Szenen einer Revolution

Von Ilija Trojanow. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 101

Online seit: 20. Januar 2023
Ilija Trojanow © José Oliver
Ilija Trojanow. Foto: José Oliver

Blasmusik unterm Balkon, rote Käppis weiße Jacken, zugeknöpft bis oben hin, Schatten schief im Gleichschritt, sechs in einer Reihe in sechs Reihen, vorn der Staffelstab, stoßwärts die Standarte, Schatten wie Tornister am Rücken, Stech auf Schritt, eins zwei, eins zwei drei vier. Die Musik hält inne, bleibt stehen, pausiert. Sechs weiße Reihen, rotgepunktet, und tollende Kinder, ein Junge erwachsen mit Mütze und Stolz, Mädchen mit Hummeln im Hintern spielen Himmel und Hölle, andere laufen mit anderen vorbei, aus der Stille setzt sich Ordnung in Bewegung, schau was für eine Schau, sechs Tuben, auf der Straße, auf rechteckig behauenen Steinen, sechs mal sechs Stiefel fügen sich zum Bild, eins und zwei und, tragen es hinweg, eins zwei drei vier, die Bläser lauter als der Jubel, hinter den Stößen Kadetten, bei Kräften, gymnastikuniformiert. Eine Nachbarin tritt hinaus auf den Balkon nebenan, ein Netz über struppigem Haar, graue Strähnen und Weckgläser aufgestapelt um sie herum. Ein Paukenschlag, ein Magenschlag, Augen blitz und herum, die Farben verwischt, Paare ohne Stiefel, fünf Instrumente und eine Stolpertuba, die Hosen zerrissen, die Käppis im Graben, drei vier eins, zwei dazwischen, der Staffelstab ein Gummiknüppel, alles zerläuft, ein zweiter Paukenschlag, alles hechelt und hetzt, die Arme blutverschmiert bricht ein junger Mann unterm Balkon zusammen, ein Angriff, gegen …?

sie ist hingefallen, wie andere um sie herum, herbeigeströmt aus allen Richtungen, mit aufgescheuerten Lippen. In einer Seitengasse „Brot“, in einer Nebenstraße „Krieg“, auf dieser Allee „nieder, nieder mit …“. Jemand deutet in die Höhe, oben Gewehre, unten Schreiköpfe und fuchtelnde Arme, die Maschinengewehre husten trocken wie Sterbenskranke, die Menschen bieten den Dächern die Stirn, vom Himmel auf die Erde, vom Dach aufs Pflaster, Schüsse, fallen sich die Engel, Schüsse, tot. Vor ihr ein Hotel, hell leuchtend, durch die zerbrochenen Fenster flattern Samtportiere. Der Mann, der ihr Einlass gewährt, trägt Vollbart und eine Pförtneruniform. Von der Decke hängen Kronleuchter an heraldischen Fäden, Zwilling Drilling Gitter. Sie schwingen wie Kirchenglocken, klirren mit Zähnen aus Kristall. Ein Blitz, schwarz, ein Blitz, schwarz auf schwarz, Kugeln zerfetzen den Bezug der Fauteuils. Sie kriecht hinter die Theke der Rezeption, dort hocken einige Verängstigte, in ihren Augen kein Rat, hinter ihrem Rücken eine blumige Tapete. Ein Servierwagen mit Cremetorten rollt über den Marmor, bedächtig, als werde er geschoben von einem Kellner mit einem entspannten Angebot auf den Lippen. Eine der Torten fällt zu Boden, ein Teller zerbirst, ein Kännchen purzelt gegen eine Säule und Milch ergießt sich über den Boden, rinnt einem toten Offizier in den offenen Mund. Ein Rekrut rammt sein Bajonett in die Mahagoni-Täfelung. Die Klinge spiegelt den Kronleuchter, bevor er zu Boden kracht und sie in Ohnmacht.

