Die Erfindung des Countdowns

Aus dem neuen Roman von Daniel Mellem. (Das Buch erscheint am 15. September bei dtv).

Online seit: 1. September 2020
Daniel Mellem © Bogenberger Autorenfotos
Daniel Mellem. Foto: Bogenberger Autorenfotos

Der Schäßburger Sommer des Jahres 1899 war heiß wie immer. In den Häusern staute sich die Hitze, auf den Uferwiesen der Kokel verbrannte das Gras, und wenn man vom Siechhofberg durch die flimmernde Luft hinunter auf die kleine siebenbürgische Stadt schaute, dann wirkte die mittelalterliche Burg mit Stundturm, Klosterkirche und Bergschule wie eine Erscheinung aus einer längst vergangenen Zeit.

Auf dem Siechhofberg, zwischen Eichenbäumen, streckte Hermann seinen Arm in die Ferne. Ein Hirschkäfer lief seine Hand entlang und erklomm langsam seinen Zeigefinger. Hermann betrachtete den fetten, rotbraunen Rumpf, die langen, schwarzen Beine und das Geweih, das beinahe so lang war wie der Körper selbst. Er hielt den Finger in die Höhe. Dieses plumpe Tier konnte unmöglich fliegen, und doch öffnete der Käfer jetzt seine Flügel. Hermann sah ihm nachdenklich nach, wie er langsam in das Tal hinabglitt.

„Lass uns baden gehen“, riss sein kleiner Bruder Adolf ihn aus seinen Gedanken. Hermann wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute hinunter zur Kokel, die in der Mittagssonne glitzerte. Warum nicht? „Wer zuerst unten ist“, sagte er und ging gleich in die Hocke. Adolf machte es ihm etwas ungelenk nach.

„Eins …“, sagte Hermann. Sie schauten einander herausfordernd an, Adolf stand vor Aufregung der Mund offen.

„Zwei …“ Hermann ging noch ein Stück tiefer in die Hocke, um sich maximal in den Sprint hineindrücken zu können.“

„Drei!“ Damit rannte er los. Sofort war er vorneweg, ließ seinen kleinen Bruder hinter sich, er rannte über den feuchten Waldboden, zwischen den Bäumen hindurch hinüber zum Lehmpfad, der den Berg hinunterführte. Der Pfad war von der Sonne aufgeheizt worden und brannte unter den Füßen, und so lief Hermann schneller und schneller hinunter in Richtung Uferwiesen, er stolperte, verlor fast den Halt, dann fing er sich und war erleichtert, als der Boden endlich wieder flacher wurde. Unten angekommen grub er seine Zehen in den kühlen Flussschlamm und schaute zurück zu seinem Bruder. Noch lief Adolf auf wackligen Beinen, dann fiel er hin und rutschte bäuchlings die Böschung zum Fluss hinunter. Heulend hielt er sich die blutenden Knie. Sofort war Hermann bei ihm und half ihm aufzustehen. „Das wird schon wieder.“ Er zog seinen Bruder in die Kokel und wusch die Schrammen aus. Adolf wimmerte, dann zeigte er auf etwas hinter ihnen.

Ein paar Meter entfernt lag halb im Wasser ein großer Büffel, der in der Sonne döste. Das schwarze Fell glänzte, der nasse Schwanz schlug nach ein paar Schnaken aus. Hermann betrachtete ihn, überlegte. Dann bückte er sich, nahm etwas Uferschlamm und warf nach dem Tier. Er verfehlte es knapp, das Wasser spritzte. Der Büffel hob den Kopf. Unter dem Fell zuckten die Muskeln, dann stemmten vier dünne Beine den Körper langsam in die Höhe. Hermann klatschte ein paarmal in die Hände, bis der Büffel ihn endlich ansah. Langsam, ein Schritt nach dem anderen, ging er näher heran, bis er den Atem des Tieres im Gesicht spüren konnte. Er beugte sich noch ein Stück vor, um in die dunklen Augen des Büffels zu schauen, zwei Murmeln, die geheimnisvoll in der Sonne glitzerten. „Hermann, komm!“, rief Adolf hinter ihm. Hermann schüttelte den Kopf. Vorsichtig griff er mit Zeigefinger und Daumen nach einer der beiden Murmeln. Der Büffel brüllte, taumelte zurück. Dann senkte er auf einmal die Hörner.

