Material für eine Serie von Sandpapiercollagen

Von Erwin Einzinger. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 57

Online seit: 18. März 2022
Erwin Einzinger © Heinz Hehenberger
Erwin Einzinger. Foto: Heinz Hehenberger

1 – Am Beginn betritt ein Mann mit Infanteriestiefeln den Warteraum, packt kurz danach ein Gurkensandwich aus und unterhält sich kauend mit der bisher stillen Patientin in der Ecke über Fettabsaugung, Alltagsstress und Weisheitszähne. Auffallend sein stark verschmutzter Hemdkragen, der sicher auch dem Arzt zu denken geben wird.
2 – Fünf- bis sechsmal kann der Tag sich komplett ändern und auf diese Weise variable Anschlußstellen schaffen. Olaf grinst nur, wenn derlei Verschrobenes besprochen wird.
3 – Schimmernde Verwandlungsketten. Roßknödel am Lärchenhang hinter der Luxuspension. Abends öffnet der Verlagsvertreter endlich seinen Stahlkoffer, dessen Verschluß mit einem Zahlencode gesichert ist.
4 – Im Studio der Dramaturginnen im Zentrum der Stadt Tours steht ein mit Resten alter Spannteppiche angefüllter Kinderwagen, der der Hundedame von Frau Charensol als Ruhebettchen dient.
5 – Mit depressiv gestimmtem Zwischendurchgestammel können die Gebrauchsgrafiker Ralph und Ingvar wie erwartet wenig anfangen. Anders sieht die Sache aus, wenn es um Fotos jener nackten Mädchen aus dem Volk der Tuareg zu gehen scheint, die bisher unbeachtet in der Klarsichthülle einer Mappe für das Jubiläumsheft der ethnographischen Gesellschaft lagen.
6 – Ein Dominostein auf dem Parkplatz vor der Mühle. Störfelder, gedankenferne Tunnel. Die Aushilfskraft erzählt von einer Kornhändlerfamilie, die das marode Wasserschloß gepachtet hat, mit der versprochenen Sanierung allerdings bereits vor Jahren in Verzug geraten ist.
7 – Das Nagetier muß in der Nacht verendet sein, man tippt auf Herzstillstand. Jonathan trug es in Dorotheas Badehaube in den Garten, wo er es in aller Eile gleich danach vergraben wollte, hätte ihn nicht aus dem Fenster die bigotte Nachbarin, Frau Fäsecke, dabei beobachtet.
8 – Zum Thema Promiskuität in den Büros der Dachgesellschaft wollte sich Beate erst nach einem weiteren Getränk und nur sehr zögernd äußern.
9 – „Was ist los mit Ihnen, strenger Mann? Bringt das Zerschnipselte Sie derart aus der Fassung?“ Ähnlich kecke Worte fand am Freitag Hannelore, als es darum ging, ob etwa staatliche Kontrolle da und dort längst auch private Zonen überwuchert haben mag.
10 – Daß Tourmanager Russell Schlagbaum sich tatsächlich noch daran erinnern wird, wie es dem armen Ronnie Lane im bitterkalten März auf seiner Farm The Fishpool nahe Shrewsbury ergangen ist, darf stark bezweifelt werden. Geblieben ist der Song, in dem es heißt The skinny girl made it clear that she came here only for the beer.
11 – Maultierkot auf dem Privatparkplatz. „Auch du wirst spätestens am Donnerstag die Kabelrolle brauchen, Reinhild. Ohne Strom steht man in dieser Gegend schnell im Regen.“ Reinhild nickt und schweigt.
12 – Erneut hat sich Madame Borofka im Gefühlsbereich komplett verschätzt. Ihr vermeintlich treuer Carlo wäre ihretwegen nie und nimmer barfuß über Glasscherben gelaufen. Daß er die kleinen Gangster in der Tiefgarage insgeheim bewundert hat, spielt mittlerweile keine Rolle mehr.
13 – Lauwarmer Zwiebeleintopf für die teuren Zuchthühner aus Madagaskar. Ein Weberknecht im Nähkasten. Und auf der Couch ein Automatenfoto jener Brüste, die Genosse Randolf mit dem Wort Erkenntnishunger zu verbinden wußte.
