Das amortisiert sich nicht

Von Daniela Seel

Online seit: 29. August 2020

Manchmal hätte ich gern ein Geländer, an dem ich mich entlangtasten kann, das meinen Bewegungen eine Achse gibt. Wenn ich es in meiner Tasche wüsste, müsste ich vielleicht nicht einmal danach greifen und es nach drei oder mehr Dimensionen auswerfen; es orientierte mich einfach, indem es begleitet. Ein solches tragbares, adaptionsfähiges Geländer ist mir bisher nur in der Vorstellung begegnet, wohl aber kenne ich Gedichte, die ähnlich eigensinnige Instrumente sind.

„das amortisiert sich nicht, u70, alle zeit der welt“ beginnt ein Gedicht von Tristan Marquardt. Ich finde es im Internet, auf dem Blog der Lyrikgruppe G13. Hier werden Texte eingestellt, die noch keine endgültige Form behaupten, wie es Gedichte in Büchern meist tun, sondern die kommentiert, diskutiert, geteilt werden wollen, um sich davon verändern zu lassen, vielleicht im Sinne von wachsen. Im Moment davor, gerade noch nicht fertig zu sein, beweglich zu bleiben, abenteuerbereit. Ich hier mit meiner Sprache, du da mit deiner Sprache, zwischen uns ein Gedicht. Es filtert, übersetzt, vertauscht, mischt. Aber was beim Lesen eintrifft, „das amortisiert sich nicht“.

„Alles in die Verwertung“, ruft in meinem Kopf prompt Veronika aus Monika Rincks Ah, das Love-Ding!, und schon sind wir mitten drin im Gespräch. Wohin jetzt bitte mit dem ökonomischen Tilgungssatz, demzufolge Aufwendungen gefälligst durch Erträge gedeckt werden sollen? Weggesteckt, oder können wir das noch brauchen, und wenn ja, wofür?

Mir gefällt es, Gedichte als Gegenstände zu denken, die sich nicht aufrechnen lassen. An denen nichts gleich wird, während viele Verbindungen entstehen. Oder Bindungen gelockert werden. Nimm du die Waage, gib mir die Wippe. Ich tippe. Gedichte sind so sehr Sprache, dass etwas, mit dem ich alltäglich Umgang habe, mich ganz unvertraut anschauen kann. In Irritation verstrickt durch sprachlichen Übergriff. Erkenntnisblitz. Existenzielles Moment. Vielleicht sind nur zwei Worte kollidiert, wie es mir nie zuvor begegnet ist, oder nicht bewusst, doch plötzlich kann ich eine Verbindung denken, die ich allein nicht gesehen habe.

Schon heute findet ein beträchtlicher Teil der literarischen Textproduktion, -rezeption und -distribution nicht im System Literaturbetrieb, sondern im System Kunstmarkt und dessen Sprache IAE (International Art English) statt.

Wenn Sprache das Medium ist, in dem menschliche Erkenntnis „fassbar“ wird, dann sind Gedichte Gegenstände, die mir in besonderer Weise verstehen helfen, wie das funktioniert, Sprache, Denken, mein Denken, das einer andern, Zugespieltes. Ein Autor, ein Text, ein Leser. Etliche Kontexte. Gepäck. Wahrnehmung, Vorstellung, Erwartung, Erfahrung und all die Konventionalisierungen, durch die hindurch Verstehen