Jüngst besuchte ich eine Diskussion in der Alten Schmiede in Wien. Das Thema lautete: Beruf vs. Berufung Literatur. Zwei Kolleginnen mit langer, diversifizierter und erfolgreicher Karriere im Literaturbetrieb und darüber hinaus diskutierten, wie das so ist mit der Literatur als Traumjob und parallel laufender Erwerbstätigkeit im Brotberuf. Im Publikum saßen fünf Personen – drei Angehörige, ich – eine selbst von der Work-Write-Balance-Frage betroffene Autorin – und ein interessierter Zuhörer. Es erweckte den Eindruck, dass die Lebensrealität von Autor:innen niemand anderen als eben besagte Autor:innen und/oder deren Familien interessiert. Nie war unsere Zeit mehr getrieben von Content, aber wen kümmert’s, wo und wie der herkommt.
Das ist insofern spannend, da sich in den vergangenen Jahren vor allem in Deutschland viele Initiativen und Kollektive gegründet haben, die genau dieser Bipolarität von Traumjob vs. Brotberuf nachspüren und öffentlich Fragen von Bezahlung, Belastung und Betreuung diskutieren. Mehrere Sammelbände und Essays wurden veröffentlicht, die insbesondere die durch Corona stark sichtbar gewordene und immer größer werdende Schere von prekär bezahlter Arbeit/Leistung im Literaturbetrieb und der selbstausbeuterischen Notwendigkeit einer Quersubventionierung durch andere Berufe anprangern und deutlich als auch klar benennen. Der Sammelband Brotjobs und Literatur von Balinth, Dathe, Schadt und Wenzel (Hg.) sei hier erwähnt oder die soziologische Betrachtung der Schreibarbeit Schreiben von Amlinger. In erster Publikation berichten Literaturbetriebskolleg:innen im Detail von ihren bodenständigen Nebenberufen und rechnen vor, wie wenig bis eigentlich gar nicht es sich ausgeht, als literaturschaffende Person tätig zu sein. Die Arbeitsverhältnisse sind vielseitig und vielfältig, in welche sich Autor:innen begeben, um parallel oder auch in Konkurrenz zu ihrem Schreiben ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Zeiten der großen Vorschüsse, gut bezahlter Auftragsarbeit und lebenswerter Tantieme sind lange vorbei. Dass sich Thomas Bernhard einen gemütlichen Bauernhof leisten konnte aus seinem Schreibverdienst, ist heute kaum noch vorstellbar. Dass Goethe nach ein paar Jahren Schriftstellerarbeit so erschöpft und vielleicht sogar im Burnout war, dass er eine mehrjährige Italienreise antrat, auch das ist für gewöhnliche Schreibende von heute nicht denkbar. Kurzum, das Schreiben und alle damit verbundenen Tätigkeiten werfen wenig und immer weniger ab. So manch einer mag dazu sagen: Ja, das ist nichts Neues, das weiß man alles, das muss man in Kauf nehmen.
Doch es scheint immer mehr, dass selbst die Zeiten vorbei sind, in welchen wir uns glauben machen können, dass zumindest einige wenige wirklich erfolgreich Schreibende von ihrer Schreibarbeit ein Auskommen haben, nicht in Unsicherheit und Unplanbarkeit in stetem Prekariat mit Ausblick auf Altersarmut leben. Denn es zeigt sich, dass sehr viel mehr Schreibende und im Literaturbetrieb arbeitende Menschen einen Brotjob haben, als bisher geglaubt: nämlich fast alle. Es scheint noch viel mehr, dass diese Brotjobs den besagten Literaturbetrieb subventionieren, finanzieren und überhaupt am Leben erhalten. Ich erinnere mich an eine Aussage meiner Agentin, bevor wir das erste gemeinsame Manuskript verkauften. „Du hast ja noch einen Job, das ist gut.“ Auf meine Nachfrage, warum das gut sei, antwortete sie: „Es muss nicht zwangsläufig funktionieren.“ Mit „es“ meinte sie die Veröffentlichung dieses konkreten Manuskripts, seinen gewinnbringenden Verkauf an einen Verlag, oder auch eine Schreibkarriere generell. Jedenfalls aber das Sentiment: Du hast Plan B, welcher dich vor finanziellem Ruin bewahrt, vielleicht auch vor psychologischem. Ich erinnere mich an die Erzählungen der ersten Sprachkunst-Studierenden, die im neuen Institut der Universität für angewandte Kunst der späten Nuller-Jahre einzogen, die vom Aufnahmekomitee die Frage gestellt bekamen: „Können Sie sich das Studium leisten?“ Heute, bald 15 Jahre später, wird diese Frage bei der Aufnahmeprüfung angeblich nicht mehr gestellt. Und das ist gut so.
