Tier und heute

Von Ferdinand Schmatz.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XVI

Online seit: 4. Juni 2021

Auf die Amsel wartend, der Wind fährt in eines der beiden von mir unbemerkt gebauten Nester, zerzaust eines, einige Ästchen, Grasbüschelchen und Wiesenmoos fallen auf den Boden, geräuschlos, selbst der Wind ist nicht hörbar, die Amsel taucht nicht auf, ihre Nester habe ich noch nie gesehen, die beiden unter dem Terrassendach sind nicht von ihr.

Wo ist sie, wann beginnt sie zu singen, heute wäre wohl ihr Flügelschlag zu hören.

Den Anfang eines Vogelgesangs vernehme ich nicht, die Zeit darin spannt sich anders als auf den Uhren, zeigerlos, eher ein Schweben, das sich plötzlich, aber behutsam bemerkbar macht.

Ferdinand Schmatz © Dirk Skiba
Ferdinand Schmatz.
Foto: Dirk Skiba

Wir sagen Frühling, wir sagen Amsel, ich sage Zeit – die Begriffe sind da, aber wer und was umgibt sie wie, macht sie plastisch, greifbar, anschaulich über ihr erstes Bild des Wissens hinaus?

Jedes Wort sein festes Bild, das ja, aber ich sage nein, möchte zurück in ein selbst entworfenes Bild von der anders gestimmten Zeit, der Amsel, vom Frühling – mein Gefühl eines Geschehens, noch ohne Worte, Sätze, ja, so mache ich einen Satz mit der Amsel von Zweig zu Zweig, vom Dach auf die Leitung, ein Strom, der mich von den Augen bis zu den Zehenspitzen erfasst.

Dieser Klang der Amselstimme, ihre Modulation, ihr Getriller, der Rhythmus, der den Garten umfasst und offen lässt zugleich.

„Selbst entworfenes Bild“ sag ich, die Automatismen der Sprache hin oder her, weg mit der Zuordnung, die mir Unmittelbares verbaut:

Das „Offen lassen“ bringt mich weiter, öffnet was, ein Bogen tut sich auf von den Falten auf der Stirn, die von innen kommen ins ungewisse Blau da oben, das hinter der Amsel sich aufbaut, wölbt,
die Amsel mag ihr Revier abstecken, mich nicht in Lockrufen versuchen, wie ich später von der kundigen Nachbarin erfuhr, aber für mich als Hörenden, schafft sie es, ja, ja, doch:

Ich bilde mir ein, zu schweben, ein sich in das Innere meiner Wahrnehmung und Empfindung senkendes Bild, das mich nicht aus, sondern e-in-bildet,

– und das in dieser un-eigen-artigen Situation, nicht selbst gewählt dieses Alleinsein, diese Isolation im Frühling des Abstands, der Sicherheit, gerade dann, wo alles aufbricht, rausdrängt, sich färbt, Düfte sind und Singen:

Wir sagen Frühling, Abstand, Sicherheit – ist das was Zusammenhängendes, stimmt da was überein?

Für mich ist es das Gestimmte der Amsel, es ist be-stimmt ein anderes, das behaupte ich mit aufgerissenem Mund, weil es ein frei Gegebenes ist, das Andere, das da ist, das (wenn überhaupt) ihrer Verhaltensweise, das der Amsel bedarf; die mag vorgegeben sein, ein inneres Programm, das aber keiner Aufforderung entspringt und entspricht.

„Aufforderung zur Vorsicht“ sagen wir, hören wir. Was ist Vorsicht?
Könnte es nicht eine Art Nachsicht sein – also gehe ich einen Schritt zurück, ich wachse so ohne „Tum“, und teile das Wort in: „vor der Sicht“. Denn die Sicht ist das Bild, das gegeben ist, festgeschrieben, eingebrannt, aber „vor der Sicht“, nun ja, da schau ich,

ich, einer unter der Amsel, hoffend auf das Offene, das die Sicht, den Blick in ein tätiges Schauen verwandelt, das mir die Amsel schenkt, kann ich so dieser Aufforderung im Sinn eines Gehorsams entfliehen?

