Eine Aussprache in Fischamend oder Vom Untergang der Linken

Von Erwin Riess. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 53

Online seit: 18. Februar 2022
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Erwin Riess. Foto: Alexander Golser

Herr Groll hatte seinen Freund, den Dozenten, zu einer Aussprache an die Donau bei Fischamend, einem ehemaligen Fischerdorf im Dreieck zwischen dem Strom, der größten Raffinerie des Landes und dem Wiener Flughafen, gebeten. Es kam nur sehr selten vor, daß Herr Groll eine Aussprache begehrte, meistens war es der Dozent, der seinen Freund zu einem Austausch in ein Innenstadt-Café bat. In Grolls Augen konnte es ein Austausch an Bedeutung aber mit einer Aussprache nicht aufnehmen. Einem Austausch haftete ihm zufolge etwas minder Ernsthaftes an, das bis zum Unverbindlichen reichen konnte, eine Aussprache hingegen sei, noch dazu an der Donau, eine ernste Sache. Im Rahmen einer Aussprache werden gesellschaftliche Strategien erwogen und verworfen und weitreichende Perspektiven entwickelt, die bis hin zur Neupositionierung des Weltgeistes und der von ihm kommandierten Dämonen reichen können. Sie parkten beim Fischrestaurant „Rostiger Anker“ neben der Mündung der Fischa in die Donau. Groll machte den Dozenten auf die vom Besitzer eigenhändig errichtete Rampe für gehbehinderte Menschen aufmerksam.

„Was für ein trauriger Anblick“, sagte Groll. „Die einzig funktionelle Rampe im Umkreis von zwanzig Kilometern – an der Donau gibt es sogar über siebzig Kilometer nichts Vergleichbares – doch das Restaurant ist geschlossen und dem Verfall preisgegeben.“

Sie nahmen den kurvigen Weg durch die Wiesenlandschaft an der Donau. Ursprünglich geschottert, war die Straße längst in eine unbefestigte Piste übergegangen, die von Pfützen und schlammigen Stellen durchsetzt war.

„Selten aber doch kann es geschehen, daß auch in persönlichen Fragen die Notwendigkeit einer Aussprache erwächst“, eröffnete Herr Groll das Gespräch. „Diese aber muß von größter, wenn nicht von lebensentscheidender Bedeutung sein. Dazu zählen Fragen von Leben und Tod, wie sie durch den nunmehr in Österreich möglichen assistierten Suizid verstärkt gegeben sind, ebenso wie Fragen von verstoßener Liebe und unstillbarer Eifersucht wie neulich im verschneiten Villach, als eine ausgebootete Ehefrau sich an ihrer Rivalin und deren Sohn rächte, indem sie die beiden mit dem Auto auf einer engen Straße, die beidseits durch meterhohe Schneewächten gesäumt war, niederstieß und tötete. Die Opfer hatten keine Chance, der Rache der Verstoßenen zu entgehen. Eine Aussprache hätte den Opfern wahrscheinlich das Leben bewahrt, aber zum Wesen einer Aussprache gehört, daß sie von einer Seite begehrt wird und die andere sich diesem Begehren nicht verschließt. Die Kriminalitäts- und Mordarchive sind voll mit verpassten Aussprachen.“

„Die Zeit für eine Aussprache war in diesem tragischen Fall längst verstrichen“, sagte der Dozent. „Vielleicht hätte ein Gesprächsaustausch, der ja weniger erdenschwer daherkommt als eine Aussprache, noch etwas geholfen.“

„Sie sollten sich doch längst im Klaren darüber sein, daß ein Austausch mit einer Aussprache nicht mithalten kann“, nahm Herr Groll die Vorrede wieder auf. „Ihre Vorliebe für das minder scharfe Instrument des unverbindlichen Austauschs wurzelt unzweifelhaft in Ihrer großbürgerlichen Herkunft. Aufgewachsen in einer Industriellenvilla in Wien-Hietzing und versehen mit den Segnungen einer Schulkarriere im Theresianum, sowie einem Studium der Soziologie in Oxford, sind sie den Umgang mit Millionärssprößlingen gewöhnt, die über geschliffene Manieren, ein selbstbewußtes Auftreten und genügend Taschengeld für einen Aston Martin verfügen. Unverbindlicher Small Talk ist unter diesen Leuten eine beliebte Disziplin.“

