Weyer, am 15. März 2015

Von Franz Schuh. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 55

Online seit: 4. März 2022
Franz Schuh © Alexandra Eizinger
Franz Schuh. Foto: Alexandra Eizinger

Als China von seiner Regierung
eingestimmt wird
Auf schwere Zeiten
Blicke ich gerade
dem Frühling
In seine kraftlose Sonne.
Der Winter war hart
„Einer der härtesten meines Lebens“
pflege ich in den letzten Jahren
über jeden Winter zu sagen.

Am 15. März 2015,
an meinem 68. Geburtstag
setze ich mich, ein Wiener,
weit entfernt von China, auf der Terrasse
der Sonderkrankenanstalt Weyer
den ersten Sonnenstrahlen des Jahres aus.
Das Rehabilitationszentrum Weyer.
Die Sonderkrankenanstalt
Am Hügel über dem Dorf
Wird in den Niederungen
Von den Einheimischen
Die „Beischelhöh“ genannt.
Das Beischl ist eine Innerei,
ohne Beischl ginge nichts,
kein Atemzug, kein Luftholen,
es ist die Lunge und zugleich
eine Speise, ein Gericht,
das genau besehen,
nichts Gutes verspricht
und am Ende schmeckt sie doch –
die labbrig, flüssige Innerei.

Unten im Dorf nennen sie
meine Miterkrankten „Tuberer“,
deren Husten Tag und Nacht
das Bellen herrenloser Hunde
übertönt – bis Waidhofen an der Ybbs
Und sogar bis Amstetten
und ich belle mit,
ganz bei allen Sinnen
der Meute.

Damals 1947, vor 68 Jahren –
hat sich der Vater gefreut
über das Kind, das ich war,
und war er zu meiner Mutter
an dem Tag gut gewesen –
wenigstens an dem Tag meiner Geburt
und wenigstens an dem Tag so gut,
wie er gut sein konnte? Die Mutter
hatte „mich geboren“,
„zur Welt gebracht“
aber vom ersten Tag an,
machte ich alle Arztbesuche
an der Hand des Vaters.
Mit dem Vater ging
Das Versprechen größeren Heils
Hand in Hand.

Der Winter 2015
erinnert mich an meinen Vater.
Alt geworden,
so ungefähr siebzig,
sagte mein Vater, die Kälte
wäre ihm unerträglich.
Ich verstand nichts
Und heute spüre
Ich es selbst: die Kälte
Ist unerträglich.

Wer an diesem Frühlingsanfang
Im Jahr 2015
Die Wolken beobachtet
Sieht kein Wolkenkuckucksheim
Sondern bloß tropfende Wassermoleküle
Die der Sonne den Einblick
Auf uns Irdische verdecken.
Die Sonne sieht uns nicht,
ungesehen dilettieren wir
auf dem Erdball in Weyer.
Bald, morgen schon,
wird man sagen:
„Jetzt kommt der Winter
Wieder im Frühling“.
Es wird also wieder kalt
Und Sturmböen erreichen dann
auch die Lungenheilanstalt
auf dem Hügel
über der Kleinstadt Weyer.
Als China von seiner Regierung
eingestimmt wird
Ich verstand nichts
Und heute spüre
Ich es selbst: die Kälte
Ist unerträglich.

Zugegeben,
auch dieser eine helle Moment
Der ersten Lichtstrahlen
Des Jahres
mündet in die Langeweile
des abgepackten Kleinbürgerlebens.
Ja, ja jetzt in der kommenden Wärme,
wenn überhaupt,
geht das Leben leichter weiter.
Aber was als Sehnsucht da war
Gegen alle Kälte,
wird in der Routine verschwinden
in der warmhaltenden Routine,
bis vielleicht wieder einmal
die Hitze eine Wende bringt.

Am 15. März 2015 wird also China
Auf schwere Zeiten eingestimmt
Die fetten Tage für China
sind vorüber. Die Dürre
wird sich ausbreiten.
Keine globale Formel,
die stets Anwendung findet
wie das Ein mal Eins
oder auf höherer Ebene
der pythagoreische Lehrsatz
oder in vollkommener Neutralität
die unvermeidlichen Floskeln
meines Wetterberichts.

Man stelle sich vor,
2015 diese eine Milliarde
370 Millionen 811 Tausend
und 348 Menschen
werden auf eine Stimmung
auf eine schlechte Stimmung
eingeschworen. Die Jahre
ungezügelten Wachstums: vorbei.
Aber immerhin korrupte Kader
Zu Fall gebracht
Ihre Netzwerke aufgerollt
Kraftvoll die Chinesen beherrscht.

