Was bleibt? Was beliebt!

Literaturpreise als Faktor und Motor des Literaturbetriebs. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 1. Juli 2018

Literatur als Kunst − man muss es deutlich sagen − ist beim verbliebenen Lesepublikum ebenso wenig gefragt wie bei der professionellen Kritik, mit eingeschlossen all die anderen Literaturvermittler, die als Präsentatoren, Moderatoren oder Juroren, oft auch als Veranstalter von Festivals und immer öfter als beamtete Kulturfunktionäre am Betrieb beteiligt sind. Grundsätzlich gilt künstlerischer Anspruch in Bezug auf Stil, Komposition, Experiment als elitär, und dies wiederum wird gleichgesetzt mit Langeweile und dreister Zumutung − ein vernichtendes Urteil, das jegliche Markttauglichkeit in Frage stellt. Ein Text soll demnach in erster Linie unterhaltsam, konsensfähig und in irgendeiner Weise anrührend sein, derweil schwierige, fordernde, also im eigentlichen Wortsinn interessante Lektüren kaum noch gefragt sind.

Wer als Autor ausgezeichnet werden will, um danach tatsächlich als ein „ausgezeichneter“ Autor gelten zu können, muss sich darum vorab anpassen. Was heute vorrangig prämiert wird, ist Mediokrität, sind Werke und Verfasser, die nach Ablauf der literarischen Saison gleich wieder vergessen sind. Wer erinnert sich heute an die Preisträger vom Vorjahr? Und wer mag noch ein Buch lesen, das vor Jahresfrist, vielleicht gar vor einem Jahrzehnt erschienen ist? Dennoch werden Schriftsteller von der Werbung und bei öffentlichen Veranstaltungen vorzugsweise mit der Liste ihrer Preise vorgestellt und erst in zweiter Linie mit der ihrer Werke.

Gefördert (durch Stipendien) und belohnt (durch Valuta und Ehre) wird nach gegenwärtigem Literatur- und Marketingverständnis stets das Absehbare, das bereits in irgendeiner Weise als Trend etabliert ist. Keiner der großen Preise geht jemals an einen noch unentdeckten Literaten, weshalb es bei den laufenden Preisvergabungen denn auch nie zu Überraschungen kommt. Das Aufheben um Jan Wagner, der vor nicht allzu langer Zeit als erster Lyriker für seine humorigen Regentonnen- und Gartenlaubengedichte den deutschen Buchpreis erhielt und bald darauf auch mit dem renommierten Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, sollte nicht vergessen machen, dass selbiger Autor zuvor schon 33 andere Literaturpreise und -stipendien bezogen hat. Darunter waren auch solche, deren Namengeber − Paul Scheerbart, Christine Lavant, Ernst Meister − seinem eigenen Schaffen Hohn sprechen würden.

Doch Preise bekommen zu haben, ist zur Zeit die beste Voraussetzung dafür, mit noch mehr Preisen bedacht zu werden. Ausgezeichnet wird das, was man kennt, was leicht zu rezipieren ist, was gern „geleikt“ und „geteilt“ wird, das also, was nicht als Risiko kalkuliert werden muss. Innovative Schriftsteller mit ausgeprägtem Personalstil können heute − anders als zu Zeiten des Nouveau roman oder der Konkreten Dichtung −  kaum noch damit rechnen, in die Kränze zu kommen.

Einen ambivalenten Sonderstatus genießt diesbezüglich wohl einzig Friederike Mayröcker, deren Preisliste bereits unüberschaubar geworden ist. Die hochangesehene Dichterin gilt nach wie vor als „Avantgardistin vom Dienst“, publiziert nun aber seit Jahren in rascher Folge beiläufige Gemütsgedichte und Befindlichkeitsprosa, die sich − frei von irgendwelchen Innovationsrisiken − optimal mit dem aktuellen Trend zu Bekenntnishaftigkeit, Alltagspoesie und Ich-Tracking verträgt. Jedes der zahlreichen Bücher dieser Autorin (zuletzt die drei Bände ihrer Cahiers) wird vom Feuilleton umgehend aufgegriffen und rituell belobigt − ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass und wie „Avantgarde“ durch Anpassung an den Mainstream seine Innovationskraft verliert und gleichzeitig an konservativem Zuspruch gewinnt.