„Die Devianzforschung weist nach, daß der Sozialneid zu den besonders häßlichen Seiten der modernen gesellschaftlichen Verwerfungen zählt“, erwiderte der Dozent. Er bemühte sich erst gar nicht, seinen Ärger zu unterdrücken.

Man könne den Sozialneid auch kultivieren, lenkte Herr Groll ein. Solcherart veredelt ließen sich ihm durchaus produktive Seiten abgewinnen. Zu deren wichtigsten zähle ein realistischer Blick auf die Verhältnisse. Daß den Absolventen der Eliteschulen und Universitäten aber nicht ohne Grund eine ausgeprägte Wankelmütigkeit in den Fragen des Lebens nachgesagt werde, sei kein Zufall, sondern eine wissenschaftlich fundierte Erkenntnis.
In scharfem Kontrast zur großbürgerlichen Herkunft des Dozenten rechnete Herr Groll sich selbst zum vorstädtischen Subproletariat, das weltanschaulich auf einem schmalen Grat zwischen einem kruden Materialismus, rhapsodischen Gemütslagen und einer ausgeprägten Neigung zu Hassattacken und Gewalttätigkeit balanciert.

„Lückenhafte schulische Kenntnisse und prekäre Ausbildungs- und Arbeitsverläufe ergänzen sich bei den Jugendlichen der Vorstädte zu einem toxischen Gemenge. Nur die allerwenigsten sind in der Lage, sich zu einer gediegenen Halbbildung aufzuschwingen“, fuhr Groll fort. „Vertreter dieser Gruppe, Politikwissenschaftler schätzen sie auf fünfzig bis sechzig Prozent der Bevölkerung, neigen nicht ohne Grund zu Extremen.“

„Das Aufwachsen unter extremen Bedingungen begünstigt die Herausbildung extremistischer Weltanschauungen“, assistierte der Dozent.
„Ihre Rede klingt mir zu fatalistisch“, sagte Groll. „Es gibt in dieser Frage keinen Automatismus, wohl aber eine starke Tendenz. Aus leidvoller Erfahrung mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft kann ich Ihnen sagen, daß die zivilisatorische Tünche bei vielen dünn ist, sehr dünn. Andererseits würden, eine offene Bildungslandschaft vorausgesetzt, nicht wenige der Labilen und Gefährdeten als Träger und Motivatoren von Emanzipationsbewegungen eine gute Figur machen. So aber finden sich unter den gegebenen Bedingungen, in denen gesellschaftlicher Aufstieg von mannigfachen Barrieren behindert wird und Wohlstand, Bildung und beruflicher Erfolg überwiegend auf dem Erbwege weitergegeben werden, unter den männlichen Vorstadtproletariern viele Sozialhilfebezieher und arbeitslose Jugendliche, deren existenzielle Pole durch die Kürzel AMS und BMW beschrieben werden müssen. Besonders schwer haben es in diesen Kreisen Mädchen, die zu allen strukturellen gesellschaftlichen Übeln auch noch unter dem Zwang zur familiären Reproduktionsarbeit und einer damit einhergehenden Unterdrückung durch Familie, Clan-Väter und -Brüder leiden. Nicht zufällig ist die Impfquote unter den migrantischen Jugendlichen und jungen Männern besonders gering. Impfen gilt vielen als unmännlich.“

„Alle Menschen sind Intellektuelle, aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen“, erwiderte der Dozent.