Über eine Milliarde
370 Millionen 811 Tausend
und 348 Menschen –
und auf dem Volkskongress geredet.
Die Stimmung reguliert
Das heißt mir regiert
Die Milliarde eingeschworen
Auf diese eine Stimmung.
Keine Deregulierung
Der Launen. Eine Laune für alle,
mehr hat der Volkskongress
nicht zu vergeben.
Aber geldpolitische Lockerungen
sind in Aussicht gestellt.
Bitte, es geht – es geht
Ja um die Zukunft.
Und um die Gegensätze
In den geldpolitischen Strategien
Sie könnten ihren Niederschlag finden
In zunehmenden Kursschwankungen
An den internationalen Finanzmärkten.

Natürlich China
Und ich bin mit dem Glück befasst,
dass die Bäume
bald wieder Schatten werfen,
wenn endlich die Sonne auf sie scheint –
eine kalendarisch begründete Täuschung.
Natürlich China, riesige Dimensionen
auf der Landkarte –
es könnte eine Deflation
nach China kommen,
die sich gewaschen hat,
ein Preisverfall, der alles
auf dem Gebiete des Verfallens
auf den verfallenden Gebieten
in den Schatten stellt
in den metaphorischen Schatten
und nicht in den, der nur vom Einfall
der Lichtstrahlen abhängt.

Ich bitte, das Reich der Mitte
Riesig – unermesslich in der mit Sinnen
erfahrbaren Wirklichkeit.
Heute wissen wir, es kam noch
Schlimmer für uns und China.
Und Weyer, nicht weit von Scheibbs
Oder von Waidhofen an der Ybbs
Mit seinem Schlosshotel,
dagegen ein Nichts,
kaum ein Nadelkopf in der Erde.
Die eine Größe verrückt das Weltbild:
Wer in China war,
sieht die Welt anders
oder sieht überhaupt eine andere Welt
als der, der in Weyer, im Ennstal
von China einen Tagtraum hat.
Eine Welt ohne Weyer ist denkbar,
wenn auch niemals für die,
die aus Weyer sind. Eine Welt
ohne China wäre lückenhaft,
selbst für die, die aus Weyer sind.
Nur der Spießer ist sich selbst
genug – man will sagen: Chinesische Mauer.
Eingeschlossen kränkelt das alte Europa
wie in einer Sonderkrankenanstalt,
hustend und hüstelnd über Weyer,
das merkwürdiger Weise und zum Glück
von der Erde nicht verschwinden will.

Das Fleckchen Erde. Wenn also dort,
wo man in betonter Tautologie
seit 1926 Lungen heilt
(„Das Leben ist Atmen
Und das Atmen Leben“)
Plötzlich in der Frühlingssonne
die Bäume wieder Schatten werfen,
dann sind die Größenverhältnisse
vorübergehend außer Kraft,
aufgehoben in der Illusion
des „Zu schön, um wahr zu sein,“
und die Stimmung
scheint sich zu heben
von Wuhan bis Weyer.

Seltsame Einsamkeit,
besser Vereinzelung
nicht zuletzt angesichts des Kollektivs
eines quantitativen Übermaßes
das man mit Qualitäten eigener Herkunft
aushalten möchte. In China die Stimmung,
sie wächst, vermute ich,
keinem Menschen dort
über den Kopf
weil sie – auf Grund der Ein-Stimmung-
von allen getragen werden kann.
Die Welt ist im Großen und Ganzen –
China inklusive – eh eins.
Du brauchst nur Deine Spezialitäten,
Deine Leckerlis aus dem Tierleben
Zum Verkauf auszustellen
Im Lebensmittelmarkt deiner Heimat
dem Minimalort deines Daseins,
den man, weil er so tief verankert ist,
stets hochleben lassen muss
und schon ist die ganze Welt
angesteckt: Das ist die wahre,
die real existierende Völkerverständigung,
die Demokratie der Viren.
Ein Virus, der keinen Pass braucht,
wird zum Lebensmittelpunkt.
Für alle. Aber bis dahin ist noch Zeit,
die manche nicht mehr überleben.
Zukunft und Vergänglichkeit,
was ist das bessere Lebenselixier?

Seltsam meine Einsamkeit
Am 15. März 2015,
besser: meine Vereinzelung –
ein befremdlicher
und mir zugleich naher Zustand,
mit dem ich heuer
meinen Geburtstag verbringe,
genau darauf achtend
dass ich ihn so unwesentlich
hinkriege, wie er zum Beispiel
angesichts einer Milliarde Chinesen
im Stimmungsumschwung
Sein muss.

Die Welt ist angeblich großartig.
Aber nur kleinteilig
scheint sie halbwegs sicher. Wohin
wurde mein Geburtstag verbracht –
vom 68. bis ins 69. Lebensjahr?
Für die Chinesen kommt das Schlimmste
vielleicht noch, aber ihre Lösungen
im Kollektiv gewähren, wie das Klischee
es einem glauben macht, dass niemand
in ganz China allein unglücklich sein muss.