* * *

Durch die Rundbogenfenster fiel Licht herein, an den Wänden schimmerten weiße Kacheln. Die Helligkeit des Krankenzimmers blendete Hermann, er kniff die Augen zusammen. Der Brustkorb schmerzte so sehr, dass er kaum atmen konnte. Langsam kam die Erinnerung zurück. Er sah die zu Halbmonden gebogenen Hörner des Büffels vor sich, dann den riesigen Kopf, der zustieß. Er schämte sich. Er hatte sich in Gefahr gebracht und, was noch viel schlimmer war, er hatte seinen kleinen Bruder in Gefahr gebracht. Hoffentlich war Adolf nichts passiert. Er zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Mühsam drehte er sich auf die andere Seite. Er atmete auf. Auf dem Bett neben der Tür saß sein Bruder und ließ die Beine baumeln. „Du glaubst nicht, wie wütend Vater war.“

Es war eine Strafe, dass ausgerechnet der Vater Direktor des Spitals war. In den folgenden Tagen traute Hermann sich in seinem Krankenbett kaum zu atmen. Nicht nur, weil die gebrochene Rippe so wehtat, wichtig war vor allem, so leise wie möglich zu sein und bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Tür zum Krankenzimmer stand den ganzen Tag offen, er konnte sehen, wie der Vater, Vollbart und kurz geschorene Haare, die Treppen hinauf- und wieder hinuntereilte und die Flure entlanghetzte. Hermann war jedes Mal erleichtert, wenn der Vater nicht bei ihm im Türrahmen stehen blieb und ihn mit schmalen Augen anblitzte, bevor er weiterhastete. Hermann war sich sicher, das Einzige, was den Vater davon abhielt, von morgens bis abends mit bösem Blick bei ihm im Zimmer zu stehen, war sein ewiges Pflichtgefühl. Von nichts redete der Vater häufiger als von seiner Pflicht. Achtzehn Stunden am Tag arbeitete er, selbst nachts stand er auf und ging vom Wohnhaus, wo sie mit einer anderen Arztfamilie lebten, nebenan ins Spital, um nach seinen Patienten zu sehen. Alle in Schäßburg bewunderten den Vater. Es hieß, er mache keinen Unterschied, ob einer arm sei oder reich, und könne jemand die Behandlung nicht bezahlen, dann übernehme er die Kosten selbst. Aus ganz Siebenbürgen kamen Patienten nach Schäßburg, sogar aus Budapest und Wien, um sich mit der neuartigen Strahlenmaschine, die der Vater angeschafft hatte, untersuchen zu lassen. Einmal hatte er einen ungarischen Bauern von seiner Taubheit befreit und der hatte ihn daraufhin einen Gott genannt. Der Vater hatte abgewunken. Es sei doch nur eine einfache Spülung gewesen.

So wohlmeinend der Vater mit seinen Patienten war, so hart war er gegen sich selbst. Vor einigen Monaten hatte er an einem Tag unter heftigen Bauchschmerzen gelitten. Gleich mehrmals war er aus dem Spital zu ihnen ins Haus gekommen und war lange auf der Toilette verschwunden. In der Nacht hatte Hermann ein seltsames Gestöhne aus dem elterlichen Schlafzimmer gehört und hatte sich in den Flur geschlichen. Durch den Türspalt konnte er sehen, wie der Vater seinen nackten Bauch abtastete und die Mutter bat, ihm seine Arzttasche zu bringen. Besorgt sah sie ihn an. Er solle sich doch lieber im Spital behandeln lassen, wozu sonst stecke er ihr ganzes Erspartes dort hinein? Doch der Vater schüttelte den Kopf und wie immer, wenn er auf etwas bestand, gab die Mutter nach. Sie holte die Tasche, der Vater zog sich eine Spritze auf und setzte sie sich in die Seite. Dann befahl er der Mutter, sich mit der Öllampe neben das Bett zu setzen und einen Spiegel in der Beuge zwischen Oberschenkel und Leiste zu platzieren. Sie tat wie geheißen, doch wandte ihr blasses Gesicht ab und starrte zu Boden. Plötzlich stach sich der Vater mit einem Skalpell mitten in den Bauch. Hermann musste einen Schrei unterdrücken, als er sah, wie fürchterlich es blutete. Der Vater wies die Mutter an, das Blut wegzuwischen und die Wunde so weit aufzuziehen, dass er ganz hineinsehen konnte. Hermann merkte, dass auf einmal sein kleiner Bruder neben ihm stand. Adolf wollte auch in das Zimmer der Eltern hineinschauen, aber Hermann drängte ihn zurück und hielt ihm die Hand vor die Augen. Der Vater steckte sich ächzend eine Schere in die offene Wunde, öffnete und schloss sie wieder. Dann holte er mit einer Hand etwas aus der Wunde heraus, das wie eine blutige Wurst aussah. Er warf sie neben das Bett und ließ sich von der Mutter Nadel und Bindfaden reichen. Hermann wurde übel, aber er konnte den Blick einfach nicht abwenden. Erst nachdem der Vater sich den Bauch wieder zugenäht hatte, hatte Hermann seinen Bruder an der Hand genommen und war mit ihm zurück ins Bett geschlichen.

