Heiteres Literatentum, dunkle Schreibkunst

H. M. Enzensberger und Botho Strauß in ihren jüngsten Buchwerken. Von Felix Philipp Ingold
„Das ist postumes Mobbing, offenkundig genährt von kollegialer Missgunst und antiquierter Spießermoral.“

Online seit: 19. April 2019

Als Belletrist wie als Essayist, auch als Übersetzer und als Herausgeber ist Hans Magnus Enzensberger seit Jahrzehnten an vorderster Front des hiesigen Literatur- und Medienbetriebs präsent, und mehr als dies − er hat den Betrieb maßgeblich mitgeprägt, hat produktive Debatten eröffnet, sich mit kennerschaftlichem und weltmännischem Flair umgeben, dabei stets auch sein eigenes Werk in Vers und Prosa vorangetrieben und, darüber hinaus, eine Vielzahl ausländischer Autoren beim deutschsprachigen Publikum eingeführt.

Hans Magnus Enzensberger © Jürgen Bauer / Suhrkamp
Hans Magnus Enzensberger: Postumes Mobbing erfolgreicher Kollegen.
Foto: Jürgen Bauer / Suhrkamp

Wie eine vorläufige Summa all dieser Bemühungen nimmt sich Enzensbergers jüngste Buchveröffentlichung aus, die er − vom Feuilleton weithin belobigt − unterm Titel Überlebenskünstler vorgelegt und des Nähern als „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“ charakterisiert hat. Der sattsam belesene Autor stellt darin eine knappe Hundertschaft von willkürlich zusammengeführten Zeitgenossen aus aller Welt vor, von Abe bis Zuckmayer, von Andrić bis Werfel. Mit manchen war er persönlich bekannt, einige zählten zu seinen engeren Freunden, andere hielt er aus diversen Gründen − Vorurteilen, Enttäuschungen, Unverträglichkeiten − auf Distanz.

Der subjektive Faktor scheint für die Auswahl durchweg bestimmend gewesen zu sein, was völlig legitim ist, aber doch die Möglichkeit zu bedenken gibt, dass aufgrund anderer Kriterien auch 99 andere Autoren als „Überlebenskünstler“ hätten präsentiert werden können. Dass Enzensberger neben den 99 mehr oder minder prominenten Namen auf der Zeitachse zwischen Hamsun und Kadare die Position 100 offenkundig für sich selbst reserviert, jedoch ungenutzt gelassen hat, gehört zu den ambivalenten Augenzwinkereien, die man von ihm kennt und die von seiner alternden Fangemeinde besonders geschätzt werden. Wie aber soll man sich erklären (und ihm nachsehen), dass er sein 20. Jahrhundert bereits mit dem Albaner Ismail Kadare, geboren 1936, enden lässt und keinen einzigen Nachkriegsautor in seine Galerie aufnimmt?

„Im übrigen verlangt mein Vorhaben“, wie Enzensberger in der launigen Vorrede festhält, „die Ich-Form“. Damit weist er jeden Anspruch auf Neutralität und Objektivität vorweg schon ab. Die Engführung von unterschiedlichsten Lebensgängen und Werkbiografien mit privaten Reminiszenzen und Lektüreerfahrungen könnte eine vielversprechende Prämisse für die Ausarbeitung von unkonventionellen Autorenportraits sein. Bei Enzensberger resultieren daraus jedoch auffallend disparate Texte, die er größtenteils aus Rezensionen, Interviews, Literaturlexika und Artikeln der Wikipedia übernimmt − jeweils zwei bis fünf Druckseiten, die bald bieder und verlässlich daherkommen, bald wie flüchtige Lektüre- oder Tagebuchnotate, in denen selbst elementare Lebens- und Werkdaten fehlen und die im Detail oft ungenau, ja fehlerhaft sind. Demgegenüber dominieren private Trivia aller Art ohne jeden Erkenntnis- und Unterhaltungswert.

