht ist seine gute Tat, denn Frau Wotawa weiß, wie schnell ihrem Mann eine Ausrede eingefallen wäre, wenn sie ihm vorgeschlagen hätte, er sollte doch allein zum Elternabend gehen. Er hätte so etwas gesagt wie: Ach, Schatz, du weißt doch, du kannst diese Dinge viel besser!, ein als Kompliment getarnter Befehl, denn mit „diese Dinge“ meint er die alleinige Verantwortung für das gemeinsame Kind. Aber als Beiwerk sitzt er gern daneben, einzig und allein für die Bewunderung der anderen Mütter. Was für ein Pech für Frau Ramsl, dass Frau Wotawas Frust zufällig gerade in diesem Moment überkocht.

Frau Wotawas Augen funkeln böse, während sie zu Frau Ramsl hinüberzischt: Ihre arme Clarissa? Wer sagt denn, dass Ihre Clarissa keiner von den Nazis gewesen ist?

Herr Wotawa, von der plötzlichen Hitzigkeit seiner Frau völlig überrumpelt, prustet los.

Und Frau Ramsl geht nun endgültig in Tränen auf. Sie weint, weil sie sich die möglichen Leiden ihrer kleinen Clarissa vorstellt und mehr noch wegen der Ehrenbeleidigung und am allermeisten aus Neid. Neidisch ist sie auf Frau Wotawa mit ihrem gutaussehenden Ehemann, der sie nicht nur auf den Elternabend begleitet, sondern jede infantile Garstigkeit auch noch mit einem Lachen honoriert. Wäre Frau Ramsl so gemein zu einer anderen, würde ihr eigener Mann sie zurechtweisen, und er würde sie auch zurechtweisen, wenn sie nicht gemein wäre. Nie macht sie etwas richtig in seinen Augen, und sie kann sich gar nicht daran erinnern, von ihm jemals eine emotionale Unterstützung bekommen zu haben, die vergleichbar ist mit dem bellenden Lachen Herrn Wotawas. Wenn nicht Clarissa wäre und ihr kleines Brüderchen, aber sie sind und darum muss Frau Ramsl bleiben und deshalb ist es ja in Wahrheit ganz gut, dass ihr Mann sich für nichts interessiert und sie nur selten irgendwohin begleitet. Trotzdem kriegt sie sich jetzt nicht mehr ein, vor lauter Schluchzen droht sie zu hyperventilieren, und endlich hat Frau Konrad etwas zu tun. Sie eilt zu Frau Ramsl hinüber und legt den Arm um sie, aber nicht mütterlich, eher staatsmännisch.

Jetzt sehen Sie, was Sie angerichtet haben!, faucht sie in Richtung Frau Wotawa, aber diese hat sich ganz erleichtert und befriedigt schon wieder ihrem Smartphone zugewandt.

Indessen ist die Lehrerin nervös geworden, sie blickt hilfesuchend um sich und entdeckt ihren Erwachsenenstuhl, auf den setzt sie sich wieder.

Es solle hier doch auch gar nicht um Anschuldigungen gehen, haspelt sie währenddessen, sondern einzig und allein um Lösungsansätze!

Herr Herzer lächelt schief, durch Frau Wotawas ungewohnte Aufmüpfigkeit ist er aus seiner schläfrigen Lethargie erwacht. Wenn er nur dreißig Jahre jünger wäre, denkt er, oder vielleicht wären auch zwanzig genug. Abgesehen vom attraktiven Anblick der Frau Wotawa hält er diesen ganzen Elternabend nämlich für eine große Zeitverschwendung. Und hat diese Frau Lehrerin nicht so ein gewisses Renommee, die kleinsten Dinge aufzubauschen? Er glaubt sich daran erinnern zu können, dass Vicky einmal Strafaufgaben bekommen hätte wegen einer verbogenen Füllfeder, einer stumpfen Bleistiftspitze oder einer ähnlichen Lappalie. Und dann fällt ihm ein, dass es gar keine Strafaufgaben gewesen sein können, weil die heutzutage nicht mehr erlaubt sind. Irgendetwas anderes hat Vicky bekommen, aber Strafe war es keine, denn die jungen Leute heutzutage dürfen ja überhaupt nicht mehr bestraft werden, und dann wundert man sich, dass sie in den Pausen eigene Spiele erfinden, um Zucht und Ordnung herzustellen. Nicht, dass er das gut finden würde, aber wundern darf man sich wirklich nicht.