Jetzt lag Hermann im Krankenzimmer und er war sich sicher, ohne den Verband um seinen Brustkorb hätte es längst eine Tracht Prügel gegeben. Am ersten Abend im Spital hatte der Vater ihn angebrüllt. „Was erlaubst du dir, einen Büffel zu reizen! Wie kannst du es wagen, mir mit solchen Dummheiten die Zeit zu stehlen!“

Sogar die Mutter hatte den Kopf geschüttelt. Dabei hatte sie Hermann sonst immer zur Seite gestanden. Im vergangenen Winter zum Beispiel, als er heimlich zum Bahnhof gelaufen war. Dort war er, während der Lokomotivführer auf dem Bahnsteig stand und seine Pfeife rauchte, in das Führerhaus der Wusch gestiegen. Die kleine Schmalspurbahn verband seit zwei Jahren Schäßburg mit Agnetheln und Hermann liebte es, wenn sie am Marktplatz vorbeifuhr und die Dampfglocke pfiff. Im Führerhaus hatte er vor den vielen Skalen der Manometer gestanden und vor den zahllosen Schläuchen, Drehverschlüssen und Hebeln, und hatte sich gefragt, was sie wohl bedeuteten und was sich mit ihnen anstellen ließ. Er hatte angefangen, daran herumzuspielen und plötzlich hatte es gezischt und es hatte gefaucht, der Zugführer war herbeigestürmt, hatte ihn herausgezerrt und ihm eine ordentliche Ohrfeige verpasst. Auch der Vater hatte später sehr geschimpft, nur die Mutter war nicht böse gewesen. Still, aus ihrem weichen, melancholischen Gesicht hatte sie ihn angesehen und ihm über den Kopf gestrichen, als er ihr von dem aufregenden Führerstand erzählte.

Doch bei dem Vorfall mit dem Büffel hatte auch sie verständnislos geschaut. „Was ist nur in dich gefahren?“ Hermann hatte geschwiegen. Er wusste es nicht.

* * *

Einen Monat nachdem er wieder genesen war, weckte ihn die Mutter kurz nach Sonnenaufgang. Zusammen mit Adolf verließen sie das Arzthaus. Der Morgen war düster. Im Garten hämmerte der ungarische Spitaldiener schweigend auf einem Stück Holz herum, auf der Straße schoben sich Ochsenkarren und Pferdewagen langsam durch den Nebel aus Schäßburg hinaus. Hermann lief mit seiner Mutter und seinem Bruder durch die kleine Stadt, sie stiegen die schmalen Stufen zur Burg hinauf, kamen an der Klosterkirche vorbei, am Marktplatz, schließlich am Stundturm. Der große Kasten neben dem Ziffernblatt, aus dem zur vollen Stunde an jedem Wochentag ein anderes Männchen mit wilder Fratze heraussprang, machte Hermann immer noch Angst. Schnell lief er weiter, als der zornige Soldat seinen Speer präsentierte.

Die meisten anderen Jungen hatten sich schon vor Lehrer Both aufgestellt. Sie standen dort mit geschwellter Brust, viele waren größer als er und fast alle waren sie laut. Manche schubsten, um ganz vorne zu stehen, einer zog einem anderen so fest an den Haaren, dass der anfing zu weinen. Die Mutter ließ Hermanns Hand los und gab ihm einen Klaps. Dann stellte sie sich zu den anderen Müttern und nahm Adolf auf den Arm. Das hatte sie lange nicht getan. Der Sommer war vorüber.