Im freien Sinn der Sinne, statt Gehorsam sinniere ich „Gehör-Sam-en“, hmm, ich spüre den Flügelschlag, da tut sich was zwischen meinen Schultern: hinauf! in die Zehe, hinab! ins Gehirn, und ja, sage ich zu diesem Richtungswechsel, ich will, ja ich will, ich will den Samen, der mir etwas in das Ohr pflanzt, hören!

Nun ja, dieses Wollen ist mit dem Willen verbunden, aber den setze ich nun mal ausser Kraft, so er von: „beispielhaft sei für andere“ geprägt ist, also zu erfüllen hat, was gefordert ist.

Aber nun: die Ohren auf, die Amsel schlägt an, ist sie nun frei oder stört sie meine Anwesenheit in ihrem Raum?
Oder ist es was anderes in ihrem Revier, das sie abzustecken versucht?

Ich rücke kein Revers zurecht, das ich nur in der Vorstellung habe, denn im realen Raum trag ich ja während ich sitze und dies schreibe, kein Sakko, so einfach läuft der Hase und spricht der Vogel nicht.

Halt, plötzlich donnert es,
da, wo ich sitze, unter dem Terrassendach, bin ich geschützt,
– und die Amsel?
Flugs hebt sie ab, sie will plötzlich nicht mehr singen, trillern, locken oder warnen.

Tja, ihren Willen möchte ich haben, einfach aufsteigen und weg.

Doch die Rosen um mich herum, die bleiben ja in ihrer Pracht, und voll mit Blüten hängt der Strauch in die Wiese, das Gras, die Erde.
Sie, die Rosen bleiben verbunden mit dem, was sie nährt, und schützen sich mit ihren Dornen,
und, diesen Schutz nehme ich auf als den meinen:
Sie halten was fern – und ich steche nicht.

Mutig scheint das nicht zu sein in dieser Lage, aber egal ist es nicht, es ist eine Möglichkeit, zu sein und zu wirken, ohne die anderen im Raum tatsächlich zu verletzen. Also fliege ich mit den Rosen auf eine eigenwillige Weise im Vorstellen doch:

Gestatten, Amsel lautet mein Name nicht, doch ich fliege.

Für die Amsel sitze ich jedoch weiterhin auf der Terrasse, auf das Dach prasseln die ersten schweren Tropfen, Der Vogel ist längst abgeschwirrt, aber ich fühle sein Schwingen, das mich durch die Rosen trägt.

Ich weiss nicht, ob das Tier ein Bild von mir hat, welche Umrisse ich für es abgebe, wie ich rieche oder wie laut ich bin in seinen Ohren.
Aber welches Geschlecht spricht denn da: es, sie, ich –
Das seine, das ihre, es ist ja sie, und ich?, meines, das der Amsel?

Es und sie und ich – also wir sind auf jeden Fall miteinander, und der Gehörsamen spriesst und spriesst und lässt auch die Rosen weiter wachsen und noch schönere Farben annehmen als das purpurne Rot.

Sie sind einzeln und vermischt, rosa, rot, gelb, weiss – ist das eine Pracht der Unterschiede, die ein Gemeinsames zeigt in den Stämmen, daraus die Blüten wachsen, auch für die Bienen, die sich nach dem Gewitter in ihren Kelchen ergötzen werden.

Ist dies die heile Welt am Samstag „als die Amseln sangen“? Sie ist ja nur eine, wieso also die Mehrzahl, mehrere sind bis hier die Rosen, aber auch die Amsel ist ein Vieles, nicht nur als Tier unter Tieren.

Hab ich da ne Meise? – nun nicht so recht, eine Amsel wohl,
aber ihre Schwester, die Meise, die stirbt zur Zeit, was heisst, sie ist nicht mehr da, verschwunden, entfleucht ohne jeden Atemzug des Abschieds. Ich sehe sie nicht sterben, sie ist einfach weg, genommen durch das Meisensterben irgendwo, irgendwie und doch gelenkt.

Vor einem Jahr war es die Amsel, die starb, ihre Wiederkehr ist nun ein Neues, nie des Gleichen, sie triumphiert weder nach hinten noch nach vorne.