In seinen postum publizierten satirischen Novellen (Meine Preise, 2008) hat Thomas Bernhard den lärmigen Leerlauf der Preisverleihungsrituale aus eigener Erfahrung schonungslos auf den Punkt gebracht. Die eitlen, halbgebildeten Kulturverweser, die sich regelmäßig zu Preisvergabungen versammeln, um sich selbst zu feiern und damit „ihre“ Autoren zu demütigen, waren ihm zutiefst verhasst. Namentlich hob er auf die Inkompetenz und Arroganz derer ab, die − in welcher Funktion auch immer − einem nivellierten Literaturbegriff das Wort reden, statt sich auf die prägnante künstlerische Eigenart eines Werks, eines Autors einzulassen. Unter diesem Gesichtspunkt fühlte sich Bernhard durchweg verkannt, und immer wieder fand er den unabweisbaren Verdacht bestätigt, dass seine Auszeichnungen auf falschen Voraussetzungen und Einschätzungen beruhten. Eben deshalb empfand er sie nicht als Leistungsausweis, sondern als fortwährende Beleidigung.

Bernhard selbst hätte sich seinen öffentlichen (positiven!) Fehleinschätzungen durch die Ablehnung seiner Preise entziehen können, so wie es einst − lange vor ihm − Autoren vom Rang eines René Char oder E.M. Cioran konsequent praktiziert hatten. Auch hätte er die ambivalente Haltung des Kollegen Botho Strauss einnehmen können, der zwar keinen seiner zahlreichen Preise persönlich abgeholt, die Preissummen aber gern einkassiert hat und dies auch weiterhin so zu tun pflegt. Selbst Karl Ove Knausgård entzieht sich − ganz anders, als seine mehrbändige, bis zum Exhibitionismus „wahrheitsgetreue“ Autobiographie es erwarten ließe − der Öffentlichkeit: Dem Festakt zur Entgegennahme des mit 25.000 Euro dotierten Österreichischen Staatspreises für Literatur ist er im vergangenen Juli ferngeblieben. „Sollte ich vielleicht gar etwas über mich selbst sagen?“, ließ er dazu verlauten: „Ich finde alles abstoßend und ekelerregend.“

Der weltweit mit Ehrungen überhäufte Großschrifteller Michel Houellebecq vergleicht den Literaturbetrieb (wie übrigens auch den Rest der Welt) gern mit einem Supermarkt, wo alles von quantitativen Kriterien bzw. von Verkaufszahlen bestimmt ist, mithin von Trends, Moden und aktuellen Hypes. Für ihn ist die zunehmende Macdonaldisierung der literarischen Kultur ein zwar bedauerliches, jedoch unabänderliches Faktum. Mit dem ihm eigenen Zynismus hält er sämtliche Literaten, die sich dem Betrieb ein- und dem Publikumsgeschmack unterordnen, für „Arschlöcher“, und realistisch, wie er ist, zählt er sich selbst ebenfalls dazu.

Und mehr als das: Houellebecq scheut sich nicht, seine schreibenden Kollegen öffentlich zu korrektem Verhalten bei der Entgegennahme von Preisen und Ehrungen anzuleiten − stets sollten sie davon ausgehen, dass die dazugehörige Feier „zwangsläufig misslingen wird“; dass dennoch Haltung zu bewahren, Toleranz zu üben und der Festakt in seiner unvermeidlichen Banalität zu akzeptieren sei: „Nur die bescheidene, von einem Lächeln begleitete Akzeptanz des allgemeinen Desasters ermöglicht den Erfolg.“ Auch das Preisgeld, versteht sich, soll ohne Skrupel angenommen werden. Im Übrigen, so fügt Houellebecq mit heiterem Ernst hinzu, halte man an leerlaufenden Feierlichkeiten einzig deshalb fest, „um uns vergessen zu machen, dass wir einsam sind, elend und dem Tod geweiht.“

Doch es gibt − es gäbe − für frustrierte Preisträger noch eine andere Verhaltensweise: Die Auserwählten könnten zur Verleihungsfeier antreten, müssten sich eine inadäquate, völlig kritikfreie Laudatio anhören, würden die Urkunde und den Bankscheck entgegennehmen, um danach selbst das Wort zu ergreifen und die ganze Veranstaltung als eine unwürdige, letztlich kunstfeindliche Posse zu desavouieren.