* * *

Warum ging in der Elementarschule alles so langsam zu? Die sonst so lauten Jungen verrenkten unter den Pulten ihre Finger, wenn es bloß darum ging, zwei Zahlen zusammenzuzählen. Und wenn das Ergebnis größer war als zehn, dann musste man befürchten, dass sie sich die Finger verknoteten. Hermann verstand nicht, warum Lehrer Both Rücksicht auf diese Jungen nahm. Erst fragte Both den langen Erwin, der ganz hinten saß, wie viel zwei plus zwei ergebe. Erwin spreizte Zeigefinger und Mittelfinger an beiden Händen und antwortete »Vier«. Dann stellte der Lehrer dem Jungen daneben genau die gleiche Frage noch einmal. So wanderte er durch die Reihen nach vorne, bis er schließlich bei Hermann ankam. »Vier, das musst du doch jetzt eigentlich wissen«, antwortete er. Lehrer Both machte große Augen, griff zum Zeigestock und ließ ihn auf Hermanns Hand niedersausen. Die Finger liefen blau an und taten den Rest des Tages so weh, dass er sie kaum bewegen konnte. Aber immerhin brauchte er sie nicht zum Rechnen.

* * *

Hermann war froh, wenn die Schule vorüber war und er seine Nachmittage im großen Garten des Arzthauses verbringen konnte. Kein Lehrer, der ihm befahl, etwas zu lernen, das er längst wusste. Er schlug mit Feuersteinen Funken, baute aus Pappe eine Sonnenuhr, fing mit einem alten Fischernetz am duftenden Flieder Schwalbenschwänze und Admirale. Bei ihm war immer nur sein kleiner Bruder, der staunte, was er so trieb.

Beim Abendbrot erzählte Adolf von ihren Abenteuern und tat dabei so, als seien Hermanns Ideen seine eigenen gewesen. Hermann schimpfte darüber und versuchte, die Dinge richtigzustellen, sie so zu erzählen, wie sie sich eigentlich zugetragen hatten. Doch aus seinem Mund klang alles seltsam schal, weniger aufregend als bei Adolf, und dann wurde er rot, warf die Hände in die Luft und schrie, versuchte mit Lautstärke auszugleichen, was mit Worten nicht gelang. Die Mutter hielt ihn fest. „Ruhig, Hermann. Wir wissen doch, wie es war.“

Nach dem Essen nahm sie ihn mit auf den Dachboden. Hier bewahrte sie in einer Eichentruhe die Gedichte von Großvater Friedrich auf. Zusammen saßen sie neben der offenen Truhe und die Mutter erzählte vom Großvater. Friedrich Krasser war ein Arzt und berühmter Dichter gewesen, der den Klerus abgelehnt und an die Lehren Darwins geglaubt hatte. Seine Freunde hatten ihn den Reformator genannt und in seiner Studienzeit in Wien hatte er Arbeiterfamilien behandelt, die an Typhus litten und in Kellerlöchern hausten. Danach war er sein Leben lang für die Rechte der Ausgebeuteten eingetreten.

Die Mutter las das Gedicht Tabula Rasa vor, mit dem der Großvater im Jahr 1869 für großen Aufruhr im Kaiserreich gesorgt hatte. Hermann fand das Gedicht recht öde, es schien darin nur ums Schlafen zu gehen. Es hieß, jeden Tag gehe im Osten die Sonne auf, doch die Strahlen würden nicht über die Karpaten hinwegreichen und so bleibe es im Abendland dunkel und die Menschen lägen dort weiterhin im Schlummer. Der Ärger über das Gedicht war groß gewesen und Hermann war überzeugt, die Leute waren empört, dass es so langweilig war. Gegen den Großvater wurde ein Prozess eröffnet. Der schrieb daraufhin den Aufsatz Die moderne Inquisition. Das erzürnte die Mächtigen nur noch mehr und schon bald darauf wurde er in Graz verurteilt. Für zwei Jahre sollte er ins Gefängnis. Aber die Menschen in Siebenbürgen waren dem Großvater dankbar für seinen Einsatz für die erste Arbeiterkrankenkasse in Hermannstadt und so schrieben Freunde aus hohen Kreisen Suppliken an den Kaiser Franz Joseph und es dauerte nicht lange und der Kaiser erließ Amnestie. Und der Großvater, der eigentlich nichts übrighatte für die Stände und den Adel, nannte Hermanns Mutter bei ihrer Geburt, ganz wie der Kaiser seine Tochter, Valerie.

„Du bist auch ein Krasser“, sagte die Mutter lächelnd und Hermann konnte dabei Stolz in ihrem Gesicht erkennen.

Fortan fiel es ihm etwas leichter, Adolf bei Tisch über seine Abenteuer reden zu lassen.