Die Gegenwartsliteratur ist in vielen Punkten bipolar. Sie ist transparenter mit stellenweise mehr Durchlässigkeit und zugleich mehr Gatekeeping – zumindest in der ernsthaften Literatur. Es gibt Prekariat ohne Ende, aber es gibt auch einen Demokratisierungswillen. Es gibt den Willen zu mehr Transparenz untereinander und es gab die offenbarende Enthüllung der zahlreichen Schwachpunkte bis Sollbruchstellen durch die Corona-Pandemie.
Gesellschaftlich ungleiche Produktionsbedingungen gab es immer schon, sie setzen sich auch weiter fort. Der tendenziell durchakademisierte Kunst- und Kulturbetrieb hat mehrere Schleusenwarte und der größte sind natürlich die Produktionsbedingungen selbst. Erfahrungen sind positiv, sie nähren die Kunst. Ein Brotberuf ist fruchtbar für die Schreibarbeit, meist auch über das Finanzielle hinaus. Doch er kostet Zeit. Er kostet Kraft. Er kostet manchmal Ansehen innerhalb des Betriebs. Denn vielerorts herrscht immer noch die elitäre Meinung, wer sich nur genug anstrengt, lang genug durchhält, den wird irgendwann die Literatur erhalten. Wer das Lehrgeld zahlt, der und ja nur der, wird sich durchsetzen. Im Umkehrschluss, wer einen Brotberuf braucht, ist schwach und will es einfach nicht genug. Es geht um Wollen, um eisernen Willen, um Sturm und Drang und Leidenschaft bis zum bitteren Ende. Doch der Literaturbetrieb ist schon lange zerrüttet und löchrig. Und um noch einmal mit Nachdruck daran zu erinnern: Auch wenn man sich noch so selbst ausbeutet, kasteit und durchhält; bis auf wenige Ausnahmen kann niemand davon seinen Unterhalt bestreiten. Wie Anke Stelling in einem Aufsatz über Klasse und Literatur schrieb: „Wir machen zwar alle das Gleiche, aber nicht alle müssen davon leben.“
Ich denke hier an Verleger und Theatermacher Dinçer Güçyeter, der in einem Essay von seiner Arbeit als Lagerarbeiter zwischen Gabelstapler und Sicherheit durch Festanstellung schreibt, wie er alles Geld zurück in den Verlag fließen lässt. Er berichtet auch von Medienanfragen, die ihn im Blaumann und mit Flurförderzeug ablichten wollen – denn natürlich ist sich der Betrieb für einen voyeuristischen Blick nicht zu schade. Auch die Kolleginnen bei der eingangs erwähnten Diskussion zu Beruf vs. Berufung Literatur berichten von ihren anderen und zusätzlichen Erwerbstätigkeiten: Kollegin Katharina Tiwald ist Lehrkraft an einer NMS und leistet großartige gesellschaftliche Schwerstarbeit und Kollegin Cornelia Travnicek forscht in einem Informatik-Wissenschaftsbetrieb. Journalist und Autor Stan Lafleur erinnert sich an mehr als 30 Brotberufe, die er ausgeübt hat, von Kartonagenfalter, Möbelpacker, Volleyballtrainer zu Journalist und Unternehmensberater: Sie berühren alle auf unterschiedliche Weise die Physis und die Psyche. Das alles fließt zurück in die Kunst. Und ja, auch ich, die Autorin dieses Textes, habe einen Brotberuf, einen Corporate Job in der IT-Branche. Gegen die Sicht, es sei eine notgedrungene Zweitbeschäftigung verwehre ich mich allerdings seit Jahren vehement, denn es ist mein eigentlicher Wahlberuf für den ich studiert, auf den ich mit sehr viel Aufwand hingearbeitet habe. Die Kunst spielt – ich möchte, mit Blick auf alles bisher hier Niedergeschriebene, fast sagen: zu meinem Glück – die zweite Geige. Was natürlich zur romantisierten Vorstellung von Kunst-Ausübung nicht gut dazu passt.
