Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Erstens: bei einem breiteren Publikum das Gespür für die Bereicherung des Lebens durch Bücher und die Möglichkeiten von Sprache zu fördern. Zweitens: ein wenig den Rezeptionsradius von wertvoller Literatur zu erweitern, die auf dem Buchmarkt keine Chance auf Aufmerksamkeit hat.
Was sind die größten Herausforderungen für die Kritik heute?
Eine wichtige Herausforderung: Öffentlich Platz zu schaffen für Qualität, die nicht mit einem „brisanten Thema“, mit Tabubrüchen, mit entweder der „goldrichtigen“ oder einer „skandalösen“ Weltsicht aufwarten kann – oder mit einer mächtigen Marketingmaschinerie im Hintergrund.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit?
Vermutlich ja, aber verinnerlicht – ich denke sie bei einer Beurteilung eines Werkes nicht mehr mit.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Wen ich am meisten schätze, kann ich nicht sagen; ich schätze unter anderem sehr Insa Wilke und Daniela Strigl – für ihre Überlegtheit und ihr Verantwortungsbewusstsein, ihr literaturwissenschaftliches Fundament und das Fehlen des typischen Kritikerlasters: den eigenen Auftritt oder die eigenen Formulierungen wichtiger zu nehmen als das besprochene Werk. Literaturkritiker älteren Datums: etwa George Steiner, Walter Benjamin, Harold Bloom. Und, eine Größe für sich: Gotthold Ephraim Lessing.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Ich glaube nicht, dass Kritikerkompetenz in Zahlen gelesener Bücher gemessen werden kann. Wenn, dann verhält es sich eher umgekehrt proportional – man kann zu viele Bücher lesen. Ich fürchte immer wieder, dass das bei mir der Fall ist (und nicht nur bei mir).
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Ich schätze, an die 70.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Es gibt viele neuere und neue, die ich sehr liebe, aber die Autoren, die ich mir immer und immer wieder hernehme, sind dieselben wie damals, als ich 15 war: Kafka, Thomas Mann, Kleist, Dostojewski, Tschechow …
Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Bücher, die mir helfen, in eine neue Sprach- und damit überhaupt Welt vorzudringen. Derzeit: Russisches auf Russisch. Und: Kinderbücher.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Revidieren müssen? Immer wieder. Ob grundlegend? Ich kann mich an keinen konkreten Fall erinnern, halte es aber für wahrscheinlich. Gerade wenn einem ein Text ganz unmittelbar besonders „sympathisch“ oder „unsympathisch“ ist, sollte man sich als Kritiker misstrauen. Und sich zur Subjektivität des eigenen Urteils bekennen