Man stelle sich dieses Szenario bei der Verleihung des Deutschen oder des Schweizerischen Buchpreises vor. In Gegenwart der Kulturprominenz, der Buchhandels-, Verlags- und Pressevertreter sowie zahlreicher Literaturfreunde nimmt der Laureat das Diplom entgegen, dankt für das Preisgeld und hebt zu einer Rede an, die nicht so bald vergessen sein wird. Deren Fazit bestünde darin, dass unter den heutigen literaturbetrieblichen Bedingungen jegliche Auszeichnung als ein Verrat an der Literatur als Kunst zu gelten habe, da solche Auszeichnungen in aller Regel auf jurorischen Kompromissen beruhten, die mit Kunst und Literatur wenig, mit Verlagszugehörigkeit, Vermarktbarkeit, Genderismus und politischer Korrektheit indes sehr viel zu schaffen hätten.

Der öffentliche, konsensbedingte, von einer wie immer gearteten Mehrheit beglaubigte Erfolg eines Literaturwerks hätte mithin als Beleg für seine künstlerische Unerheblickeit zu gelten. Umgekehrt dürfte man daraus allerdings nicht schließen, dass erfolglose, „preisunwürdige“ Bücher die besseren, wenn nicht die besten Bücher seien. Doch gewiss ist die Annahme berechtigt, dass künstlerisch starke, innovative, impulsgebende Texte am ehesten unter den Letzteren − den „unausgezeichneten“ − zu finden sind.

Es gibt ja auch durchaus Autoren, die sich Auszeichnungen und die damit zusammenhängenden Unverträglichkeiten ersparen, indem sie konsequent so schreiben, dass sie für Betrieb und Markt uninteressant bleiben und bei den wortführenden Kritikern und Juroren gar nicht erst „in die Kränze“ kommen − mit Günter Eich darauf hoffend, dass es irgendwo („vielleicht in Saloniki“) ein Postfach und einen kompetenten Leser dafür gibt. In solchen Fällen scheint noch immer die elitäre Devise Stéphane Mallarmés zu gelten, wonach das Verstandenwerden und das Erfolghaben für alle Dichter „eine Schmach“ seien − eine Devise, die angesichts der Vermarktung und Mediokrisierung der literarischen Kultur neue Aktualität gewinnt.

Die generelle Frage nach der Preiswürdigkeit literarischer Autoren sollte deshalb differenziert, wenn nicht überhaupt neu gestellt werden. Ob sich ein Werk der künstlerischen Literatur durch die pekuniäre Belohnung dessen, der es produziert hat, angemessen würdigen lässt, ist schwerer zu beantworten, als man meinen möchte. Nimmt man mit Paul Valéry und seinesgleichen an, der Dichter sei Dichter prinzipiell nur dann, wenn er am Schreiben ist, und nicht, wenn er sich als Privatperson anderweitig umtut − so müsste man logischerweise schließen, dass jede Preisverleihung letztlich auf ein absurdes Missverständnis der Funktion, der Qualität und des Sinns literarischer Arbeit zurückzuführen sei.

Dass solche Veranstaltungen als regelmäßig wiederkehrende Events zur offiziellen Agenda des Literaturbetriebs gehören, ist weder zu begrüßen noch zu beklagen. Denn für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Literatur als Kunst sind sie ohne Belang. Wozu also braucht es weiterhin Akademien und professionelle Jurys, um preiswürdige Autoren ausfindig zu machen am Leitfaden von Kriterien, die vom Publikumsgeschmack kaum noch zu unterscheiden sind? Da wäre es doch nachgerade konsequent, auf solche Betriebsexperten zu verzichten und in Zukunft nur einfach Publikumspreise auszuschreiben, die rein quantitativ – durch Klicks, durch Likes – ermittelt und vergeben werden.

(Originalfassung eines Essays, der erstmals im Herbst 2017, leicht redigiert und anders betitelt, in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wurde.)

 

Felix Philipp Ingold arbeitet nach langjähriger Lehrtätigkeit als freier Autor in Romainmôtier; jüngst erschien von ihm (als Übersetzer und Herausgeber) der Band: Marina Zwetajewa, Unsre Zeit ist die Kürze (Unveröffentlichte Schreibhefte), Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.