* * *

Im Herbst aber geschah etwas Seltsames. Adolf klaute auf einmal nicht mehr seine Abenteuer, sondern die von Walli, dem Sohn des Spitaldieners. Auch die Nachbarskinder bewunderten ihn, denn Walli schaffte es, den Ball vom Apfelbaum bis zu den Geläufen der Pferde zu werfen, er hatte den langen Erwin im Armdrücken besiegt und neulich war es ihm sogar gelungen, eine Ratte zu fangen. Hermann verstand die Aufregung nicht. Walli hatte die Falle nicht selbst gebaut und noch dazu klemmte das Tier tot unter dem Metallbügel und war bloß noch Futter für die Katzen.

Bald schon leuchteten im Apfelbaum die Früchte rot und die Väter der Nachbarskinder kündigten an, sie am Wochenende zu ernten. Das Warten war kaum auszuhalten und so standen die Kinder zusammen unter dem Baum und sahen sehnsüchtig hinauf. Adolf rief nach der Mutter, die gerade Wäsche von der Leine nahm. Die schüttelte den Kopf und meinte, ein paar Tage müssten sie sich noch gedulden.

Walli wollte sich nicht gedulden. Er nahm Anlauf und probierte, mit einem Sprung einen Ast zu greifen. Er kam nicht heran, versuchte es erneut, verfehlte den Ast auch diesmal. Er neigte den Kopf, trat an den Baum heran, umarmte den Stamm und legte beide Füße auf die Rinde. Langsam schob er sich in dieser Haltung den Stamm hinauf. Obwohl kühler Wind von der Kokel heraufwehte, schwitzte Walli, Hermann konnte sehen, wie sehr er sich anstrengte. Schließlich aber griff Walli den Ast, den er mit seinen Sprüngen verfehlt hatte, und zog sich daran in die Baumkrone. Er pflückte ein paar Äpfel und ließ sie auf den Boden fallen. Die anderen Kinder jubelten und selbst die Mutter applaudierte. Adolf nahm einen Apfel und biss herzhaft hinein.

Hermann ging zum Baum und wollte es Walli nachmachen. Er rutschte mit den Sohlen auf der Rinde herum und fragte sich, wie Walli das nur geschafft hatte. Endlich hing er am Baum, Arme und Beine um den Stamm geschlungen. Er hörte die anderen hinter sich kichern. Seine Beine zitterten. Er versuchte, sich am Stamm hochzuziehen, doch verlor den Halt und fiel auf den Hintern. Mit rotem Kopf stand er auf, wütend und beschämt, die anderen lachten ihn aus, Wallis kleiner Bruder Gyula hielt sich den Bauch. Hermann wurde schwarz vor Augen. Er sprang auf Gyula zu und verpasste ihm mit der harten Spitze seines Lederschuhs einen heftigen Tritt gegen das Schienbein. Gyula fing an zu weinen und Hermann rannte davon, so schnell er konnte. Niemand sollte sehen, dass auch er weinte.

Am Abend lag er lange wach. Als der Vater nach Hause kam, war es draußen längst dunkel geworden. Die Dielen quietschten, als der Vater den Flur entlangkam und in das Schlafzimmer nebenan ging. Hermann lauschte an der Wand, ob die Eltern sich unterhielten. Er hörte nur ein unverständliches Murmeln der Mutter. Plötzlich wurde die Tür zum Kinderzimmer so heftig aufgerissen, dass sie gegen die Wand schlug. Der Vater stürmte herein, hinter ihm die Mutter, eine Öllampe in der Hand, sodass der Vater einen weiten Schatten in den Raum warf. Adolf schreckte aus dem Schlaf und fing an zu weinen. Der Vater riss Hermann aus dem Bett und drohte mit dem Gürtel, aber die Mutter flehte und so blieb es bei der Hand. Schon nach dem vierten Schlag ließ der Vater wieder von Hermann ab. „Wie kannst du Menschen bloß so grundlos wehtun“, sagte er leise. „Das tut man nur, wenn man ihnen helfen will.“

* * *

Ewigkeiten noch lag Hermann wach und spürte seinen schmerzenden Hintern, als die Tür sich plötzlich wieder öffnete. Sofort setzte er sich auf. Der Vater schaute herein. „Komm mal mit.“ Hermann klopfte das Herz, doch er schlüpfte in seine Pantoffeln und schlich am schlafenden Adolf vorbei aus dem Zimmer.

