Analog

Von Erika Pluhar.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XIII

Online seit: 14. Mai 2021
Erika Pluhar © Christina Häusler
Erika Pluhar. Foto: Christina Häusler

Die Kinderstimmen nebenan am Spielplatz sind analog. Sie brüllen. Sie schreien sich an oder einander etwas zu. Der Fußball, den ich aufschlagen höre, ist nach wie vor ein Fußball. Die Füße, die ihn treten, sind Kinderfüße und ebenfalls analog. Das beruhigt.

Sie spielen trotz der Hitze. Dieser Hitze schon im frühen Juni. Das gehört zu den Veränderungen. Mich schlaucht sie. Ermattet mich. Der Wind, der durch die Bäume vor meinem Fenster fährt, ist ebenfalls heiß. Diese Bäume, über die ich ständig und immer wieder schreibe. Die ich anbete. Ja, sie sind mir Gewähr von Leben und Schönheit, so lange man sie gewähren lässt. Sie schenken mir Analogie. Analogie zu meinem eigenen Sein. So lange dieses währt.

Es wurde bereits zu lange gelebt.
Ich beschränke mich auf den Augenblick.
Meine Augen blicken in Bäume und Laub, das ist schon etwas.
Davor, am Fensterkreuz, lehnt ein Bild, das meine Mutter gemalt hat.
Es sind Blumen. Kühne und wilde Blumen.
Sie malte gern Bäume, und sie malte gern Blumen. Auf ihre Art.
Das seitliche Fenster ist geöffnet, man kann Vogelstimmen hören.
Auch das ferne Brummen eines Flugzeugs, hoch oben.
Und jetzt Kirchenglocken.
Warum eigentlich Kirchenglocken, erst morgen ist Sonntag.
Ich bin allein in meinem großen Haus.
Für einige Tage allein in meinem großen Haus.
Ich habe den hellen Bildschirm vor mir, und darunter meine alten Hände, die sich über die Tasten des Computers bewegen.
Der April ging zur Neige.
Ich habe das Hervorbrechen des Frühlings erlebt. Noch einmal erfahren, wie Erloschenes, ja Totes, plötzlich wieder Leben gebar.
Meine Parabel, ich weiß.
Nur bin ich nicht Teil der Natur, bin ein Menschenwesen. Das heißt: gnadenlos vergänglich. Eines Tages bin ich Vergangenheit und nichts sonst. Und auch das wird vergehen.
Aber so lange es geht, werde ich mit meinen Worten umgehen, das weiß ich.
Mit Worten, die ich liebe.
Wind. Vogel. Laub natürlich, immer wieder Laub.
Ferne. Weite. Gewölk.
Meer-Worte, wie: Ufer. Strand. Welle. Woge, auch Gischt.
Gras. Einfach: Gras.
Die Worte meine Zuflucht, seit ich Kind war.
Horizont. Abendhimmel. Mond. Was für ein Wort: Mond.

Diese Zeilen in meinen alten Laptop hinein zu klopfen, bedeutet nicht, daß ich einen Computer begreife. Daß ich diese Welt noch begreife. Diese für mich aus den Fugen geratene Welt. Ich werde wohl mein Leben analog zu Ende leben, darauf bestehe ich. Obwohl die Umwelt nach einem greift, ob man will oder nicht, sie herrscht.

Es rührt mich, einen Film zu sehen, wo Menschen noch nach einem Telefonhörer greifen. Einander einen Brief schreiben. Handschriftlich natürlich. Wie sie ohne Mühe bei einer netten Boden-Stewardess ihre Bordkarte erhalten, über das Flugfeld schlendern und dort das Flugzeug besteigen. Auf schmalen Straßen mit offenen Kabrios direkt am Meer dahinfahren, und ihnen kaum Autos entgegenkommen. All das.

Die Menschen waren zu allen Zeiten und auch damals eine ungute Spezies, geben wir’s zu. Aber sie lebten schöner. Ohne das jedoch zu wissen und hochzuachten. Sie hofierten bereitwillig dem Fortschritt. Der Technik.