14 – Medikamentenengpaß-Stories aus der Hauptstadt. Daumennagelgroße Schneeflocken am Eislaufplatz. Im Radsportzentrum wird zu später Stunde süßer Mandelkuchen ausgeteilt. Beim Thema Kriechtiere im frühen Mesozoikum ist der Privatgelehrte aus Slavonski Brod erneut in seinem Element.
15 – Endlos lang vermag die Laborantin um den Verlust des bunt bestickten Schals aus Anatolien herumzulabern, während die Müngersdorfer Truppe mit dem Abtransport der Zeltstangen beschäftigt ist. Exakt zwei Wochen später taucht der Bofrost-Mann ganz pünktlich wieder auf, freundlich und entspannt, obwohl er stets in Eile ist.
16 – Mit Elektropop hatte der gertenschlanke Leiter des aus Minnesota stammenden Orchesters klarerweise nichts am Hut. Was ihn jedoch beschäftigt hat: Der Zufall, daß der nach Südwesten hin erweiterte Soldatenfriedhof mittlerweile an den Wassergraben grenzt.
17 – Es ist bekannt, daß schon ein Funken von Verwegenheit genügt, und eine ganze Szenenfolge nimmt auf einmal Tempo auf und Farbe an. San Leonardo wiederum nahm armen Sündern einst die Ketten ab: Ein Beichtbildchen aus dem Aostatal erzählt dazu eine berührende Geschichte. Eine andere kreist eher um den Eulenflaum im Dachstuhl der Dreifaltigkeitskapelle.
18 – Ob das Märchen von der freien Liebe auch den Jungmatrosen aus Machatschkala im Kopf herumgegeistert war, als sie am frühen Nachmittag an Land gingen?
19 – Zwei Ordnungshüterinnen, umwölkt von einer bestens austarierten Komponente aus sehr zartem Rosenwasserduft, vergaßen plötzlich ihren Montagsgrant und hielten sich auf diese Weise alle Optionen offen. Die jüngere der beiden schnalzte mehrmals mit der Zunge.
20 – Echtes Karpatenwetter. Nur einen Steinwurf weit entfernt von den Ruinen des Amphitheaters ließ Yolanda sich von Raban boostern. Er war vermutlich leicht illuminiert, wie man im Waldviertel zu sagen pflegt.
21 – Der havarierte Dampfer mit den Sauerkrautcontainern stand bereits seit Tagen in der Bucht. Doktor Quadfastl jedoch wollte zuallererst einmal nur wissen: Wer bitte kümmert sich um die Erleuchteten?
22 – Originalton Agniesza: „Ganz schön dreist, wie unser neuer Koadjutor aus Jelenia Góra unlängst voll Verachtung auf den Tanzboden gespuckt hat.“
23 – Erinnerungen an das keltische Neujahrsfest. Und im Pub gingen zwei mächtig Angeschickerte mit altbekannten Weisheiten hausieren, in denen es zum Beispiel darum ging, daß man nach Newcastle natürlich keine Kohle liefern müsse. Und eine Frau mit wilder Turmfrisur gab anschließend bekannt: Happiness comes easy if it`s bright and breezy …
24 – Im Seminar zum Aufbau größerer Reserven im Bereich der Selbstkontrolle kriegte Ramona einen Lachanfall. Auch die Geheimnisse des Intervallfastens dürften sich ihr bisher nicht erschlossen haben.
25 – „Fick dich, russisches Kanonenboot!“ war die empörte Antwort der Bewohner jener kleinen Schwarzmeerinsel, die alle kurz danach erschossen wurden.
26 – In Pantoffeln und im Schlafrock durchs Gelände streifen: Für Lajos kein Problem. Seine Herzensdame freilich hat er nie zum Pferderennen mitgenommen oder wenigstens zu einem teuren Abendessen ausgeführt. Aber am Dienstag kurz nach fünf lag er erneut auf ihr, den Kopf zwischen den Beinen.
27 – Die Heilmasseuse gibt nun zusätzlich noch alle vierzehn Tage im Gemeindezentrum Ratschläge betreffend ausgewogene Ernährung. Auch diverse Wohlfühl-Faltbroschüren werden angeboten.