Dazu zählen Enzensbergers wiederholte Ausfälle gegen die angeblich bedeutungslose, deshalb „überflüssige“ Gruppe 47 (der er selbst als wortführendes Mitglied einst angehörte) ebenso wie sein expliziter Unmut über schreibende Kollegen, die sich nach seinem Dafürhalten durch ideologisches Lavieren, aber auch durch mehrfache Ehen oder sexuelle Eskapaden und Ausbeutung (wie Brecht, Canetti) diskreditiert haben. An solchen Stellen mutiert der heitere Unterhalter zum kleinkarierten Sittenwächter.
Aber Enzensberger sollte wohl auch diesbezüglich nicht allzu ernst genommen werden. Er selbst entzieht seine Texte der kritischen Nachfrage, indem er sie als „Vignetten“, mithin als bloße Dekorationsstücke ausgibt. Wer wollte von einer Vignette Authentizität, Plausibilität oder gar die ganzheitliche Darbietung ihres Gegenstands erwarten? Eine gewisse Seriosität darf aber doch wohl vorausgesetzt werden, wo es um den existenziellen Ernstfall des Überlebens geht.

Diesen Ernstfall vergegenwärtigt der Verfasser mit Verweis auf die düstern Lebens- und Leidenswege verfemter, verfolgter, vertriebener, gefangener, ermordeter Autoren, die man ungern als „Überlebenskünstler“ rubriziert sieht. Der Überlebenskünstler gilt ja gemeinhin eher als wendiger Sympathieträger denn als tragische Kämpfernatur. Oder sollten etwa Gorki, Musil, Pasternak, Grossman, Genet, Nelly Sachs ihr peinvolles Überleben als „Kunst“ verstanden und ausgeübt haben? Und kann und darf man solches Überleben mit den Karrieren erfolgreicher Opportunisten, Karrieristen, Renegaten, wenn nicht gar Verräter auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wie Enzensberger es mit vergleichsweise schonendem Blick im Fall von Feuchtwanger, Glaeser, Jünger, Benn, Andersch, Erhart Kästner oder Hans Baumann tut − und weniger schonend bei egozentrischen Selbstdarstellern wie Cocteau, Colette, Cela oder Malaparte?

Dem jüdischen Erfolgsautor und Stalinadepten Lion Feuchtwanger wird hart an der Grenze zur antisemitischen Verzeichnung eine untrügliche, glücksbringende Nase bescheinigt: „Die seinige war nämlich so gut, dass er ihr nur zu folgen brauchte, um zu überleben.“ Wenn das Überleben auf solche Weise und auf solchem Niveau möglich ist, kann von Kunst wie von Tragik keine Rede sein: Der heilfroh Überlebende wird hier zur personifizierten Karikatur, und eigentlich kann man nur erleichtert sein darüber, dass Enzensberger vergessen oder es unterlassen hat, glücklos „überlebende“, meist im Freitod endende Autoren wie Benjamin, Mandelstam, Majakowski, Jessenin, Dagerman, Pasolini, Márai, Celan oder Marina Zwetajewa in die Reihe seiner Vignetten aufgenommen zu haben. − Auch der insgesamt glückliche, wiewohl mehrfach ins Exil (nach Deutschland, Frankreich, in die USA) gezwungene Vladimir Nabokov wäre in Hans Magnus Enzensbergers Gesellschaft sicherlich deplatziert gewesen.
Im Unterschied zu typografischen oder emaillierten Vignetten sind die Enzensbergerschen Einzelportraits nicht eben präzise ausgearbeitet, als Diskurs wie als Erzählung inkohärent, mit vielen sprunghaften und alogischen Übergängen. − So berichtet Enzensberger, beispielsweise, von seiner undatierten Erstbegegnung − in Barcelona − mit dem nachmaligen Nobelpreisträger Gabriel García Márquez (den er „Gabo“ nennen darf): „Der Slogan von der divine gauche war noch nicht erfunden, aber man gönnte sich schon ein Glas Champagner vor dem Essen, das vorzüglich war. Das Regime Francos war zwar nicht am Ende, aber schon sehr morsch.“ Fragt sich freilich, was der unbedarfte linke Luxus mit dem rechtsextremen frankistischen Gewaltregime zu schaffen haben sollte.

Doch Verbrämungen solcher Art sind bei Enzensberger gang und gäbe; bisweilen mag man sich darüber amüsieren, öfter überwiegt allerdings die Irritation. Irritation, bisweilen nachhaltiger Ärger kommt auch dort auf, wo der Verfasser den interessierten Leser, die geneigte Leserin mit Vignetten abspeist, die allzu viele Vorurteile, Gemeinplätze und Leerstellen in sich vereinen. Das trifft, unter vielen andern, auf Gertrude Stein zu, die Enzensberger mit bedenkenlosem Rückgriff auf allerlei Klatsch- und Tratschberichte als herrische, egomanische, „fette und massige“ Lesbierin vorführt bei gleichzeitiger Missachtung (oder Verkennung) ihrer singulären literarischen Errungenschaften.