„Wer sagt das?“

„Der Chef des Tiroler Lawinenwarndienstes, Rudi Mair, angesichts der Lawinenunfälle von Anfang Februar. Es schmerze ihn und mache ihn traurig, wenn er tagelang warne, warne und wieder warne: Und dann gebe es innerhalb von zwei Tagen über 50 registrierte Lawinenunfälle mit neun Toten.“

„Ich dachte eher, der Satz sei von Antonio Gramsci“, sagte Groll zweifelnd.

„Oder war es die Grande Dame des Liberalismus, Irmgard Griss“, räumte der Dozent ein. „Sie wurde mit den Worten zitiert: ´Die Pandemie hat so gewaltige Schäden und so viel menschliches Leid verursacht und wenn es die Möglichkeit gibt durch die Impfung die Pandemie einzudämmen, ist es nicht einzusehen, dass das nicht gemacht wird. Es ist ja auch die Verantwortung jedes einzelnen das zu tun, was für die Gesellschaft notwendig ist.“
„Klare Worte. So einfach könnte es sein“, sagte Groll. „Frau Griss hat noch ihre fünf Sinne beisammen. Und sie schmeißt die Nerven nicht weg. Sie biedert sich auch nicht auf eine widerliche Art bei den ´Freiheitskämpfern` an, wie es unser Bundespräsident in seiner Neujahrsrede tat. Man müsse mit allen reden können, man müsse die Leute dort abholen, wo sie sind – ja wo denn sonst? – man dürfe die Spaltung der friedliebenden Gesellschaft nicht zulassen und weiteren verharmlosenden Unsinn.“

Der Dozent zog die Stirn in Falten. „Was haben Sie gegen diese Punkte?“

„Alle sind falsch: Es gibt Situationen, da kann man nicht mit allen reden, es gibt Leute, die sind für immer für die Zivilisation verloren und bewegen sich in obskuren Echokammern. Zweitens: die Gesellschaft ist längst gespalten, ich würde sogar sagen, sie ist von einem tiefen Riß zwischen jenen, die sich mit den Mitteln der Wissenschaft und der staatsbürgerlichen Vernunft gegen das Virus wehren und jenen, die sich wie Troglodyten aufführen, durchzogen. Wo eine klare Aussage Not täte, verharmlost er und spielt die gesellschaftssprengende Verantwortungslosigkeit dieser Leute hinunter. Selbstredend, daß sich die Kickls, Rutters und die Kohorten von Obskurantisten, die Herr Mateschitz durch seinen Fernsehsender treiben läßt, von der Feigheit und Hilflosigkeit der Regierenden angespornt fühlen.“

„Das ist ja das Elend“, seufzte der Dozent. „Mit der Ideologie ist es wie beim Mundgeruch, man merkt sie immer nur beim anderen.“

„Mit Verlaub, dieser Satz ist Unsinn!“

„Warum?“

„Weil es so etwas wie einen ideologiefreien Raum nicht gibt. Ideologie ist so etwas wie die Hintergrundstrahlung des Universums, sie ist immer da. Und wie die Hintergrundstrahlen des Universums variieren auch die Ideologien. Ich rede jetzt nicht vom Sunjajew-Seldowitsch-Effekt oder anderen Inhomogenitäten der Strahlung.“

„Angeber!“ rief der Dozent. „Plagiator! Das steht doch sicher alles im Netz!“

„Aber nicht jeder vermag einen komplexen Sachverhalt in einer Aussprache an passender Stelle zu zitieren“, erwiderte Groll. „Und das fehlerlos! Darin erweist sich der wahre Meister, daß er das Wissen der Menschheit aufspüren und zweckdienlich verwenden kann.“

„Gleich werden Sie mit Macchiavelli kommen, der das sicherlich auch konnte!“

„Macchiavelli war sozusagen ein Vorläufer von mir. Sie sind auf dem richtigen Weg“, versetzte Groll.