28 – Selbst charmante Liebespaare hinterlassen Spuren. Magda und Helene sind jedoch nicht dazu da, sich auch um derlei Dinge noch zu kümmern. (Die letzte Honolulu-Party war genaugenommen ohnehin ein echter Reinfall.)
29 – Im Likörstübchen wird ganz dezent gefeiert. Und nur zwei Straßen weiter: Vier süße neue Katzenbabies im Gesindehaus, dessen hübsches Strohdach Radovan im Juni während eines Wutanfalls tatsächlich abgefackelt hätte, wären die beiden Sportler aus dem Klub in Tuzla ihm nicht in den Arm gefallen.
30 – Leerstandskonferenz im Institut für Raumplanung. Die Gaststudentin hat es eilig, deshalb stellt sie nur drei kurze Fragen, verschwindet anschließend in aller Eile aufs WC und ruft danach ein Taxi, dessen Fahrer offenbar ein echtes Redhaus ist. Vor der Ampel an der Baustelle im Innenstadtbereich erzählt er von dem Burgschauspieler, der von seiner Urlaubsfahrt zurückgekommen sei in eine ausgeraubte Wohnung.
31 – Ein Bündel Hühnerfedern baumelt an der Tür der Unterkunft der Hirten in dem schmucken Dorf am Rande der Rhodopen. Es gibt Fladenbrot und frische Ziegenbutter. Auf dem dreibeinigen Melkschemel aus Ahornholz steht eine Schale mit Ringlotten.
32 – Tierfilmer Vaclav strahlt, als er das wackelige Fohlen der Giraffe endlich trinken sieht. Er klopft mit seinem Daumennagel mehrmals auf den Blechkanister, winkt danach in Richtung Kamera und hört im Kopf womöglich Engelschöre, während Ludmilla rasch das nächste Aspirin zerstampft.
33 – Danke für die freundliche Begleitung durch den Tag. Ein letzter Höhepunkt: die legendäre Typhusopfer-Galerie im Abendlicht. (Keine achtzig Kilometer weiter nördlich bolzte angeblich zur selben Zeit ein junger Eber durchs Gehölz.)
34 – Völlig übertrieben war natürlich auch die Angst, bereits das Tischgebet könnte womöglich länger dauern als die eigentliche Mahlzeit. Doch der Grundsatz, erst einmal die Ruhe zu bewahren, hat schon des öfteren vor Schnellschüssen und Peinlichkeit bewahrt.
35 – Straff gespannt wie ein gigantisch großes Trampolin: der Himmel über Tatabánya. Im gut besuchten Strandcafé gestand eine gelangweilte Natalya: „Seit kurzer Zeit trage ich immer häufiger gestohlene Kleider. Schuld daran ist Istvans Bruder, der jede zweite Woche durch die Märkte Bratislavas zieht.“ (Die Gartenarchitektin fragte hinterher nicht ohne Grund: „Warum sind alle hier so durchgeknallt?“)
36 – Jetzt auch im halbwegs gut sortierten Einzelhandel jederzeit erhältlich: Füllhörner für Heuboden und Vorratskammer.
37 – Am Mittwochabend um halb acht: Ganzkörpertattoofreunde vor dem noch sonnenwarmen Dom im Zentrum von St. Pölten. Musica Sacra-Flyer vor dem Würstlstand. Und niemand weiß, was morgen kommt.

Erwin Einzinger, geb. 1953 in Kirchdorf, Studium der Anglistik und Germanistik, lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Micheldorf, OÖ. 15 Bücher im Residenz Verlag und im Verlag Jung und Jung, Salzburg. Zuletzt Barfuß ins Kino. Gedichte, 2013. Ein kirgisischer Western. Roman, 2015. Das Wildschwein. Arabesken, 2018. Dazu mehr als zehn Bände Gedichte und Romane U.S.amerikanischer Autoren übersetzt (u. a. Robert Creeley, William Carpenter, John Ashbery, James Schuyler). Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Rauriser Literaturpreis, manuskripte-Preis, Mondseer Lyrikpreis und H. C. Artmann-Preis.

 

„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.