Auch der kurze Beitrag zu Camilo José Cela wäre hier zu nennen, von dessen rund 70 Büchern Enzensberger nach eigenem Bekunden lediglich „ein einziges durchgeblättert“ hat, was ihn keineswegs daran hindert, den „unsympathischen“ Kollegen als Schriftsteller wie als Persönlichkeit erbarmungslos zu verunglimpfen, am Ende gar seine vielen Auszeichnungen − darunter den Nobelpreis für Literatur − aufzuzählen, um ein denkbar unergiebiges, dabei höchst polemisches Fazit zu ziehen: „Eine letzte Sensation rief Cela dadurch hervor, dass er mit 74 Jahren eine um 40 Jahre jüngere Journalistin heiratete … Mit 85 Jahren ist er im Bett gestorben. Heute ist er ziemlich vergessen, ein Los, das er mit vielen Nobelpreisträgern teilt.“ Das ist postumes Mobbing, offenkundig genährt von kollegialer Missgunst und antiquierter Spießermoral.

Im Verlauf seiner langjährigen Karriere hat Hans Magnus Enzensberger, der zwischendurch auch mal das Ende oder gar den Tod der schönen Literatur als Losung hochhielt, wohl mindestens 99 Bücher unter seinem Namen vorgelegt. Einige davon haben Furore gemacht, viele sind im Betrieb nur einfach saisonal mitgelaufen − zu diesen dürften schon bald auch die 99 Vignetten zur literarischen Überlebenskunst gehört haben.

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Botho Strauß © Ruth Walz
Botho Strauß: „Es kann doch das Universum nicht nur aus Mitteilung bestehen?“
Foto: Ruth Walz

Außer der staunenswerten Tatsache, dass sie im Jahrestakt mindestens ein Buch herausbringen, gibt es zwischen Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß nichts Verbindendes; im Gegenteil − die beiden Autoren sind einander in jeder Hinsicht fremd, literarisch ebenso wie intellektuell und politisch. Und doch behaupten sie im deutschsprachigen Kulturbetrieb eine gleichermaßen prominente Position, bekommen ihre Prominenz seit Jahrzehnten durch höchste Auszeichnungen bestätigt und werden nach wie vor bei jeder Neuerscheinung weithin besprochen.

Während jedoch Enzensberger, der alerte, weltgewandte, publikumsfreundliche Literat, sich generell auf wohlwollende Rezeption verlassen kann, tut sich Strauß in dieser Hinsicht bewusst und gewollt schwer. Ein Autor „zum Anfassen“ war er nie. Der Normalverbraucher von saisonaler Belletristik kümmert und interessiert ihn nicht; er schreibt für eine elitäre Minderheit von Gleichgesinnten, für „jene, die’s wissen“ (Baudelaire) und die also auf „gefällig Mitgeteiltes“, vorab immer schon Verstandenes noch so gern verzichten.

Im Unterschied zu Enzensberger gibt Strauß nicht zu verstehen, er gibt zu denken. Das ist eher eine Forderung denn eine Gabe an die Leserschaft, und es ist eine dezidierte Absage an die heute üblichen literarischen und publizistischen Diskurse, die vorrangig auf Information angelegt sind, auf Bericht und Selbstbekenntnis, dabei aber das Risiko wie auch die Gewinnchance subjektiver Sinnbildung vermeiden.

Zurückgewinnen! Das ist der alles bestimmende Imperativ des „Fortführers“, als der Botho Strauß in seinem neuesten Buch sich eigensinnig zu erkennen gibt, dies zumeist in der dritten Person Einzahl („er“), gelegentlich über ein imaginiertes „du“, ein verallgemeinerndes „wir“ oder „man“, viel seltener in direkter Wortmeldung als „ich“.

Die wechselnden Subjektpositionen − von Strauß seit jeher meisterlich praktiziert − bringen das Image des Autors zum Flimmern, verleihen ihm eine gewisse Tiefendimension und damit auch eine gewisse Mehrdeutigkeit, verhindern jedenfalls dessen voreilige Identifizierung mit dem Fortführer: Was dieser zu sagen hat, ist nicht einfach dem Autor Strauß zuzuschreiben, gibt nicht nur eine (und nicht nur seine) Meinung oder Überzeugung wieder, sondern lässt − gleichsam als polyphoner Monolog − auch Ungewissheiten, Alternativen, Zweifel mitschwingen.

