Cornell

Aus dem Tagebuch von Clemens J. Setz.
Meine Mutter erzählte mir am Telefon von Schwestern auf der Wachkomastation, die die Patienten verkleiden. „Ist er nicht süß“, sagen sie dann.

Online seit: 10. September

21. April
Am Friedhof „Pleasant Grove“ die wunderschön geschnitzte Sitzbank. Dazu allerdings heftiger Stuhlgang, ich suche in wachsender Panik nach einer Toilette. Ein Friseursalon in der Nähe hat Mitleid mit mir, dem zerzausten Europäer. „Tourist, huh?“ – „No, I teach at Cornell.“ Ungläubiges, aber nachsichtiges Lächeln. Ich trage unter meinem Sakko ein T-Shirt mit einem stattlichen Blässhuhn drauf.

Zurück am Friedhof. Erst, als ich die Bank von vorhin wiedersehe, erkenne ich, dass das, was ich sonst für lauter ähnlich gebaute Sitzbänke hielt, in Wahrheit nur in dieser Form gebaute Gräber waren. Rings um meine Bank liegen helle Holzspäne, als wäre sie gerade erst am Vortag geschnitzt worden.

Neben dem Friedhof ein „Leave one book, take one book“-Kasten. Ich entnehme eine alte Ausgabe von The First Circle von Solschenizyn. Zurück lasse ich einen Zettel, auf den ich ein Gedicht schreibe:

I come from Austria,
said this poem.
Okay, said the wind,
now please go hoem.

* * *

Am Nachmittag beim Ornithological Lab der Cornell University, einer kleinen, im Wald versteckten Vogelwarte. Ich ging zu Fuß hin, durch grün-vergnügte Wiesen, auf denen Pestizid-Warnschilder standen. Jedes Element im Ornithological Lab erinnert an einen finanziellen Wohltäter der Einrichtung, dem mit silberner Namensplakette gedacht wird. Teilweise sind auch kleine Bilder darauf, wie auf Grabsteinen, sie zeigen lächelnde alte Männer.

Auf der Lehne einer Sitzbank stand eingekratzt das Wort FISTING und ich las es, gedankenverloren, als STIFTING und fühlte Heimweh.

Man kann hier auf Stühlen sitzen und durch hohe Fenster auf einen Teich blicken. Angeblich wimmelt es draußen von Vögeln. Sehen tu ich allerdings keine. Ich sitze lange da und warte. An den Bewegungen meiner Mitmenschen könnte man ablesen, dass draußen in der Tat hunderte Vögel zu sehen sind.

Ich putze meine Brille.

Nun treiben ein paar Gänse vorüber und mein Herz schlägt. Meine Sitznachbarn haben alle ihre Binokulare in der Hand. Eine Frau „trinkt“ versehentlich aus ihrem Fernglas. Ein Blaureiher fliegt hoch am Himmel, aber niemand sieht ihn. „Wie im Vernehmungszimmer der Natur“ sitzt man