Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die Aufgabe der Literaturkritik war und ist: zu unterscheiden. Und um unterscheiden zu können, muss man einen Vergleichsraum haben. Dieser Vergleichsraum: er entsteht allein durch Lesen.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Zu unterscheiden. Nicht zuletzt zwischen den PR- und Verkaufsstrategien von Verlagen und dem, was Literatur ist und kann. Zwischen den medialen Bedürfnissen und der Qualität von Büchern. Zwischen Autoren und deren Arbeiten. Zwischen dem Zustand des Textes und dem Zustand der Welt. Zwischen der eigenen Gestimmtheit und der Gestimmtheit des Textes usw. Wer nicht differenzieren kann, sitzt in einer dunklen, geschlossenen Falle, die er für ‚die Welt‘, ‚die Wahrheit‘ zu halten geneigt ist.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit?
Durchaus, wenn ich mich als Leserin als eine Spielart eines Palimpsests betrachte. Zu Beginn meines Germanistik-Studiums hat mir Terry Eagleton mit seiner Einführung in die Literaturtheorie den Blick frei gemacht für Denkräume, die mir heute noch von Nutzen sind. Ohne Ferdinand de Saussure, ohne Roland Barthes, ohne Michel Foucault, ohne Maurice Blanchot, ohne Deleuze und Guattari, ohne Gérard Genette usw. wäre mein Blick auf die Literatur heute ein anderer.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
All jene, die ernsthaft ihre Arbeit machen und den Gegenstand, der ihnen zur Auseinandersetzung anvertraut wird, mit Respekt behandeln. KritikerInnen, die sich weder im Zynismus noch in der Ironie gemütlich einrichten. Meine Hochachtung vor jenen, die sich um ihrer selbst willen, ihrer eigenen Karriere willen in den Vordergrund schreiben und dafür nicht selten den Text opfern, hält sich sehr in Grenzen. Redlichkeit und Liebe zu dem, worum es geht – das ist es, was ich am meisten an meinen Kollegen und Kolleginnen schätze. Die, die gemeint sind, wissen, dass sie gemeint sind.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Es kommt nicht auf die Quantität an, vielmehr auf die Qualität dessen, was man liest. Im Grunde reicht es, das Gesamtwerk von Ilse Aichinger immer wieder aufs Neue zu lesen und von diesem ausgehend über die Qualität anderer Texte nachzudenken. Ich bilde mir ein, von Ilse Aichinger alles über Literatur gelernt zu haben, was man über Literatur wissen sollte.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Ich weiß es nicht. Wird wohl so etwas um die 200 sein.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Ich habe, sehr spät, mit Erich Hackl, Ágota Kristóf, Ivan Cankar, Florjan Lipuš und Peter Handke in die „Erwachsenenliteratur“ gefunden. Hesse z.B. war nie so ganz meins. Daran hat sich eigentlich nichts Wesentliches geändert.
Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Die Mathematik-Bücher meiner Tochter. Mein diesbezügliches Verständnis ist heute noch schrecklich bescheiden.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Nein, grundlegend nicht. Ich lasse mich heute vielleicht von oberflächlicher narrativer Komplexität weniger leicht verführen und blenden als zu Beginn meiner literaturkritischen/literaturvermittelnden Arbeit.