„Aber wir sind hier auf dem falschen“, gab der Dozent zurück. „Er geht allmählich in eine Schlammwüste über. Lassen Sie uns ins Gras ausweichen.“

„Das ist zu hoch für den Rollstuhl. Außerdem ist es von Disteln durchsetzt. Ich brauche meine Hände noch!“

„Was sollen wir also tun?“

„Wir könnten uns bei der Fischerhütte dort vorn ans Ufer setzen und nach Schiffen Ausschau halten.“

Der Dozent musterte seinen Freund mit einem skeptischen Blick. „Und unsere Aussprache?“

„Das eine schließt das andere nicht aus.“

Und so kam es, daß die beiden sich ein kurzes Stück durch das hohe Gras zum Donauufer kämpften. Vor der Fischerhütte – sie war verwaist – nutzten sie ein akkurat gemähtes Rasenstück vor den Eingangsstufen und bezogen dort Stellung. Zuvor hatte der Dozent sein Rad an einen Geräteschuppen gelehnt. Die Daubel war hochgezogen, auf der Donau war kein Frachtschiff zu sehen.

„Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie mich nicht wegen der Hintergrundstrahlung des Kosmos an die Donau gebeten haben?“ fragte der Dozent.
„So ist es“, antwortete Herr Groll ernst. „Ich möchte mit Ihnen über das Versagen der Linken in der Bekämpfung der Pandemie sprechen.“

Der Dozent setzte ein ironisches Lächeln auf. „Da laufen sie bei mir eine offene Tür ein. Ich frage mich auch schon die längste Zeit, warum die Linke, die ja sonst mit Vorschlägen und Theorien nicht zurückhaltend ist, im Falle des Corona-Virus so schweigsam ist. Als hätte es ihr die Rede verschlagen. Bitte tragen Sie Ihre Argumente vor.“

Der Dozent holte Notizbuch und Füllfeder aus seinem Sportjackett hervor. Herr Groll setzte sich im Rollstuhl zurecht.

„Ihre Beobachtung, verehrter Freund, ist richtig“, leitete er ein. „In der größten Gesundheitskrise seit den beiden Weltkriegen glänzt die Linke durch Abwesenheit und Verwirrung. Sie ignoriert wissenschaftliche Erkenntnisse, weil sie von der Pharmaindustrie stammen, dabei hätte sie das begriffliche Rüstzeug zur Hand, das aus einer Naturkatastrophe ein letztlich doch beherrschbares Phänomen macht. Natürlich erwirtschaften Pfizer und Co mit der Pandemie Extraprofite. Monopole wachsen in der Krise, das wußten nicht erst die marxistischen Ökonomen der siebziger Jahre. Die Konzerne gehorchen dem Verwertungszwang, schließlich gibt es ja auch unter den Monopolen Konkurrenz. Aber, und dieses aber wiegt schwerer als jeder Aktiengewinn, auch das sollte für die Linke nichts Neues sein. Schon Marx äußert sich angesichts der Wandlungsfähigkeit und Innovationskraft des Kapitalismus nicht nur in seinen „Mehrwerttheorien“ tief beeindruckt.

Mit der Pandemie verhält es sich ebenso. Würde man den Begriff Dialektik nicht wie eine Monstranz vor sich hertragen, sondern im konkreten Denken und Handeln angewandt haben, hätte man unschwer diagnostizieren können, daß die Rettung der meisten Menschen vor mörderischen Todeswellen neben der seit der Antike bewährten Kontaktreduktion die in wenigen Monaten zur Produktionsreife gebrachten Vakzine der Pharmakonzerne sind. Die damit Extraprofite machen – und weiterhin machen werden. So ist der Lauf der Dinge im Kapitalismus, und er wird von der Pandemie nicht aufgehoben, sondern verstärkt. Niemandem stünde es besser an, diese Dialektik der Pandemie besser zu verstehen als der Linken. Großartige wissenschaftliche und technologische Leistungen der Pharmakonzerne, die Millionen Tote verhindern, und gleichzeitig private Aneignung des dadurch geschöpften Mehrwerts als Profit – wobei ein erklecklicher Teil der Forschungsmittel aus öffentlichen Quellen stammt, die Konzerne sind für Know How, Produktion und Vertrieb verantwortlich. So und nicht anders funktioniert der Staatsmonopolistische Kapitalismus.“

Der Dozent beobachtete einen Paddler, der in der Schiffahrtsrinne talwärts fuhr. Er winkte ihm zu.