Diese mehrfache Perspektivierung ändert allerdings wenig daran, dass Strauß als „Fortführer“ mit ausgeprägter Selbstgewissheit auftritt und sich unmissverständlich eine Sonderstellung einräumt − er ist ein Minderheitlicher, ein Seltener, ein Eingeschworener, ein Außenstehender und Darüberstehender, und als solcher hebt er sich in jeder Hinsicht ab von der gleichmacherischen „Menschenmenge“, die er bloß als „Menschenleere“ wahrzunehmen vermag.

In der total vernetzten, global nivellierten Gegenwartswelt glaubt Strauß in asozialer Selbstisolation einen neuen positiven Wert zu erkennen − „neue Konturen“ versus oberflächliche, wechselhafte, allseits ausfransende Sozialkontakte. Er will „weder verstanden noch erkannt“ sein, rüstet sich auf einsamem, wohl verlorenem Posten unentwegt − trotz Klimaerwärmung − für den kommenden apokalyptischen Winter, versammelt um sich seine exzellente Privatbibliothek, die ihn vor dem Pöbel und vor der Banalität des bösen Zeitgeists „schützt“ − die großen Werke der Weltliteratur leisten ihm in gewollter Abgeschiedenheit Gesellschaft und kulturheroischen Beistand; das Regal, auf dem sie aufgereiht sind, reicht von Dante und Montaigne und Jean Paul bis hin zu Keyserling, Claudel, Konrad Weiss und Cristina Campo.

So etwas wie ein Robotbild des „Fortführers“, der „niemandes gedenkt, sondern ein Durchhaus ist für Väter und Ahnen“, liefert Strauß in dem umfangreichen Epilog zu seinem ansonsten kleinteiligen, formal wie thematisch äußerst heterogenen Reader, der vom Aphorismus über das Prosagedicht bis zum Mikroessay mancherlei Textsorten umfasst. Abschließend synthetisiert er, präzisiert aber auch, was den „Fortführer“ als Phänotyp der Stunde ausmacht, was er ihm zugutehält und welche Rettung er sich in dürftiger Zeit von ihm verspricht: „Illusion, aber auch tatsächlich Gnade, angeschlossen zu sein an die Macht der alten Tage, an die Macht der großen Werke …“ − dies im Gegenzug zum angeblich kulturfeindlichen „Ansturm der jungen Tage“, in polemischer (ja: „kriegerischer“) Abweisung der „Gegenwartsnarren“, die sich (wiederum wörtlich:) „den Lehrern und Vorbildern überheben“.

Man mag diese Haltung alarmistisch oder kulturpessimistisch, elitär oder reaktionär nennen, sicherlich ist sie zutiefst konservativ, geprägt vom Respekt vor überlieferten Werken und Werten ebenso wie vom Bedürfnis, diese Werte und Werke präsent zu halten angesichts der wortführenden, als feindlich empfundenen „Tagesanbeter“, die alles Gestrige verachtungsvoll abweisen, die Überlieferung ausblenden zu Gunsten kurzlebiger Trends und Moden.

„Der Fortführer“, so Strauß, „wird allein bis ans Ende gegangen sein.“ Das Futurum Zwei verrät den Radikalismus des Konservativen, die Vokabeln „allein“ und „bis ans Ende“ bestätigen ihn. „Man ist Fort-Führer − oder es gibt einen gar nicht.“ Was dann wohl bedeuten würde, dass jeder ein Fortführer wäre, doch dies wiederum stünde in Widerspruch zum Strauß’schen Konzept einer minderheitlichen, quasiaristokratischen Fortführerschaft.

Der „Fortführer“ ist eine Wort- und Konzeptbildung, deren Ambivalenz nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar wird. Jemand, der „fortführt“, mag etwas bereits Bestehendes, Vorgegebenes weiterführen; „fortführen“ kann aber auch als ein Vorgang des Wegführens, Beiseiteführens, Abführens begriffen werden, auch als Ablenkung, als Verlockung.