An dieser Stelle sei auch Virginia Woolfs’ „A room of one’s own“ nicht unerwähnt, der feministische Grundlagen-Essay, der die Notwendigkeit bestimmter ökonomischer Produktionsbedingungen für Frauen erstmals thematisierte. Oft genug zitiert, schrieb Woolf, dass eine bestimmte Grundsicherung notwendig sei, um den Kopf und die Hände für Kunst frei zu haben. Denn Teilhabe kostet nicht nur Geld, sondern vor allem auch Zeit. Man bzw. frau muss sich Kunstmachen in beiden Kategorien erstmal leisten können. Zugleich ist die Membran des Literaturbetriebs nicht sehr durchlässig, die vorgefertigten Wege zu einer Schreibkarriere führen durch recht fest geschlossene Kunst- und Kultur-Silos oder zumindest nah an Elfenbeintürmen vorbei. Man kann sich Zutritt erkaufen in Form von bestimmten Bildungswegen, gesellschaftlicher Position und eben finanzieller Luft zum Atmen und zum Durchhalten. Denn Schreiben ist ein Handwerk, keine göttliche Gabe. Lang genug geübt, können viele Menschen ein sehr solides Schreibniveau erreichen – wenn sie denn die Zeit, den Willen und das ökonomische Durchhaltevermögen dazu haben.
Aber eigentlich wurde ich ja nach meiner Position zur Gegenwartsliteratur gefragt. Stattdessen prangere ich hier die Produktionsbedingungen an und die Selbstverständlichkeit, mit welcher diese lebensunwürdigen Umstände für normal gehalten werden. Dabei ist gerade diese Frage, sind diese ganzen Umstände ganz wesentliche Posten auf der Rechnung, wie und ob man Gegenwartsliteratur überhaupt machen kann. Bei Publikumsdiskussionen kommt fast immer die Frage: „Kann man DAVON denn leben?“ Die ehrliche Antwort darauf: „Es kommt drauf an, was Sie unter Leben verstehen.“ Miete UND Essen? Kleidung inklusive Jacke? Kopierbeitrag für die Schule der Kinder?
Die eine Seite ist also der Kapitalismus, der in der Kunst Einzug hält wie überall sonst auch. Problematisch ist ebenso die verklärte, stark romantisierte Sicht auf den Literaturbetrieb und die darwinistische Sicht innerhalb, die sich immer noch schwer tut, Lebensrealitäten abseits der gutbürgerlichen sozialen Schicht und Klasse zu berücksichtigen. Nicht klassische Bildungswege, intersektionale Diskriminierungskategorien und generell Fragen von Zugehörigkeit und Teilhabe, damit tut sich der Betrieb noch immer so schwer. Warum eigentlich? Der Betrieb bleibt doch nicht zuletzt durch das Nachrücken jüngerer Generationen von Menschen, die sich eben in ganz anderen sozio-ökonomischen Lebenswelten bewegen und viel mehr an Gleichberechtigung, Demokratisierung und Teilhabe interessiert sind, lebendig. Wäre es also nicht eine gute Idee, die Position in der Gegenwartsliteratur einzunehmen, dass wir das Ganze vorwärts bewegen? Der Kunst- und Kulturbetrieb muss aufhören, ständig zu kuschen und sich selber beim Wegsterben zuzusehen durch dank der Inflation schwindende Budgets, fehlenden Modernisierungswillen, Seilschaften innerhalb des Betriebs und generellen Publikumsabgang. Da geht schon was; Let’s go!