„Erwarten Sie nicht, daß er zurück grüßt“, bemerkte Groll. „Er braucht seine Hände für die Stabilität des Boots. Aber lassen Sie uns fortsetzen:
Wenn das eingesetzte Kapital sich für eine gewisse Zeit im Gesundheitsbereich ebenso gut oder sogar besser verwertet als im Rüstungs- oder IT-Sektor, dann wird eben dieser Zweig forciert. Daß dies zum Nutzen der Menschheit geschieht, ist vom Standpunkt der Kapitalverwertung aus gesehen, nichts anderes als ein Kollateralschaden. Man nimmt ihn in Kauf wie einen warmen Sommerregen.“

„Man täte sich jetzt leichter, wenn man das eigene silberne Wissensbesteck nicht in einer Kommode verstauben hätte lassen“, ergänzte der Dozent, der Eintragungen in sein Notizbuch vornahm.

„So rächt sich der fahrlässige Umgang mit den mühsam erarbeiteten eigenen Denkwerkzeugen“, fuhr Groll fort. „Anstatt mit sachlich richtigen, aufmunternden, ja empathischen Parolen voranzugehen, duckt die Linke sich weg. Anstatt den Unsicheren und Schwankenden Rat und Ansporn zu geben, verweigert sie jeden Anschein einer intellektuellen Führung. Statt den weniger Gebildeten Orientierung und Information zu reichen, schaut sie selber betreten zur Seite, wenn ein Drittel der Corona-Todesopfer in Pflegeheimen verzeichnet werden. Statt für eine Impfpflicht – nicht nur im Gesundheits- und Pflegebereich – zu kämpfen, versagt sie auch hier. Sie fürchtet sich vor ihrer Klientel, deren Gehirne von social media und dem Boulevard verheert sind. Einem Boulevard, der maßgeblich von der sozialdemokratischen Linken geschaffen wurde. Denken Sie an die Geschichte der Kronen Zeitung, die Anfang der 60er Jahre mit Gewerkschaftsgeldern gegründet wurde und mit ihren Staberls und Reimanns den Boulevard ins Rechtsextreme ausdehnte und den Aufstieg eines Jörg Haider maßgeblich unterstützte. Und denken Sie an die horrenden Presseförderungen für das Fellner-Medienhaus und die Inseratenflut durch die Wiener Stadtregierung. Ich erinnere mich an eine Episode aus der Faymann-Ära der 90er und frühen 2000er Jahre. Sie wissen, daß der SPÖ-Kanzler bei Dichands wohl gelitten war und wie ein Familienmitglied behandelt wurde. Wenn man die SPÖ-Zentrale neben dem Café Landtmann betrat, befand sich rechterhand ein langes Pult, auf dem eine beeindruckende Vielfalt an Weltzeitungen ausgelegt war. Eines Tages aber war die Welt in der Löwelstraße verschwunden, wie in den Hotels von Ceauşescu-Rumänien lagen Dutzende Exemplare einer einzigen Zeitung aus. Sie ahnen, um welche es sich handelte. Der Kanzler will es so, hieß es, als ich den Portier nach dem Grund des Zeitungssterbens in der SPÖ-Parteizentrale fragte.“

Er wisse sehr gut, daß der sozialdemokratische Einsatz gegen Populismus und Rechtsextremismus im Medienbereich ebenso hohl war wie die seinerzeitigen Versicherungen des KPÖ-Vorsitzenden Muhri, Atomkraftwerke im Westen seien – da von profitgetriebenen Konzernen betrieben – abzulehnen. Anders verhalte es sich mit den Kernkraftwerken im Realen Sozialismus, diese seien – da unter ständiger demokratischer Kontrolle des Volkes – sicher.