Eines Morgens in Weyer
Kippte das Wetter
Vom vorhergesehenen,
ja, vom versprochenen Sommer,
wieder hinein in den Winter
der ohnedies und „eh“
(wie der Wiener sagt),
„zu früh gekommen wäre.“
Ach, warten wir noch ein bisschen,
dann ist alles wieder wo?
In Ordnung, es ist dann in Ordnung.
Ordnung ist überall zuhause.

Ich zum Beispiel
war über dem Eingang
der Anstalt untergebracht,
also nicht im Teil des Gebäudes,
das auf der Rückseite wunderschön
und so heilsam im Walde lag.
So gehört es sich:
Vorne die Zivilisation,
hinten die Wildnis.

Hier über dem Portal,
durch das die Lungenkranken
Einlass finden
Und ihren Ausgang haben,
habe ich den Vorteil,
schlaflos und zermürbt
die Morgenraucher der Lungenheilanstalt
beobachten zu können.
Ob Frau oder Mann,
sie benützen im Morgengrauen
für ihr Raucherl eine kleine Hütte,
aus der es frühmorgens
vis a vis von meinem Blick,
unter meinem Fenster
unheilsam herausraucht.

Aber das macht ja nichts,
denn unter den paffenden Rauchern
Sind viele unheilbar:
COPD Diagnose und Therapie.
Damit nicht eine Stimmung herrscht,
spukt Ein Magen-und Darm-Virus
durch das Haus.
Die Betroffenen
Glaubt man daran zu erkennen
dass sie in ihren winzigen Zimmern
eingesperrt sind und weil –
auf Abholung lauernd –
ein leergegessener Essenswagen,
vor ihren Türen steht.

Unten
leuchten die Glimmstengel
der Raucher grell auf. Wie
Schmerzpunkte aus Feuer,
von Krankenschwestern modelliert,
damit es fachgerecht wehtut.

Schnee fiel. Zug um Zug
Zogen die Münder
An ihren Zigaretten
Und sie hielten
das Feuer am Leuchten.
Ich quälte mich zum Schreibtisch
Und komponierte einen Artikel:
„Was wird aus Österreich?“
„Ungarn!“, schrieb ich ohne Hoffnung
„Österreich-Ungarn“. Ich benannte
den Vorgang: „Orbanisierung“
nach einem berühmten Staatsmann.

Und dann fiel plötzlich der Schnee.
Im selben Moment war es Zeit,
eine Sonderkrankenanstalt erwachte,
und aus der Tiefe, den Hügel hinauf,
kamen im allmählich verschneiten Morgengrauen
diese Schlangen von Kraftwägen,
eine Menge kleiner Lichter,
vorangetragen wie bei einer Olympiade
und es sah aus, als ob das alles einen Sinn hätte,
wenngleich das Sichtbare bloß
ein pragmatisches Funktionieren verriet.
„Eine Lungenembolie musst
du erstmal überlebt haben“,
flüsterte ich mir zu.

Solange ich atmen werde,
bleibt es mir im Gedächtnis,
das ganz gewöhnliche Nicht-Ereignis
der Lichter einer Autoschlange,
die von weit unten, aus dem Dorf
ja, von einem anderen Planeten,
zu uns hinaufkam
und die mit ihrem Gelichter
die Abgeschiedenheit einer Heilanstalt
kurzfristig beleuchtete. In einer Winternacht
am Anfang des Frühlings des Jahres 2015
schließe ich das Fenster
vor dem Weckruf der Kälte
und studiere den Pflegeplan,
der mir – laut Pflegestützpunkt –
Heilung verspricht. Draußen im Morgengrauen
nehmen die souveränen Autolenker
allmählich ihre subalternen Arbeitsplätze ein.
Für sie zählt dieser Moment zur Routine,
für mich ist er ein sich grundlos
und unerbeten ergebendes Zeichen,
am Leben zu sein.

Ich bin ungefähr 70
und es fiel mir ein,
dass alles Werden
von nun an, an diesem Wendepunkt
ein Krankwerden sein kann.
und die Physiotherapeutin,
die mich ein paar Wochen
erfolglos trainiert hat,
sagt (freundlich oder nicht,
in meinen Ohren aber
doch mit drohendem Unterton):
„Was mit Ihnen
in einem Jahr los ist,
das möchte ich sehen.“

Franz Schuh, Dr. phil., geb. 1947 in Wien, Universitätslehrer, Schriftsteller, Kritiker und freier Mitarbeiter u.a. bei der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT und beim Österreichischen Rundfunk. Lehraufträge an den Universitäten Wien, Klagenfurt und Graz. Seit 1998 Lehrender an der Universität für Angewandte Kunst. Staatspreis für Kulturpublizistik 1985, Jean-Amery-Preis für Essayistik 2000, Essayistikpreis der Leipziger Buchmesse 2006, Heinrich Johann Merck-Preis 2021. Letzte Buchveröffentlichung: Lachen und Sterben, Zsolnay Verlag 2020.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.