Ich frage mich beispielsweise, warum Aufenthaltsstipendien nach wie vor so familienunfreundlich gestaltet sind; auch Schreibende haben Betreuungspflichten, die sie nicht einfach für drei Monate abstellen können, um ins Ausland oder aufs Land ziehen zu können. Es muss möglich sein, eine Familie mitzunehmen oder eine:n Partner:in, vielleicht könnte es vor Ort Betreuungsmöglichkeiten für betreuungspflichtige Kinder geben? Warum werden vergebene Stipendien nicht per Automatismus als Pensionszeiten angerechnet? Warum spießt sich so viel am Alter von 35 Jahren – brauchen Künstler:innen jenseits der 40 keine Unterstützung mehr? Weil sie dann schon längst aufgegeben haben? Warum berappen Menschen, die qua Diversität von Kunst- und Kulturarbeit seit jeher mehrere Beschäftigungsverhältnisse mischen MÜSSEN, mehrfach die Sozialversicherung in Österreich, obwohl sie selbstverständlich nur von einer eine Leistung beziehen? Warum wird das Kunst- und Kulturfördergeld nicht automatisch inflationsangepasst? In manchen Institutionen liest man seit 15 Jahren für das gleiche Geld, wie kann das sein, wo die Butter heute das Dreifache kostet? Warum wird viel Geld in Werbung und Agenturen investiert, die jene Kulturevents abwickeln, welche Schreibende seit jeher selbst geschupft und auf die Beine gestellt haben? Warum müssen alle weiterhin kuschen, weil man immer noch Angst haben muss, bei jeder noch so kleinen Widerrede gleich als z’widere Unruhestifter:innen bekannt zu werden? Warum werden seit vielen Jahren dieselben Personen in Komitees und Jurys berufen, wie fördert das Diversität und Vielfalt? Ich denke an die vielen Jurys, in welchen ich selbst bereits Platz nehmen durfte. Bei einem renommierten Lesewettbewerb war ich in der fünfköpfigen Jury die einzige Person unter 50. Bei einem Stadt-Stipendium war ich mehrere Jahre in Folge die einzige Frau in der Jury. Welche Realität repräsentiert das? Warum wird Literatur immer mehr aus dem Unterricht wegrationalisiert und nach wie vor in Form von historischen Texten unterrichtet, die fern dieses Jahrtausends sind? Es heißt immer, die Jugend käme nicht zum Lesen und verdirbt dadurch, aber wo und wie machen wir uns die Mühe, die zeitgenössische Literatur zu den Kids zu bringen? Literatur, die für sie „relatable“ und verständlich ist?
Jedenfalls, ich habe Fragen und wenige Antworten.
Gerade in einem Land, welches Heimat großer Töchter und Söhne ist, bewohnt von einem Volk, begnadet für das Schöne, braucht es echtes Commitment, das mit der Kunst und der Kultur wirklich ernst zu nehmen. Und ich meine damit nicht die Autorinnen und Autoren, sondern alle. Österreich hat eine unfassbar großartige und lebendige Literaturszene, auch historisch betrachtet können wir auf beeindruckende Werke und Persönlichkeiten zurückblicken. Nicht umsonst haben wir es zu zwei Literaturnobelpreisen gebracht – für ein kleines Land beachtlich. Ich sage absichtlich wir, denn auch das Kollektive hat einen Anteil am Persönlichen. Ich denke, wir können noch viel mehr. Es reicht jetzt mit dem Narrativ, dass jede/r die Literaturbetriebswildnis auf ewig und drei Tage vor sich her tragen muss. Das Individuum kann systemische Probleme nicht lösen. Ich habe auch genug, dass die Literatur irgendwie abseits der Öffentlichkeit und zunehmend auch abseits der Schulen stattfindet. Ich habe offene Fragen, auf die es meiner Ansicht nach keine schweren Antworten geben kann. Hausverstand und Fairness. Die Berücksichtigung eines modernen Schrifsteller:innenbildes; die Zeiten des weltfremden und einsamen Genies mit reichem Mäzen sind vorbei, falls es sie jemals gab. Es braucht mehr als guten Willen, denn den haben die Schreibenden immer schon gehabt – und wir sind erschöpft von der Gegenwart, wie sie ist.
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