„Was in Tschernobyl zu beweisen war“, stimmte Groll zu. „Gewerkschaften, Arbeiterkammern, linke Einzelkämpfer der SPÖ und die Organisationsreste der KPÖ wirken, als seien sie von einem politischen Long Covid Syndrom erfaßt, es herrschen Verwirrung und Antriebslosigkeit. Auch bei den tapferen Genossen und Genossinnen der steirischen und Grazer KPÖ regieren Mutlosigkeit und Defätismus. Nicht einmal die Tatsache, daß sie, die seit siebzig Jahren den Antifaschismus ebenso hoch gehalten haben wie die Volksgesundheit, jetzt nichts dagegen haben, am Höhepunkt der Pandemie mit Nazis, Antisemiten, Verschwörungstheoretikern und politisch hochgradig verwirrten Personen in einer Reihe zu stehen. Daß Beschäftigte des Gesundheitssektors immer öfter und immer aggressiver von durchgedrehten und kriminellen ´Freiheitskämpfern` und ´Kämpferinnen` beschimpft, bedroht und bespuckt werden, ficht sie nicht an. Kaum, daß sie halbherzige und müde Worte des Bedauerns finden. Daß Bürgermeister, die sich für die Impfpflicht aussprechen, und ihre Familien mit Morddrohungen überzogen werden, ist den österreichischen Linken kaum ein Wort des Protests oder der Verurteilung wert. Man schweigt.“

„Und wenn der erste ´verwirrte Einzeltäter` eine Ärztin oder einen Krankenpfleger ermordet, findet man sich zu einer Pflichtdemonstration ein und schweigt weiter. Es hat fast den Anschein, als wolle die Linke die Pandemie aussitzen wie die Sozialdemokratie das NS-Regime“, schlußfolgerte der Dozent.

„Gut gesagt, verehrter Dozent“, sagte Groll. „Nur daß sie sich dieses Mal auch der Unterstützung der kommunistischen Restgruppen sicher sein kann. Bekanntlich gibt es in der Politik kein Vakuum. Also werden die Ultrarechten auf den Coronawellen in Stadt und Land in die Regierungen gespült. Und wieder wird ein Entsetzensschrei durch die Lande gehen: Wie konnte das nur geschehen!? Wie war das möglich!?“

„Hören Sie auf! Mit ihren dystopischen Visionen bringen Sie mich noch dazu, in die Donau zu springen!“ Der Dozent klappte sein Notizbuch zu und sagte unsicher. „Wer weiß … vielleicht ist es doch besser, mit den Menschen zu irren, als gegen sie Recht zu behalten?“

„An Sätzen wie diesem und der Praxis, die er anleitete, ist der Reale Sozialismus zugrunde gegangen“, erwiderte Groll. „Anfangs trug er die Welt unter dem Arm und eröffnete den Armen und Getretenen neue Perspektiven, am Schluß war er nur mehr ein hohles Gebäude aus blechernen Phrasen und hohlen Ritualen.“

„Es gab keinen Austausch, schon gar keine Aussprachen mehr“, murmelte der Dozent.

„Corona beschert uns ein beklemmendes Schauspiel. Wir sind Zeugen eines welthistorischen Abtritts, verehrter Freund! Die Restlinke löst sich auf wie Eisbrocken im Schmelzwasser. Die Linke als geschichtsgestaltende Kraft dankt endgültig ab. Sie verspielt die Möglichkeiten, die die Gegenwart in reicher Zahl bietet, und wer die Gegenwart verspielt, braucht sich über die Zukunft keine Sorgen mehr zu machen. Die Linke hat den Zugriff auf die Wirklichkeit verloren, sie ist ins Reich der Geschichte abgewandert. Ein Fall für HistorikerInnen der Arbeiterbewegung. Die Linke ist Geschichte.“

„In der Geschichte der Menschheit sind viele Reiche untergegangen und dennoch ging es irgendwie weiter“ wandte der Dozent ein. „Meistens wurden die Dinge schlimmer. Ich weiß nur, daß die totale Herrschaft des Kapitalismus schon vor geraumer Zeit begonnen hat. An sich selber wird er nicht zugrunde gehen, wie Otto Bauer und andere vor hundert Jahren hofften. Er hat seine größte Zeit noch vor sich, und Sie können das auch als Drohung verstehen. Und keine organisierte Kraft wird ihn stören.“