Der Flur war kühl und in silbriges Licht getaucht. Durch das offene Fenster schien der Vollmond herein. Davor war auf einem Stativ ein Fernrohr aufgebaut. Der Vater führte Hermann heran. „Mein Teleskop“, sagte er. „Manchmal, wenn ich im Spital sehr viel Ärger habe, schaue ich mir abends den Himmel an.“ Er richtete das Teleskop aus und forderte Hermann auf hindurchzusehen. Hermann drückte sein Auge gegen das Okular. Kurz erschrak er. Der Mond war plötzlich so riesig, dass er das gesamte Blickfeld ausfüllte. Helle und dunkle Landschaften erstreckten sich über die Oberfläche, Meere und Gebirge, gleißend helle Hochebenen und weite Schatten, dazu überall Krater. Eine fremde Welt. Hermann versuchte, das Teleskop zu schwenken, doch er zog zu heftig am Rohr und der Mond verschwand. Übrig blieb tiefe Schwärze. Der Vater half, das Teleskop wieder auszurichten. Hermann sah auf die geheimnisvollen Landschaften. Wenn schon ein Fernrohr so viel Neues zeigen konnte – was mochte man alles finden, wenn man selbst dort war? Er starrte hinauf, traute sich nicht mehr, das Teleskop zu bewegen, er wollte das Bild nicht wieder verlieren. Schließlich zog der Vater ihn zurück. „Es ist genug für heute.“

Hermann schaute aus dem Fenster in den Nachthimmel, wo der Mond nun wieder nur als leuchtende Scheibe erschien. „Kann man da hinfahren?“, fragte er.

„Wenn man will, dann kann man alles“, sagte der Vater. „Aber für einen Arzt gibt es dort oben nichts zu tun.“

* * *

Beim Schilf unten im Garten lag schon seit Ewigkeiten ein altes Ruderboot. Es war an einem morschen Holzpflock vertäut, und selbst der alte Schmied, der sonst immer Bescheid wusste, hatte keine Ahnung, wem das Boot gehörte. An einigen Stellen waren Planken herausgebrochen und man konnte das Gerippe sehen. Hermann zog sich gern in das Boot zurück, es war wunderbar ruhig hier, man hörte die anderen Kinder im Garten kaum. Ein paarmal war er in Gedanken versunken aufgeschreckt, wenn Adolf plötzlich aufgetaucht war, doch er hatte seinen Bruder immer wieder fortgeschickt und inzwischen hatte er den Ort ganz für sich.

An diesem Nachmittag pendelte er mit dem Oberkörper hin und her, er wollte das Boot zum Schaukeln bringen. Währenddessen kaute er auf dem stumpfen Ende seines Bleistifts herum. Da trat jemand ans Ufer und er sah auf. Die Mutter stand dort und lächelte. „Ach, hier bist du also.“ Sie bückte sich, zog die Schuhe aus und kam durchs flache Wasser zum Boot gewatet. „Was malst du denn Schönes?“ Sie zeigte auf die Zettel in seinem Schoß. Er gab sie ihr und sie durchblätterte sie vorsichtig. „Was ist das? Die Klosterkirche?“ Hermann schüttelte heftig den Kopf. Er versuchte, ihr die Blitzfabrik zu erklären. Gestern Abend, als es heftig gewittert hatte und er nicht durch das Teleskop schauen konnte, war ihm die Idee dazu gekommen. Gewaltig und grell waren die Blitze durch die Dunkelheit gezuckt, es brauchte etwas, das ihre Kraft einsammeln konnte.

Die Mutter nickte, aber er merkte, sie verstand ihn nicht richtig. Enttäuscht nahm er die Zeichnungen wieder an sich. Sie strich ihm übers Haar, dann stand sie auf und stieg langsam wieder die Böschung hinauf. Hermann sah ihr nach. Das Boot schaukelte noch eine Weile hin und her, nachdem sie aufgestanden war. Dann nahm er sich ein neues Blatt und machte sich an die nächste Zeichnung.

© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Das Buch erscheint am 15. September. 

Daniel Mellem geboren 1987, lebt in Hamburg. Er promovierte in Physik und absolvierte anschließend ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Die Erfindung des Countdowns ist sein erster Roman. Er wurde dafür mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur und dem Hamburger Literaturförderpreis ausgezeichnet.

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns
Roman. dtv, München 2020
288 Seiten, € 23 (D) / € 23,70 (A)