Intertextualität als Versteck

Lektürenotizen von Sabine Gruber zu Maggie Nelson, Gerhard Kofler, Arthur Koestler, Anne Carson und Patrizia Cavalli.

Online seit: 16. April 2024

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis

Zweite Lektüre. Viel zu spät entdeckt. Angeblich eines von David Bowies Lieblingsbüchern. Wenn ich die Jüngeren frage, ob sie Koestler kennen, schütteln sie nur den Kopf. Bowie wurde wohl durch den großen Erfolg von Darkness at Noon im englischsprachigen Raum auf den Roman aufmerksam.

Ich habe das Buch in den frühen 1990er-Jahren geerbt, es ist aus dem Restbestand der Bibliothek eines jüdischen, kommunistischen Arztes, der im Karl-Marx-Hof ordinierte. Sonnenfinsternis war in den Augen von Erich Schindel (Onkel von Robert Schindel) Literatur eines Renegaten. In diesen „Rechthabervereinen“ (so der Neffe über die uneinsichtigen Kommunisten in einem Essay) war der Renegat das Allerletzte.

Wer will schon die Literatur eines „Allerletzten“ lesen. Lange lag das Buch bei mir herum. Dass es in der Bibliothek eines bis zum Schluss überzeugten Kommunisten gewesen war, lässt doch vermuten, dass die Zweifel schon am Keimen waren …

2018 erschien dann die Originalfassung des Romans, die machte mich neugierig, zumal mir erst da klar wurde, dass meine alte, geerbte Fassung nur eine Rückübersetzung aus dem Englischen war.

Koestler sezierte im Pariser Exil (1938–1940), Tür an Tür mit Walter Benjamin lebend, nachdem er die Todeszellen Málagas und Sevillas unter Franco überlebt hatte, die Willkürherrschaft Stalins, während der Großteil der Kommunisten noch an das „theoretische Zukunftsglück“ glaubte. Blinde „Führervergottung“ also.

Rubaschow vor dem Untersuchungsrichter stehend: „Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit sind so gründlich ausgerottet, als hätte es niemals eine Proklamation der Menschenrechte gegeben. Wir haben den größten Polizeistaat der Geschichte aufgebaut, den gigantischsten Bespitzelungsapparat, das raffinierteste wissenschaftlichste System körperlicher und psychischer Folterung.“ Es sind vier Verhöre, in denen an Rubaschow (der vorher auch schon auf der anderen Seite gewesen war und selbst verhört hatte) die dem System inhärente perverse Logik der Schauprozesse vorgeführt wird. Am Ende bekennt Rubaschow, was er nicht begangen hat. Auch bei der zweiten Lektüre Bewunderung für die eindringlichen Beschreibungen der Gefängnisszenen, für den Mut zu dieser frühen und radikalen Abrechnung mit dem totalitären Kommunismus.

Die französischen Kommunisten haben bei Erscheinen des Romans 1946 alle Bücher aufzukaufen versucht. Die Wahrheit über Stalin sollte keiner erfahren. Aber die Aktion bewirkte das Gegenteil, aus dem Buch wurde ein Bestseller (400.000 verkaufte Exemplare). Grandiose Klassenfeindlektüre! Für die Konservativen war Sonnenfinsternis freilich eine willkommene Waffe im Kalten Krieg.

* * *

Gerhard Kofler:
Taccuino delle ninfee (Notizbuch der Wasserrosen)
und
Taccuino su Nuova York a distanza (Notizbuch über New York aus der Entfernung)

Bis vor Kurzem habe ich immer nur in diesen Taccuini geblättert, denn Gerhard Kofler war vor allem ein italienischer Lyriker, einer mit einem deutschen Namen, das haben ihm viele nicht verziehen. Am meisten hat Kofler geärgert, wenn man ihn einen als Italiener verkleideten Südtiroler genannt hatte. Im Notizbuch der Wasserrosen, das er auf Italienisch geschrieben und dann selbst ins Deutsche übertragen hat, kommt so manche (berechtigte) Empfindlichkeit zur Sprache. Dass kein Gedränge um ihn herrsche. Aber um welchen Lyriker herrscht schon Gedränge? Und dass  man in Südtirol in zwei Sprachen über seine Gedichte schweige.