Der „Fortführer“ wirkt demnach gleichermaßen traditionserhaltend (retrospektiv) und traditionsbildend (prospektiv): Bewahrung und Fortentwicklung des Nachgelassenen, Überlieferten; denn es gilt mit dem Erbe zu wuchern. Erben heißt Macht erwerben. Nach Strauß ist der Erbe − nur er − ein legitimer Machthaber: „Es lebe die Herrschaft, die dies ausruft und befolgt.“

Bleibt die Frage, weshalb Strauß den traditionsbeflissenen, kulturkämpferischen „Fortführer“ nicht einfach als Fortsetzer auftreten lässt. Dass das von ihm privilegierte kulturelle Fortführertum unwillkürlich an den großdeutschen Führerkult erinnern würde, dürfte ihm bei der Begriffsbildung klar gewesen sein. Doch er nimmt die prekäre Assoziation in Kauf. Das ist ein hoher Einsatz für einen Autor, der ohnehin der politischen Rechten zugeordnet und als (häufig missverstandener) deutschnationaler Ideologe kritisiert wird. Diese allzu simple Klischeebildung verstellt indes den Blick auf die singuläre künstlerische und intellektuelle Leistung, die Strauß inzwischen durch eine ansehnliche Reihe von Prosabüchern − Erzählungen, Essays, Aufzeichnungen unterschiedlichster Art − überzeugend dokumentiert hat.

Als konservativer Fortführer ist Botho Strauß zugleich ein Neuerer. „Erinnerung“ und „Übernahme“ sind für ihn Kriterien der Imagination und keineswegs nur der Vergangenheits- oder Traditionspflege. In diesem Verständnis hat er über die Jahrzehnte hin einen unverkennbaren Originalstil und Originalsound entwickelt, mit dem er sich von den meisten „Gegenwartsautoren“ wie auch von der Masse der ausschließlich „kommunikativ Sprechenden“ bewusst abhebt.

Dem weithin üblich gewordenen belletristischen Plauderton setzt er eine betont eigenartige, gewollt befremdliche Schreibweise entgegen, die gerade durch ihre formale Ungefälligkeit, aber auch durch eine Überfülle von Fremd- und Fachwörtern, sperrigen Neologismen („warnäugig“, „vögelsprudelnd“, „jubihumilieren“ usf.) sowie durch weit hergeholte Motti und Zitate besondere Aufmerksamkeit erzwingt.

Den Leser, die Leserin spricht Strauß somit nicht bloß als interessierte Rezipienten an, vielmehr (mit Novalis) als „erweiterte“ Autoren, die das Werk des Fortführers ihrerseits fortführen sollen − ihnen wird nichts geschenkt, aber sehr viel abverlangt, und die Lektüre als solche provoziert weit mehr Irritation als Einvernehmen und Zuspruch. Eben darin liegt ihr Interesse. Eben daraus ergibt sich bei aktivem Mit- und Gegenlesen immer wieder neuer, immer wieder anderer Gewinn. Freilich scheint Strauß an eine ihm adäquate Leserschaft schon lange nicht mehr zu glauben: „Unverzagt sprach ich mein Lebtag zu lauter Abgewandten … Man schweigt also besser.“

Dennoch schreibt dieser Autor scheinbar unverzagt Buch um Buch, Saison für Saison weiter. Dabei präsentiert er sich als ein mürrischer Eremit und Asket, der dem Stottern und Schweigen mehr Sinn abgewinnt als der flotten Rede; der im selbstgewählten Abseits zwar mancherlei Versuchungen, Bedrohungen, Halluzinationen ausgesetzt ist, sich aber „geborgen“ weiß in der „Hülle des Praeteritums“. Denn das Vergangene ist für ihn das Unvergängliche, es ist das Unerschöpfliche, es ist das gleichermaßen Offenbarte wie Verdunkelte. Um dem Praeteritum gerecht zu werden, es also nicht − wie die Ewiggestrigen − bloß zu hüten und zu nutzen, versucht er es in seiner unfassbaren Vielfalt präsent zu halten, es immer wieder anders auszuloten und auszuleuchten, dabei aber seine Geheimnisse bestehen zu lassen. „Es kann doch das Universum nicht nur aus Mitteilung bestehen?“, notiert Strauß an einer von zahlreichen vergleichbaren Stellen: „Da gab’s doch immer auch Zurückbehaltenes, gab’s gewisse Inkommunikabilien …“