Also ich beharre. Beharre auf meinen schlecht schließenden, alten Fensterflügeln, davor den bereits etwas brüchigen Holzläden. Dadurch wird bei mir niemals schlechte, verbrauchte Luft die Räume erfüllen, ich benötige keine Air-Condition, die surrt und bläst und meinen Nacken steif macht. Zum Beispiel.

Es gibt viele solcher Beispiele, mit denen ich gegen Forderungen neuzeitlichen Komforts trotzig meine Lebensqualität bewahre. Das hat nichts mit früher war alles besser, mit unbelehrbarer Rückschau zu tun, sondern mit Lebensschönheit. Wie ich sie verstehe und zu Recht einfordere.

Ich liebe diese Stille. Was für ein so selten gewordenes Geschenk, so zu wohnen, ein Haus zu bewohnen, ohne das nahe oder fernere, jedoch unvermeidbare Rauschen einer Autobahn ständig hören zu müssen.

Bei Autoreisen jetzt. Du siehst ein hübsches Gehöft auf einem Hügel, siehst es unterwegs, aber du weißt, daß dort oben unablässig Getöse herrscht, denn der Wagen, aus dem du hinaufschaust, befindet sich, selbst dröhnend, auf einer Autobahn.

Die Gasse, in der ich lebe und bis zum Ende meiner gezählten Tage leben möchte, kann nachts oftmals immer noch so still sein, daß die Stille zu singen beginnt. Daß ich es höre, wenn sich im Herbst ein Blatt vom Baum löst und leise knisternd zu Boden fällt.

Ich wandere möglichst jeden Tag, gehe wieder und wieder die selben Pfade. Jedoch genau dies lässt mich erfahren und bestaunen, wie Vertrautes sich unentwegt verändert. Die Natur zeigt es mir.

Man hatte ein üppig wachsendes Waldstück gerodet, an dem ich regelmäßig vorbeizugehen pflegte. Eines Tages plötzlich, ich unvorbereitet dahinwandernd, der Anblick von Baumstümpfen und aufgewühltem, verletztem Erdreich. Fast brach es mir das Herz. Statt des Laubdaches der gnadenlose Himmel. Gebrüllt habe ich. Unflätig geschimpft. Und das immer wieder, wenn mein Weg mich daran vorbei führte.

Die allgemeine Nacktheit des Winters dann, der folgte, ließ mich blickloser dahingehen, ich schaute weniger um mich, war in mein Nachdenken vertieft, und konnte das geschändete Brachland nahezu übersehen.

Der Frühling geriet übereilt warm und sommerlich, sanfte Regenfälle ließen jegliches üppig grünen und aufblühen. Ich war länger nicht auf dem Pfad entlang der Rodung unterwegs gewesen. Gestern aber doch. Und da traute ich meinen Augen nicht. Was für eine Veränderung, welches Wunder bot sich mir. Ein Hochwuchern von Holunderbüschen, kleine Bäumen, hüfthohem Gras, wilden Blumen und Hecken. Ein Biotop schönster Eigenart war an Stelle des früheren Waldstücks zu erblicken.

Da staunte ich. So unerschütterlich wirkt Natur fort, wenn man sie in Ruhe lässt, so geht sie auf Katastrophen ein und überlebt sie. Und ich habe weiter gedacht. Habe an mich selbst gedacht. Genauso ist es wohl, wenn etwas den Menschen seine Katastrophen überleben lässt. Da ist die Natur Parabel. Nicht dein Verstand schenkt dir ein Überleben, ein Weiterleben. Es ist das naturhafte Leben selbst.

