Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede und Gegenlicht, aus dem Finnischen von Elina Kritzokat (Klett-Cotta)
Pirkko Saisio war mir vor dieser Entdeckung bisher unbekannt. Elina Kritzokat übersetzt sie nun endlich – hervorragend! – ins Deutsche und verhilft Saisio auch hierzulande zu spätem Ruhm. Es ist eine autobiographische Helsinki-Trilogie der 1970er und 1980er Jahre (der dritte Band erscheint bald auch noch auf Deutsch), die das politische, sexuelle und künstlerische Erwachsenwerden, oder überhaupt erst Menschwerden der Protagonistin beschreibt. Allein das ist schon toll, aber wie Pirkko Saisio mit Zeitsprüngen, lyrischen, aphoristischen, theatralen und phantastischen Einsprengseln arbeitet, ist phänomenal gut. Wenn man sich das Satzbild anschaut, mit vielen kurzen Abschnitten und Leerräumen, könnte man meinen, ihr Schreiben sei impressionistisch hingetupft, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Biographie der Protagonistin verdichtet sich immer weiter, die ausfransenden Erzählstücke lassen mich beim Lesen umso näher an sie heran, lassen das fragmentierte, aus Einzelteilen und Einzelbegebenheiten zusammengesetzte Leben eindringlich hervortreten. Eine große finnische Entdeckung!
Franz Friedrich: Die Passagierin,S. Fischer
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass die deutschsprachige Gegenwartsliteratur alles andere als einförmig ist: Hier wäre er! So wie Franz Friedrich schreibt kein anderer. Ein Erzählwunderwerk ist dieser Roman, man wird als Leser hineingeworfen in eine Welt der Zukunft, die eigentlich schon Vergangenheit ist. Zeitreisen, Evakuierungen aus historischen Zeiten in die Gegenwart hinein sind technisch möglich, wurden aber nach einiger Zeit wieder aufgegeben. Diese Welt der zukünftigen Gegenwart wird in einem reichen, warmen Erzählfluss ausgebreitet – man kann auch einfach sagen: in einer sehr schönen Sprache, der ich unendlich weiter zuhören könnte. Wir gehen mit der Protagonistin Heather durch diese Welt, leben uns in dem Sanatorium für Zeit-Evakuierte ein, lernen die einzelnen Figuren aus verschiedenen Epochen kennen und denken dabei mit ihnen über gelungenes und gescheitertes Leben nach. Wenn man aufregende und außergewöhnliche Gegenwartsliteratur nicht verpassen will (und eines der am schönsten gestalteten Bücher des Jahres in Händen halten will), sollte man dieses Buch unbedingt lesen.
Onur Erdur: Schule des Südens, Matthes & Seitz Berlin
Acht Kapitel zu acht französischen Theoretikern und Theoretikerinnen und den Einflüssen, den Nordafrika auf ihr Denken und Leben hatte (von Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard und Michel Foucault hin zu Jacques Derrida, Étienne Balibar, Hélène Cixous und Jacques Rancière). Ob es die Herkunft ist, Erweckungs- und sexuelle Befreiungserlebnisse (oder Ausbeutungsverhältnisse) bei Aufenthalten in nordafrikanischen Ländern oder die Reflexionen über den Kolonialismus: Alle sind mit dem Maghreb verflochten, ihr aller Denken ist vom Eigenen und Anderen, dem Blick darauf und der Differenz dazu beeinflusst. Erdur fächert die einzelnen Beispiele auf, erzählt elegant und einleuchtend und nicht ohne spöttischen Humor eine ganz andere Geschichte der französischen Postmoderne.
Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit, S. Fischer
Klassiker sind auch dazu da, sie immer mal wieder zu lesen und im Wiederlesen festzustellen, was man alles bei der ersten Lektüre ÜBERlesen hat … Sternstunden der Menschheit ist ein besonders großartiger und mitreißender Klassiker. Ich bin wieder eingetaucht in den packenden Wettlauf zum Südpol, in die phantastisch anmutenden Unternehmungen, Europa mit den Vereinigten Staaten per Atlantikkabel fernsprechend zu verbinden, in die dramatischen Entwicklungen um Cicero nach dem Mord an Caesar, in das Schicksal des Schweizers Suter, der den Goldrausch hervorruft und ihm dann, fast als Hiobfigur, zum Opfer fällt. Lenin, Händel, Napoleon: Mit den Männern der Geschichte fiebert und leidet man als Spätergeborener mit, ist aber auch manchmal ganz froh, dass man unermesslichen Größenwahn und unstillbare Geltungssucht im Strom der Geschichte als Schaumkrönchen hinter sich lassen kann.
Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, nach dem wiedergefundenen deutschen Originalmanuskript, Elsinor Verlag
Mein Lektüre-Highlight der vergangenen Wochen: Sonnenfinsternis, das Legende gewordene Buch von Arthur Koestler, in der wiedergefundenen deutschen Originalfassung (jahrzehntelang kannte man nur die aus der englischen Erstausgabe rückübersetzte Version). Was hier über die Ideologien – kommunistische und nationalsozialistische – des 20. Jahrhunderts verhandelt und gezeigt wird, wie die Verhöre und die Schauprozesse und auch die Zustände und Umstände in politischer Haft literarisch geformt werden, ist schlicht großartig. Ein so ins historische und weltanschauliche Detail gehender Roman könnte trocken werden oder langweilig, aber Koestler gelingt das Gegenteil, ein brennender Roman, und ich habe mit angehaltenem Atem die ganze Nacht durchgelesen, weil ich nicht aufhören konnte und so gefesselt war. Rubaschow, der aufrechte Protagonist, dessen eigene Ideale sich plötzlich und unaufhaltsam gegen ihn selbst wenden, ist eine unsterbliche Figur, und Sonnenfinsternis ist ein unsterblicher Roman.