Sehr gut, sagt Herr Herzer sarkastisch und zieht die Lippen noch schiefer, und wie stellen Sie sich einen Lösungsvorsatz vor, so ganz ohne Anschuldigungen?

Ach!, ruft Frau Herzer und klatscht die Hände vorm Gesicht zusammen, als hätte ihr Mann gerade dazu angesetzt, einen schweinischen Witz zu erzählen, aber einen ziemlich guten. Dann erhält Herr Herzer jedoch Zuspruch von ganz überraschender Seite: Ausgerechnet Frau Konrad springt ihm bei, sie lässt die schluchzende Ramsl links liegen und steht plötzlich direkt hinter den Herzers.

Das will ich aber auch wissen!, verkündet sie mit fester Stimme, ganz die Rechtsanwältin, die sie außerhalb dieses Klassenzimmers ist. Frau Konrad kann stolz auf sich sein: Sie zieht ihren Benjamin allein groß und nebenher hat sie studiert und auch noch das Anwaltsexamen gemacht. Sie betont häufig, wie stolz sie auf sich sein kann und ist überzeugt davon, dass dieser Umstand sie zur Feministin macht. Allerdings verachtet sie die meisten anderen Frauen, Frau Ramsl zum Beispiel für ihre Gluckenhaftigkeit, Frau Wotawa für das übertriebene und Frau Herzer für das nicht vorhandene Make-up im Gesicht, und im Besonderen verachtet sie momentan die Lehrerin. Hinter dem gutmütigen Gesicht glaubt Frau Konrad eine vor pädagogischer Korrektheit erstarrte Wurschtigkeit zu wittern, schlimmer noch, eine an Täter-Opfer-Umkehr grenzende Toleranz und auch sonst alles, was die schlechte Welt von heute schlecht macht.

Frau Herzer hüstelt ein wenig, Konflikte schlagen ihr immer auf die Atemwege.

Es ist, weil wir die Kinder viel zu früh mit so etwas belasten, murmelt sie, nicht wahr, wir erzählen ihnen Dinge, die sie noch nicht verstehen können. Was sollen die Zehnjährigen denn auch mit dem Holocaust anfangen, und genauso ist es mit dem Sexualunterricht…

Sie blickt scheu auf ihren Schoß hinunter, wo das Strickzeug liegt, der Anfang eines Pullovers für Vicky, den diese niemals anziehen wird. Der ist uncool, Mama, wird sie sagen, oder ihn einfach in die hinterste Ecke des Kleiderschranks stopfen und dort vergessen. Frau Herzer versteht ihr Kind nicht mehr. Bei den Älteren ist es anders gewesen, natürlich hat es auch da manchmal Probleme gegeben, aber Frau Herzer hat immer das Gefühl gehabt, zumindest in derselben Welt wie sie zu leben. Vicky lebt nicht in derselben Welt. Sie sagt Wörter, die Frau Herzer nicht versteht, hängt sich Bilder von Stars an die Wände, von denen Frau Herzer noch nie etwas gehört hat und manchmal blickt sie einfach starr vor sich hin, dann kann Frau Herzer noch nicht einmal ahnen, woran sie gerade denkt. Sogar ihre Periode hat Vicky schon bekommen, obwohl sie doch erst zehn Jahre alt ist. Es ist das Internet, denkt Frau Herzer, das Internet und die Handys und der Sexualunterricht und der Holocaust. Alles zu früh, alles nur dazu erfunden, um ihr ihr kleines Mädchen zu entreißen. Sie nimmt die Stricknadeln wieder zur Hand und denkt an die Zeit zurück, als Vicky noch ein Baby gewesen ist, das beruhigt sie immer.

Frau Konrad scheint sie gar nicht gehört zu haben, oder sie ignoriert sie absichtlich, aber Frau Herzer ist das gewohnt.
Um etwas unternehmen zu können, müssen wir doch wissen, wer die Täter sind!, reklamiert Frau Konrad mit scharfer Stimme, es kann doch nicht angehen, dass hier Nazis und Juden in einen Topf geworfen werden …

Aber bitte, bitte! ruft Herr Wotawa entnervt dazwischen, bevor die Lehrerin noch das Wort ergreifen kann: Hier geht es doch gar nicht um echte Nazis und Juden, verdammt noch einmal, das ist doch nur ein blödes Spiel unter Kindern!
Frau Konrad keucht aufgebracht: So fängt es eben an, so fängt es eben an, im Kleinen!