Strauß glaubt darin die Möglichkeit, auch die Notwendigkeit einer „neuen“, wenngleich von den Alten vorgegebenen Weise „wahren“ dichterischen Sprechens zu erkennen − oder wenigstens erhofft er sie sich: „Vielleicht wächst mit unserer gänzlich expliziten, sich gänzlich aussprechenden Sprache gegenläufig wieder das Bedürfnis nach der Hieroglyphe als nach einer chiffrierten Sprache, einer Sprache der Geheimhaltung, da ja die Hieroglyphe Macht über die Dinge und Wesen besaß, die sie darstellte − worin die verschlossene poetische Chiffre ihr gewiss nicht nachsteht.“

Auch bloß ein romantischer Ursprungstraum! Und als solcher obsolet? Als obsoleter Romantiker gilt Botho Strauß, seit Langem schon, beim meinungsbildenden linksliberalen Feuilleton, und durch den Fortführer scheint sich die Tageskritik in diesem Vorurteil mehrheitlich bestätigt zu fühlen.

Übersehen − gern vergessen? − wird dabei die ungewöhnliche Originalität dieses konservativen Autors, der mit seinem sperrigen Dichtertum die stereotype Rhetorik der heute wortführenden Literaten konterkariert.

Zwar redet auch er, nach eigenem Bekunden, statt Schöngeredetes, „viel Schongeredetes. Es ist ihm aber eine Hütte aus Altsprache geblieben.“ Die Altvätersprache des Fortführers nimmt denn auch im Kontext heutiger literarischer Kommunikation stellenweise die Tönung einer Fremdsprache an.

Was er bevorzugt, sind Sätze in dringlicher Frageform, aber auch aphoristische Aussagen mit schräger oder gebrochener, dennoch treffender Spitze − ungeschminkte Sätze, die nicht zum Zitieren und Nachsprechen gemacht sind, die sich eher zum Weiterdenken, auch zur Meditation anbieten; Formulierungen wie diese: „Die Sprache des Sprechenden horcht ihn aus.“ − „Man war doch sein Lebtag im Ausweglosen unterwegs.“ − „Alles hat seinen Preis an den Sinn verloren. Ohne Sonne wäre Gold wertlos.“ − „Ist nicht alles wie nie?“ − „Wer lebt nicht von der Rendite dessen, was er unterließ?“ − „Du liebst jemanden, weil er nicht sieht, wer du bist.“ Usf.

Schlichte, zum Teil recht unbeholfene Verlautbarungen, deren Sinn erst bei genauerem Hinhören sich erschließt, der vielleicht in etwas Fehlerhaftem oder Fehlendem verwahrt ist, sich vielleicht aber auch gar nicht erschließen soll. Womöglich genügt ja das Sagen, ohne dass etwas Bestimmtes, etwas Bestimmbares besagt, bedeutet werden müsste?

Zu begreifen, zu fassen, zu nutzen gibt’s da − wie auch anderswo bei Strauß − kaum etwas; umso mehr gibt es zu ahnen, zu mutmaßen, zu imaginieren, auch zu fragen und zu zweifeln: „Inmitten des dichten Zeitvertreibs das schiere dunkle Momentane − den Fluch erkennen, indem vom Fluch getroffen.“ Sic. Aber wie? Wozu? Der Leser ist hier, wie an manchen andern Stellen, unbedingt als „erweiterter Autor“ gefragt, als solcher aber auch privilegiert − ihm bleibt in dunkler Zeit die Sinnbildung aus dunkler Rede überlassen: anvertraut.

Felix Philipp Ingold lebt als freier Autor in Romainmôtier (welsche Schweiz); jüngste Buchpublikationen: Direkte Rede (Prosa), Passagen Verlag: Wien 2016; als Übersetzer und Herausgeber: Marina Zwetajewa, Unsre Zeit ist die Kürze (autobiographische Prosa und Gedichte), Suhrkamp Verlag: Berlin 2017.

Quelle: VOLLTEXT 2/2018 – 29. Juni 2018

Online seit: 19. April 2019

H. M. Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten. Suhrkamp, Berlin 2018. 366 Seiten, mit Autorenportraits,
€ 24 (D) / € 24,70 (A).

Botho Strauß: Der Fortführer.
Typografisches Konzept und Ausarbeitung: Daniel Sauthoff. Rowohlt, Reinbek 2018. 202 Seiten, € 20 (D) / € 20,60 (A).