sie wird umarmt von Fremden, als werde zum allerersten Mal gefeiert, „unsere Helden“ schreit jemand und wieder eine Umarmung. Gesichter, die zu lange gleichmütig getragen wurden, abgenutzte, ausgemergelte Gesichter, die ins Leben bersten, weil es endlich taut. Die Menschen tanzen, zum Rhythmus ihrer Euphorie, endlich hat Hoffnung keinen bitteren Nachgeschmack. Auf jedem Pflasterstein, vor jedem Gebäude und an jeder Ecke unterhalten sich die Leut’. Banner verkünden den Generalstreik. Ein Wort, das nach Plan und Planung anmutet. Es treibt sie hinaus auf einen Platz, wie ein See voller Badender, die sich gegenseitig erzählen, was sie heute nicht arbeiten werden. Sie teilen einander mit, was sie nicht produzieren werden, was unerledigt bleiben wird. Und weil es so viele sind und weil sie sich gegenseitig mit ihren Beschreibungen anstacheln, köchelt es gewaltig auf diesem Platz. Ein Druckermeister hat sich einen Buchstaben auf die Hand gemalt, ein schönes großes A. „Bezahlt werden wir nach Buchstaben.“ „Klingt gerecht?“ „Mitnichten.“ „Wieso denn nicht?“ „Was ist mit den Zeichen?“ „Welche Zeichen?“ „Die Zeichen zwischen den Halbsätzen und am Ende der Sätze.“ „Ach, du meinst die Fragezeichen?“ „Ja, die meine ich, aber auch die Bindestriche und die Beistriche …“ „Und die Ausrufezeichen, nicht? Wie jetzt! Wie hier!“ „Genau, du hast es kapiert, ein Ausrufezeichen macht genau so viel Arbeit wie ein K oder ein M, aber nichts kriegen wir dafür.“ Die Metallarbeiter, erwartbar vielzählig, nicken verständnisvoll. Was sie heute nicht gießen und schweißen, das kann sich im Groben jede und jeder vorstellen, die Details interessieren eh niemand, sie schweigen lieber, überlassen das Reden den Chauffeuren in ihren polsterartigen Uniformen, die allen anderen versichern, beim Generalstreik arbeiteten sie mehr als im Dienst, denn da stehen sie überwiegend herum, meist an der kalten Luft und warten, rauchen eine Zigarette nach der anderen, „wir verrauchen die Zeit, Genossen, mehr ist nicht zu sagen“. „In Transport machen wir auch“, sagen die Eisenbahner, „weniger elitär als ihr, weniger etepetete!“ „Ach was, Durchfall kriegt doch ein jeder.“ „Ja, schon, aber nicht jeder kriegt was Verdorbenes zum Essen.“ Sie grinsen einander zu und wundern sich, dass auch Bankangestellte unter ihnen sind, die sich die Handschuhe reiben, weil sie keine Scheine zählen müssen, keine Wechsel ausstellen. Als wären diese Tütenkleber des Kapitals nicht exotisch genug auf dem Platz der vielen Zeichen, mischen sich auch einige Paradiesvögel des kaiserlichen Balletts unter die Verweigerer. „Was denn kaiserlich, es hat sich ausgekaisert!“ „Könnt ihr nicht mal hüpfen und springen fürs Volk?“ „Können wir, sogar einen Spagat machen für das Proletariat können wir, und eine Hebefigur“, worauf eine junge Frau ihre Arme zu einer zittrigen Siegessäule spreizt und die Verkäuferinnen und Schaffner, die Näherinnen und Hafenarbeiter eifrig applaudieren. „Das ist sehr behände“, sagt ein Mann, offenhörig ein geübter Redner, „das ist höchst elegant, aber wisst ihr, was wir – unsere kleine Gruppe hier – gerade nicht tun? Wir sitzen nicht im Gericht, wir verhandeln keinen Fall für unsere Mandanten und die da, die haben wir mitgeschleppt, wisst ihr, wer die sind? Das sind die Geschworenen, und die hören sich keine Beweise an und die bilden sich kein Urteil, weil wir uns alle miteinander weigern, einen anderen Fall zu verhandeln als den Fall … der Monarchie!“ Gebrüll allerorten, als die Aussage des schrulligen Anwalts weitergetragen wird, von Mund zu Ohr, die Arbeit ruht, das Blut in den Adern der Stadt fließt andersrum. Mit einem Mal Unruhe unter den Versammelten. Männer zu Ross am äußersten Ende des Platzes, unübersehbar viele, Kavallerie – die Kosaken –, Gewalt im Trab. Oder doch nicht? Die Reiter lächeln den Demonstrierenden zu, die Menge jubelt, wann hat sich je ein Kosak im Sattel verbeugt vor einem Generalstreik. Als die Polizei anrückt, zieht der Kommandeur der Berittenen drohend seinen Säbel, die anderen machen es ihm nach, die Gefahr ist gebannt, der Generalstreik dehnt sich aus, Stunde um Stunde, bis zu einem Wortwechsel zweier Unbekannter: „Was hast du in der Hand, Genosse?“ „Schmirgelpapier.“ „Wozu denn das?“ „Um unsere Wörter zu schleifen. Je rauer, desto besser.

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Ilija Trojanow ist Schriftsteller, Publizist und Initiator des Utopischen Raums. Verfasser von Romanen (Der Weltensammler; EisTau; Macht und Widerstand; Doppelte Spur) sowie politischen Essays (Kampfabsage, mit Ranjit Hoskoté; Angriff auf die Freiheit, mit Juli Zeh; Der überflüssige Mensch; Hilfe? Hilfe! mit Thomas Gebauer). Filme: Vorwärts und nie vergessen; Oasen der Freiheit.

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Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.