Wir haben’s damals eben Cowboy-und-Indianer genannt, echauffiert sich Herr Wotawa, war das vielleicht politisch korrekt?, und Frau Konrad kreischt kampfeslustig: Whataboutism, das ist ein ganz gemeiner Whataboutism!

Herr Wotawa schafft es übrigens, sich ganz routiniert und fast ohne echte Emotion in Rage zu reden, nicht einmal sein Smartphone muss er dafür zur Seite legen. Er hat als junger Mann an der Börse gearbeitet und ist nun Abteilungsleiter in einer Investmentfirma, die erfolgreich genug ist, um brüllende Männer in Anzügen noch zu schätzen zu wissen.

Ach was, schreit er Frau Konrad an und fühlt sich dabei fast schon gelangweilt, spätestens jetzt muss doch sogar so eine Links-Grüne wie Sie zugeben, dass man die Vergangenheit endlich getrost ruhen lassen kann, weil die wirklich Bösen, die sitzen ja drüben in Russland…

Die Lehrerin hämmert richterlich mit der Faust auf das Lehrerpult und mahnt zur Ruhe.

Frau Jagovič schweigt.

Hinterher, am Gang draußen, sind alle wieder per Du und lächeln einander verlegen an, als wären sie gerade zufällig aufeinandergestoßen und nun verpflichtet, Höflichkeiten auszutauschen. Nur Frau Jagovič fehlt in der Runde, sie ist sofort, nachdem der Elternabend offiziell beendet worden ist, aufgesprungen und mit gesenktem Kopf aus dem Klassenzimmer gerannt.

Die Lehrerin ist stehend nun wieder auf Augenhöhe mit den Eltern, sie scheint sich ein wenig zu genieren dafür und lächelt besonders hartnäckig. Sie ist tatsächlich standhaft geblieben, hat keine Täter- oder Opfernamen verraten und immer wieder darauf hingewiesen, dass man gemeinsame Lösungsansätze finden müsse, gemeinsame.

Auch wenn heute keine Lösungsansätze gefunden worden seien, erklärt die Lehrerin nun, während sie sich ihren leichten Sommermantel um die Schultern legt, sei es doch gut und wichtig gewesen, über den Vorfall gesprochen zu haben.

Die Eltern nicken kollektiv.

Schon komisch, murmelt Frau Ramsl, deren Tränen längst getrocknet sind, schon irgendwie komisch, diese Frau Jagovič.

Sie kommt vom Balkan, wirft Frau Wotawa ein, als würde das etwas erklären.

Die ist psychisch nicht ganz in Ordnung, behauptet Herr Wotawa, das sieht man auf den ersten Blick.

Und Kevin ist ja auch kein Name, sondern eine Diagnose, sagt Frau Konrad und unterdrückt ein Kichern.

Kevin Jagovič, lacht Herr Herzer, was für eine Diagnose!

Kein Wunder, dass es mit so einem Probleme gibt, seufzt Frau Herzer.

Alle stimmen ihr zu.

Die Lehrerin schweigt.

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Irene Diwiak, geboren 1991 in Graz, aufgewachsen in Deutschlandsberg, Studium der Judaistik, Slawistik und Komparatistik in Wien. Nebenher viel Theater, auf und hinter der Bühne. Literaturpreise, u.a. der Jugendliteraturwerkstatt Graz (2005, 2008), FM4-Wortlaut (2013), Theodor-Körner-Förderpreis (2015), Jurypreis der Nibelungen-Festspiele Worms (2015), Förderpreis der Stadt Graz (2018), Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin (2019), Literaturstipendium der Stadt Graz (2020), Jubiläumsstipendium der LiterarMechana (2021), Stipendium für Dramatik der Stadt Wien (2022). Die Isländerin wurde 2016 in Worms uraufgeführt, Liebwies erschien 2017 bei Deuticke (Taschenbuchausgabe 2019 bei Diogenes) und stand auf der Shortlist für den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises. Ihr zweiter Roman Malvita erschien im September 2020 bei Zsolnay. Voraussichtlich 2023 wird ihr dritter Roman bei C.Bertelsmann erscheinen.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.