„Das sagen Sie als alter Linker!?“

„Ich bin zu alt, um meine Prägungen vergessen zu können und verleugnen will ich sie schon gar nicht! Und die dramatische Ader in mir spricht dafür, daß ich bis zum Ende ein Linker bleiben werde. Im Gegensatz zu den vielen Fahnenflüchtigen der Linken von Giorgio Agamben über Sahra Wagenknecht bis zum Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier werde ich das Lager nicht wechseln.“

„Sie meinen, wenn ein Gebäude einstürzt und eine Wolke aus Staub und Schutt den Himmel verdunkelt, könnte sich irgendwann etwas Neues bilden …“

„Unsinn. Das Denken eines Marxisten kann doch vor dem eigenen Haufen nicht haltmachen!“

„Aber irgendetwas wird bleiben, so leicht lasse ich Sie nicht davonkommen!“

„Nichts wird bleiben. Nicht einmal die Erinnerung wird sich halten.“

Der Dozent schwieg. Dann sagte er leise: “Das muß sehr schmerzlich für Sie sein …“

„Sparen Sie sich Ihr bourgeoises Mitleid, erwiderte Groll schroff. „Schauen Sie lieber, daß eine ordentliche Vermögens- und Erbschaftssteuer zur Finanzierung des Gesundheits- und Pflegewesens eingeführt wird.“

Mit einer weit ausholenden Bewegung warf er einen Ast in die Donau. Er wurde von einem Strudel erfaßt und drehte sich längere Zeit im Kreis, bevor er unterging.

„Verehrter Dozent, ich danke für die Aussprache“, sagte Herr Groll dann. „Sie hat einige Dinge in meinem Kopf wieder gerade gerückt.“

„Ich weiß zwar nicht wie und wodurch …“ stammelte der Soziologe. „Aber wenn es geholfen hat, dann freue ich mich.“

„Es hat geholfen, glauben Sie mir. Ich sehe die Dinge jetzt klarer.“

Nun warf auch der Dozent ein Stück Holz ins Wasser. Nach einigem Kreisen wurde es vom Strudel in die Tiefe gezogen. Auf Höhe der Schwalbeninsel hatte Groll einen langsam bergwärts fahrenden Schubverband ausgemacht. Er holte sein Fernglas aus dem Rollstuhlnetz.

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Erwin Riess, geb. 1957 in Wien, aufgewachsen in Krems, Studium der Politik- und Theaterwissenschaft in Wien, Aktivist der Independent Living Bewegung behinderter Menschen, längere Aufenthalte an der NYU/New York, schreibt Theaterstücke, zuletzt: „Das Tschernobyl-Experiment“, Hin und Wegtheaterfestival Litschau 2019, „Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit einem Donaudampfer ans Schwarze Meer“, Wortwiege Kasematten Wiener Neustadt ab 24.2.2022. Romane, zuletzt: Herr Groll und die Wölfe von Salzburg, Otto Müller Verlag, (der achte Groll-Roman) 2021 sowie Essays und Kurzgeschichten vom Herrn Groll u. a. für Konkret, Junge Welt, Augustin, Die Presse etc.

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Mit dem hier publizierten Beitrag sollte die Reihe Hier und Heute ursprünglich enden. Gedacht war sie als eine einmal wöchentliche literarische Intervention zur besseren Bewältigung der Corona-Krise. Konzipiert war sie für ein Jahr, danach sollte der Literaturbetrieb wieder in gewohnter Weise funktionieren. Das ist nicht der Fall. Soeben wurde die Leipziger Buchmesse das dritte Mal in Folge abgesagt. Wir setzen daher die Reihe fort, und zwar bis zur Leipziger Buchmesse 2023, die Österreich zum Länderschwerpunkt hat.