Weltlagen 1-10

Von Gerhard Ruiss. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 105

Online seit: 17. Februar 2023
Gerhard Ruiss © Chris Haderer
Gerhard Ruiss. Foto: Chris Haderer


almleben bei regen

stell dich nicht den shuttlebussen in den weg
es kommen keine

komm nicht den kühen in die quere
sie gehen nicht zur seite

mit dem vieh im stall brüll nicht mit
was du kriegst

mit den fischen aus dem wasser
schnapp nicht nach dem regen

in der luft, die trüb wie der bach eine brühe
und es beißend kalt ist heute

und rieselregenregelmäßig
leise.

 

sichstrecken

da gibt es die
die sind verbissen
und die
die alles müssen
und die
gleich zum vergessen
und die
die alles möchten
aber das erst
gar nicht wissen.

Leihgedicht aus „Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste. Kanzlergedichte 3. 2018 – 2023“, Edition Aramo, Wien, Erscheinungstermin 2. März 2023

 

hausmusik

bei der nachbarin gleich oberhalb
spielt es für elise
beim nachbarn gleich darunter
spielt es für elise
bei den nachbarskindern links und rechts von nebenan
spielt es für elise
ein blütenweißer schimmel schwebt heran
verehrer pressen sich wie flügelleim und verehrerinnen fressen flügelbeine an
die kinder der für-elise-eltern drücken sich die finger gram
von vorne an und noch einmal von vorne an
für ihr ganzes späteres weiteres leben
was sie einmal haben werden
davon dann.

 

macht der sommer platz

ende august haben briefbeschwerer immer zeit
erholt vom fensterflügelschlagen, ganz egal
was offen bleibt
wenn die ansichtskarten kommen
von strahlend blau bis tagesanbruchsnebelig
und es bleibt weiter heiß
aus den kellern riecht es nicht mehr muffig
in den briefkästen herrscht hochbetrieb
in denen keiner nachsieht
von wo die urlaubsgrüße sind
und ob vielleicht noch jemand briefe schreibt
und den einen, auf den man wartet
der dort liegt
vergeblich.

 

ein will, ein still, vor müll, gewühl

das will wird still
ziel lässt sich keines finden
von unten an und weiter hinten
gesucht im wühlgebrüll
vor voll, vor fühl, per fall, für viel
wer will, der kann
wer kann, ist dran
tief drin im müll
vor scham
noch tiefer sinken
zurück zum neubeginn
vor dem verschwinden.

Dem Exportschlager Müll.

 

portraitmalerei

sehen alle aus
wie comix-figuren
fällt keinem auf
mit nähten wie bei zusammenstößen
von alten fischgrätparketten
unter dem trikot frei heraus
bis zur brust hinauf
wölbt sich der bauch
von nichts zurückgedrückt
und zugedeckt
abstandslos
zum schritt
die karikaturisten wandern
in die letzten rückzugsgebiete
zum neubeginn
mit den dort einheimischen aus.

 

mir scheint, wer lacht?
kinderlied 2019

die sonne lacht
der mond verschwindet auf verdacht
falsch aufgegangen
falsch verblasst
kehrt er wieder:
wer als letzter lacht

die sonne verschwindet auf verdacht
sie denkt sich, sie hat
das wichtigste verpasst
alles leuchtet, raucht, blitzt, strahlt
ausgelassen, hausgemacht

der mond, der lacht
die sonne lacht
zur falschen zeit, am falschen platz
es wird nicht mehr tag
und wird nicht mehr nacht
und im tiefen keller
viel tiefer noch
im kohlenschacht
die kohlen
aus ihrem allertiefsten kohlenschlaf
sind vom mond- und sonnenlachen
zutiefst erschrocken aufgewacht

und in der küche die teller
haben, als gäbe es ein beben
der richterskalastärke sieben
oder acht
den allerärgsten krach gemacht.

Leihgedicht aus „Zweitversionen“, unveröffentlicht. Nach Günter Grass: Kinderlied 1960

 

schwer zerrissener

mit meinem energieüberschuss
wo gehe ich hin?
zwischen hochgezogenen augenbrauen
und hinunterfallendem kinn
in meinem energiezusammenschluss
von was soll man da machen
bis ganz schön schlimm
mit meinem energieversammlungsbeschluss
wie ich mich aufgerafft habe
und dann doch nicht dazugekommen bin.

 

bringt zum verschwinden

wer seinen platz in der welt hat,
der rauchschwade, der dunstglocke, der geruchsspur

was seinen platz in der welt hat
der sprechblase, der duftwolke, der schnapsfahne

was keinen platz in der welt hat,
der anlage, der nachfrage, der toplage

wer keinen platz in der welt hat
der nobelmarke, der tiefgarage, der direktionsetage

wer seinen platz in der welt hat
der landplage, der saufgelage, der kommenden tage.

 

zur erhöhung des erlebniswertes

ich drehte das wasser auf
und ließ es fließen
ich drehte den herd auf
und ließ es sieden
ich zog die spülung
und ließ es rauschen
ich drehte zu darauf
alles kam zum erliegen.

* * *

Gerhard Ruiss, *1951 in Ziersdorf/Niederösterreich, Autor, Musiker, Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren. Veröffentlichungen u.a.: Dreibändige Gesamtausgabe der Lieder Oswalds von Wolkenstein in Nachdichtungen, Folio 2007–2011, Blech. Gedichte, Edition Art Science 2020, lieber, liebste, liebes, liebstes. andichtungen, Literaturedition NÖ 2021, Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste. Kanzlergedichte 3, Edition Aramo 2023. Auszeichnungen: Berufstitel Professor 2012, Würdigungspreis des Landes NÖ für Literatur 2016, H. C. Artmannpreis für Lyrik 2020.

* * *

Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.