Die weißen Nächte des Postboten. So hieß der Film, den ich gesehen habe. Nur bruchstückweise, ich musste ihn immer wieder verlassen, musste weg davon und ein anderes Fernsehprogramm wählen. Die Melancholie dieser Landschaft, dieses sterbenden Dorfes im nördlichen Rußland, die verhaltene Trostlosigkeit allen Lebens dort griff mich an. Ja, im wahrsten Sinn. Es war wie ein Angriff, so als schösse man mich nieder. Es waren keine Schauspieler, die sich in diesem Film darboten. Menschen, die dort leben, wurden belauscht. Da saßen zwei Männer am Tisch in einer Hütte und tranken Tee. Bunte hohe Tassen auf dem Plastiktischtuch, das eine idyllische Szenerie aus Blumen und südlichem Blau bot. Und der eine sagte – sie sprachen russisch mit deutschen Untertiteln – daß ihm die Seele stürbe. Daß nie dieses Leben kam, von dem er erwartet hätte, es würde doch eines Tages auf ihn zukommen. Und dann das Wort: Schwermut. Sie würde ihn langsam umbringen.

Dann: auf dem nackten Bauch des Postboten, der zu Bett lag, saß eine silbergraue Katze. Der Mann schien gerade zu erwachen und sah sie an. Wie die zwei sich ansahen. Der unverwandte Blick des Tieres, in dem alles Wissen lag. Und diese ewige Traurigkeit in seinen Augen. Das waren Szenen, die meine eigene Schwermut und Traurigkeit freilegten und auf mich losließen. Wie Schüsse aus dem Hinterhalt.

So fühlt sich mein Morgen an.
Jeder Morgen nach dem Erwachen.
Tag für Tag muß ich mich daraus erheben.
Bis zum letzten Tag.

Warum trotzdem immer wieder dieses Da-sein-wollen?
Wo mir doch die Welt als so verstört erscheint?
Ich der Meinung bin, die Menschheit, also der Mensch, stünde an einem Scheideweg? Neue Technologien, neue Kriege, die totale digitale Entfremdung, ökologische und ökonomische Verwüstungen, Völkerwanderungen – trotzdem das Dasein auf Erden wieder menschen-möglich und menschenwürdig werden zu lassen – würde es dem Menschen gelingen?
Oder eben nicht?
Trotz dieses oder eben nicht‘ möchte ich diese Welt noch nicht hinter mir lassen. Möchte ich mir der Spezies Mensch bewußt bleiben, weiterhin Menschen-Beobachterin sein dürfen.
Da mein Alter mich weitgehend aus der Umklammerung von Liebeshunger und Ehrgeiz frei machen konnte, kann ich das Leben jetzt vielleicht besser lieben.
Ist es vielleicht das?
Ja, mein Seufzen am Morgen, diese Leere, die zur Hölle werden kann, mein Mich-Erheben, um die Tage noch zu meistern, das Aufstöhnen, wenn die alten Knochen schmerzen, ja, gut und schön, alles beschwerlich, alles ohne Glanz und Zauber, aber auch ohne Lüge und Vorwand. Klar alles, die Endlichkeit vor Augen, das Schöne im Gegenwärtigen sichtbar, nichts mehr ist behangen von falschen Sehnsüchten und unlauteren Wünschen.
Vielleicht deshalb möchte ich die Erde noch nicht verlassen, das Zeitliche noch nicht segnen.

* * *

Erika Pluhar, * 1939, wurde nach Abschluss des „Max-Reinhardt-Seminars“ an das Wiener Burgtheater engagiert und war dort vier Jahrzehnte lang tätig. Machte sich auch durch Film und Fernsehen im gesamten deutschsprachigen Raum einen Namen. Begann 40-jährig musikalisch zu arbeiten, und wurde Interpretin ihrer eigenen Lieder, gleichzeitig entstanden regelmäßig Bücher. 60-jährig zog sie sich aus der Schauspielerei zurück, arbeitete für den Film (Buch, Regie, Produktion), produzierte Tonträger, gab und gibt Konzerte und hält Vorträge und Lesungen. Die meisten Bücher von ihr erschienen im Residenz-Verlag und bei Suhrkamp-Insel in mehreren Auflagen wie u.a. Die öffentliche Frau und Gegenüber.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.