I.
Wie viele russische Literaturen?
Eine kleine Auslegeordnung
Die eine russische Nationalliteratur gibt es nicht; es gibt diverse „russländische“ Literaturen in mancherlei Sprachen. Man kennt die russischsprachige Klassik von Puschkin bis Tolstoj und Korolenko, im Anschluss daran die mehrsprachige „multinationale“ Sowjetliteratur mit namhaften ukrainischen, litauischen, georgischen, usbekischen, kirgisischen Autoren, dazu die eigenständige russische Exilliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (von Herzen bis Bunin, Nabokov und Marina Zwetajewa), danach das inoffizielle Literaturschaffen der sowjetischen Dissidenten, das bis in die ausgehenden 1980er-Jahre von verbotenen „Selbstverlagen“ (Samisdat) im Inland oder von Verlagen im westlichen Ausland (Tamisdat) verbreitet wurde – prominente, inzwischen kanonisierte Namen wie Brodskij, Sinjawskij (Terz), Solshenizyn, Ajgi oder Wenedikt Jerofejew stehen für diese singuläre Art literarischer Produktion und Distribution.
Und noch eine Unterscheidung ist zu beachten; sie betrifft jene Sowjetschriftsteller, die dem offiziellen Literaturbetrieb formell zwar zudienten, gleichzeitig aber dessen ideologische und künstlerische Vorgaben zu unterlaufen versuchten – Walentin Katajew und Wenjamin Kawerin haben dies in ihren späten Jahren beispielhaft vorgeführt. Weit radikaler noch und viel riskanter war demgegenüber das Vorgehen jener Autoren, die neben ihrer anerkannten Berufsschriftstellerei insgeheim Texte von ganz eigener Prägung schufen, die für die Veröffentlichung absehbar nicht in Frage kamen. Auf solche Weise sind denn auch bedeutsame Parallelwerke entstanden – Bulgakows Meister und Margarita, Sostschenkos Vor Sonnenaufgang, Grossmans Leben und Schicksal,¹ Pasternaks Doktor Shiwago gehören dazu.
*
Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Schriftsteller Michail Prischwin (1873–1954), der als botmäßiger Sowjetautor seine politisch unbedenklichen Reise-, Tier- und Kinderbücher bei staatlichen Verlagen in Millionenauflage publizieren konnte und mancherlei Privilegien genoss, die ihm selbst in der finstersten Stalinzeit eine luxuriöse Lebensführung ermöglichten, derweil andere Autoren zu Hunderten geheimpolizeilich verfolgt, in Straflagern interniert oder nach qualvollen Verhören exekutiert wurden. Gleichzeitig hielt er in zahlreichen geheimgehaltenen Heften seine systemkritischen Überlegungen fest, seine Lektürenotizen, seine eigenen philosophischen Reflexionen, seine völlig ideologiefreien Natur- und Selbstbeobachtungen sowie eine subjektive Chronik der laufenden Ereignisse, die erst lang nach seinem Tod als Tagebücher in achtzehn Bänden (1991–2018) erscheinen konnten – ein Opus magnum von epochalem Rang,
Dieser Beitrag ist nur für Abonnenten zugänglich. Bitte melden Sie sich in Ihrem Konto an, oder wählen Sie eines der drei unten stehenden Abos, um sofort weiterzulesen.
Das erfolgreichste, weil intellektuell beweglichste Literaturblatt unserer Tage*
– für den Preis von einem Espresso im Monat.
Förder-Abo
€ 9,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- Printausgabe (4 Hefte / Jahr)
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
- Ausgewählte VOLLTEXT E-Books
- Ausgewählte VOLLTEXT Specials
Digital
€ 2,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
Print & Digital
€ 3,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- Printausgabe (4 Hefte / Jahr)
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
* Saarländischer Rundfunk
FAQ
Wie kann ich ein VOLLTEXT-Abonnement verschenken?
Sie können alle VOLLTEXT-Abonnements befristet oder unbefristet verschenken. Die Mindestlaufzeit beträgt ein Jahr. Danach kann das Abonnement auslaufen oder wahlweise durch die Schenkenden oder die Beschenkten verlängert werden.
–> Bestellinformationen
Was sind E-Paper-Ausgaben?
E-Paper-Ausgaben entsprechen 1:1 der gedruckten Zeitschrift. Abonnenten erhalten nicht nur Zugriff auf die jeweils aktuelle Ausgabe, sondern auch auf ältere Hefte im Archiv (gegenwärtig alle Ausgaben seit 2016).
Gibt es Kündigungsfristen?
Nein, Sie können das Abonnement jederzeit formlos per E-Mail oder Post kündigen.
Ich bin bereits Abonnent der Printausgabe und möchte Zugang zu den Online-Beiträgen, wie komme ich dazu?
Wenn Sie bereits über ein Online-Konto auf Volltext.net verfügen, können Sie mit Ihrem bisherigen Passwort auf die Beiträge hinter der Paywall zugreifen.
Ich kann die heruntergeladenen E-Paper-Ausgaben nicht öffnen.
Die E-Paper-Ausgaben sind mit einem Passwort geschützt. Informationen zum Passwortschutz finden Sie nach der Anmeldung auf der Startseite Ihres Online-Kontos.
Wo finde ich mein Online-Konto?
Am oberen, rechten Rand des Bildschirms finden Sie einen Link „Mein Konto“, über den Sie sich einloggen können.