Grenzgänge der Literatur VII

Russlands Literatur und Selbstverständnis / Hans Erich Nossacks Plädoyer für eine „wahrhaftige“ Literatur. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 9. August 2022
Michail Prischwin Portrait
Michail Prischwin: Systemkritik blieb seinen geheimen Heften vorbehalten.

I.

Wie viele russische Literaturen?
Eine kleine Auslegeordnung

Die eine russische Nationalliteratur gibt es nicht; es gibt diverse „russländische“ Literaturen in mancherlei Sprachen. Man kennt die russischsprachige Klassik von Puschkin bis Tolstoj und Korolenko, im Anschluss daran die mehrsprachige „multinationale“ Sowjetliteratur mit namhaften ukrainischen, litauischen, georgischen, usbekischen, kirgisischen Autoren, dazu die eigenständige russische Exilliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (von Herzen bis Bunin, Nabokov und Marina Zwetajewa), danach das inoffizielle Literaturschaffen der sowjetischen Dissidenten, das bis in die ausgehenden 1980er-Jahre von verbotenen „Selbstverlagen“ (Samisdat) im Inland oder von Verlagen im westlichen Ausland (Tamisdat) verbreitet wurde – prominente, inzwischen kanonisierte Namen wie Brodskij, Sinjawskij (Terz), Solshenizyn, Ajgi oder Wenedikt Jerofejew stehen für diese singuläre Art literarischer Produktion und Distribution.

Und noch eine Unterscheidung ist zu beachten; sie betrifft jene Sowjetschriftsteller, die dem offiziellen Literaturbetrieb formell zwar zudienten, gleichzeitig aber dessen ideologische und künstlerische Vorgaben zu unterlaufen versuchten – Walentin Katajew und Wenjamin Kawerin haben dies in ihren späten Jahren beispielhaft vorgeführt. Weit radikaler noch und viel riskanter war demgegenüber das Vorgehen jener Autoren, die neben ihrer anerkannten Berufsschriftstellerei insgeheim Texte von ganz eigener Prägung schufen, die für die Veröffentlichung absehbar nicht in Frage kamen. Auf solche Weise sind denn auch bedeutsame Parallelwerke entstanden – Bulgakows Meister und Margarita, Sostschenkos Vor Sonnenaufgang, Grossmans Leben und Schicksal,¹ Pasternaks Doktor Shiwago gehören dazu.

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Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Schriftsteller Michail Prischwin (1873–1954), der als botmäßiger Sowjetautor seine politisch unbedenklichen Reise-, Tier- und Kinderbücher bei staatlichen Verlagen in Millionenauflage publizieren konnte und mancherlei Privilegien genoss, die ihm selbst in der finstersten Stalinzeit eine luxuriöse Lebensführung ermöglichten, derweil andere Autoren zu Hunderten geheimpolizeilich verfolgt, in Straflagern interniert oder nach qualvollen Verhören exekutiert wurden. Gleichzeitig hielt er in zahlreichen geheimgehaltenen Heften seine systemkritischen Überlegungen fest, seine Lektürenotizen, seine eigenen philosophischen Reflexionen, seine völlig ideologiefreien Natur- und Selbstbeobachtungen sowie eine subjektive Chronik der laufenden Ereignisse, die erst lang nach seinem Tod als Tagebücher in achtzehn Bänden (1991–2018) erscheinen konnten – ein Opus magnum von epochalem Rang,