Es heisst ja, sie lebt im Jetzt, das edle Tier, und hat nun ein Recht als Wesen, das lebt, das aber der Meise so gar nichts hilft, sie ist dem Vorgang, der ein Abgang ist, ausgeliefert,

die Rosen blühen zwar weiter, der Regen wird stärker, die Amsel schützt sich im Blätterwerk des Nussbaums, und die Meise
– wo mag sie dahin dämmern, gar abstürzen, wo ist das Gras ihr Sarg?

Ich nehme Anteil, werde zum Teil des Tieres, wo ist mein Gras, den Sarg lass ich weg, dieses Bild muss wieder raus aus meinem Kopf,

o, ich Tropf, da sickert was in mich ein, das ich nicht loswerden kann, dieses Bild aus diesen Buchstaben s a r g, ich komm mir kurz wie im Sturzflug vor, kein Schweben mehr, das Köpfchen der Meise wird zum Schädel, der Schnabel geht über in meinen Mund, der aber geht nicht über, die Schreib-Hand lahmt – alles um mich herum bleibt gleich, die Zeit ist nun Zeiger und Verweis zugleich, der Raum ist wieder mit einer Tür verschlossen, durch die trete ich nicht raus, aber auch nicht rein, war ich je drinnen, nun muss ich es sein, aber bin ichs – ist es ein Traum?

Nein! Es ist der gefundene Raum über das Gleichgezwitscher hinaus, den mir die Amsel durchlöchern half und hilft. Im Gleichgezwitscher gehört das A zum Traum, aber ich bin nicht bereit, das, was sich da verändert hat, durch die Rückkehr in deine angebliche Normalität aufzugeben. Kein Traum,a

– ein Raum des Wandels ist es, den ich unter dem Gefilde der Amsel fühlen lernte, das was da gesungen wird und schwebt und hören lässt, ist nicht distanziert, gesetzmässig,
jeder Pfiff, den mir das Gespräch mit der Amsel entlockt, ist ein anderer, gerade weil ich versuche, dass sie mich hört, ja erhört, ist es der Wunsch, die Botschaft mit dem Wind hinauf zu tragen, immer wieder, es ist ein Ereignis ohne Marsch-Substanz, die es schwerfällig und zum Gleichklang machen würde.

Harmonie des Unterschieds, wir versteigen uns ins Rauschen und stehen mit den Beinen auf dem Boden, und sollte er eine Leitung sein, dann ist sie voll Spannung, der Funken entzündet sich, und wir schwärmen, dies aber mit Eindringlichkeit, ja, die Rose sticht, ja die Amsel piekt, ja, die Meise stirbt, aber wird wieder aufleben,
das Denken des hier Niedergeschriebenen ist etwas aus der Ferne, die mich umgeben mag, aber die Eindringlichkeit des Gefühls ist ein Hier und Jetzt, das die Furcht, die uns akut überleben hilft zur chronologischen Frucht verwandelt, die uns schmecken lässt am gemeinsamen offenen Tisch, ohne Zeige-finger, so gings mir mit der Amsel, so geht’s mir mit dem Schreiben, so hoffe ich, dass es weitergeht:

O freue die Spreu ein
sich wird weiden
zum Blüten weit öffnen
maulig schert
Mund das Schriftfordere weg
auf Wegwiege das Stimmige
muntert von Aussen nach Innen
den Tod aus dem Zeitauge weg
ist es ein Tor wild (Zeiger los) rot

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Ferdinand Schmatz, schreibt Gedichte, Prosa, Essays und Hörspiele, lebt in Wien. Von 2012 bis 2020 Leitung des Instituts für Sprachkunst an der Angewandten in Wien. 2004 Georg Trakl-Preis. 2006 H.C. Artmann-Preis. 2009 Ernst Jandl-Preis.
Veröffentlichungen (Auswahl): das grosse babel,n. gedicht, portierisch. roman, Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz, quellen. gedichte. Zuletzt: auf SÄTZE. Essays zur Poetik, Literatur und Kunst, das gehörte feuer. orphische skizzen. prosa gedicht.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.