Meine erste Falafel

Von Clemens Berger. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 103

Online seit: 3. Februar 2023
Clemens Berger © Katharina Susewind
Clemens Berger. Foto: Katharina Susewind

An meinem achtzehnten Geburtstag erwachte ich in Jerusalem. Als ich die Treppe eines Hotels hinunterkam, standen junge Menschen aus allen Ländern der damaligen Europäischen Union da und gratulierten mir. Sie sangen ein Ständchen, ich bekam ein weißes T-Shirt, auf dem Hard Rock Peace in the Middle East stand. Darauf waren drei Kamele zu sehen, auf denen drei Männer in unterschiedlichen Trachten saßen, an ihren Hälsen hingen Ketten, ein Davidstern, ein Kreuz, ein Halbmond. Ich war spät dran, der Bus wartete bereits, das Frühstück hatte ich verschlafen, aber das machte nichts. Ich war Veganer, für mich gab es meistens nicht viel, was schon beim ersten Abendessen in Straßburg aufgefallen war, ich war ein seltener und seltsamer Fall, das gefiel mir.

In einem Bus fuhren wir ans Tote Meer. Wie im Schulbus saß ich ganz hinten und ahmte bisweilen unseren Reisebegleiter nach, der Johnny hieß und seine Betrachtungen mit In my humble opinion, and I’m not humble at all … einzuleiten pflegte. Der 20. Mai 1997 war warm und sonnig, das Meer lag spiegelglatt vor uns. Es war, wie ich es aus Erzählungen kannte, und doch unglaublich: Man konnte nicht untergehen, selbst wenn ich nach unten tauchen wollte, war da eine Kraft, die mich wieder nach oben zog. Man konnte tatsächlich einfach auf dem Wasser treiben, Zeitung hatte ich keine dabei, jede kleine offene Wunde brannte, und man konnte, besonders wenn man zum Tagträumen neigte, tatsächlich im Wasser einschlafen.

Als ich erwachte, war niemand von meiner Gruppe zu sehen, dafür sah ich israelische Soldatinnen über eine Böschung kommen, die Uniformen ausziehen und in Bikinis lachend ins Wasser laufen. Sie gefielen mir außerordentlich gut, obwohl für mich natürlich feststand, niemals zum Militär zu gehen, auch wenn ich vor kurzem als fliegertauglich eingestuft worden war. Bei der Musterung in Graz hatte mir der Berater für den Zivildienst diesen in etwa mit denselben Argumenten auszureden versucht, die meine Freunde bei unseren immer häufiger werdenden Streitgesprächen gegen mich ins Treffen führten, Argumente, die sie von ihren Vätern und Großvätern hatten — ob ich auch dann keine Waffe zur Hand nehmen würde, wenn unser Land angegriffen, meine Mutter oder Schwester oder Freundin von einem fremden Soldaten drangsaliert würde, dergleichen. Ich war als Erster ins Bett gegangen, während die anderen jungen Männer aus meiner Kleinstadt auf eine Sauftour und ins Bordell gingen. Am nächsten Morgen war ich absichtlich länger unter der Dusche geblieben, und zwar so lange, bis ein Offizier kam, um mich anzuherrschen, es sei längst Frühstück, ich lächelte nur und trödelte demonstrativ weiter, ich war ja kein Gefangener. Den Zivildienst würde ich nie antreten, aber das wusste ich an meinem achtzehnten Geburtstag noch nicht. Die Soldatinnen sahen sehr sportlich aus, athletisch, gebräunte Körper, älter und bestimmt erfahrener als ich, sie waren laut und ausgelassen, ich ließ mich noch etwas treiben und die jungen Frauen, die mir trotzdem unerreichbar entfernt schienen, nicht aus dem Auge.

Ein paar Tage zuvor war ich in den See Genezareth gesprungen und hatte beim Eintauchen und dann bei den ersten Zügen unter Wasser ein Gefühl von Freiheit und Einverständnis mit mir selbst gespürt, das ich mir für immer merken wollte. Das Wasser war türkis, ich weit weg, bald würde ein neues Leben beginnen, aufregend und funkelnd und weit weg von dem Ort, an dem man mich zu kennen meinte. Etwas in mir hatte jubiliert.

Ich stieg aus dem Wasser des Toten Meeres, zog mich um und entdeckte einen Imbissstand. Dass die anderen aus meiner Gruppe nicht zu sehen waren, störte mich nicht. In der kleinen Küche der Bude standen eine dicke schwarze Frau, die Mitte Vierzig sein mochte, jedenfalls war sie um einiges älter als ich, und eine atemberaubend schöne junge Frau, auch schwarz, die ein paar Jahre älter als ich sein mochte. Ich fragte, ob es etwas ohne Fleisch und tierische Produkte gebe. Falafel, sagte die Ältere, die offensichtlich das Sagen hatte, viel und laut lachte. Ich fragte noch einmal nach, und nachdem man mich beruhigt hatte, bestellte ich Pita Falafel, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass heute mein Geburtstag sei. Tatsächlich? Die Frau wollte einen Beweis sehen, ich zeigte ihr einen Ausweis, der über der Liste der nicht veganen E-Nummern steckte. Sie schenkte mir die ersten Falafeln meines Lebens und fragte die jüngere Frau grinsend, ob sie mir nicht einen Geburtstagskuss geben wolle. Die beugte sich aus dem Inneren der Bude und küsste mich. Als ich den Bus mit den anderen fand, die lange auf mich gewartet hatten, war mein weißes Gesicht wahrscheinlich leicht gerötet.

 

Ich war kein guter Schüler, jedenfalls kein strebsamer, ich lernte nur, wenn es wirklich sein musste, hatte aber niemals andere Probleme als disziplinärer Natur. Ich war groß und Fußballer, trainierte vier Mal die Woche, musste jeden zweiten Freitag oder Samstag nicht in die Schule, weil wir ein Auswärtsspiel hatten, einmal im Monat bekam ich in einem Hinterzimmer ein Kuvert mit fünfhundert bis tausend Schilling über den Tisch geschoben. Ich war Veganer geworden, trank seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr, hatte mit sechzehn mit dem Rauchen aufgehört, auf einen Trainer hörend, der dem Fünfzehnjährigen gesagt hatte, wolle er Fußballer werden, müsse er die Zigaretten wegwerfen.

Eines Tages erzählte meine Deutschlehrerin im Unterricht von einer Ausschreibung für einen Essaywettbewerb, Europa gegen Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie, das seien doch Themen, die mich interessierten, und ich schriebe gut, ob ich nicht daran teilnehmen wolle. Ich schrieb gern und viel, bei Schularbeiten wählte ich immer die freien Themen, las nie die Bücher, die wir lesen sollten, sondern die, die ich lesen wollte, und als der Kapitän der Kampfmannschaft eines Tages mit einem Playboy in den Bus stieg, saß ich weiter hinten und las Handkes Wunschloses Unglück. Und was war der Playboy gegen das sogenannte Sexheft, das ich zu einem Geburtstag bekommen und gut unter meinen Computerzeitschriften versteckt hatte.

Ich setzte mich an meinen Computer, der seit kurzem wunderbarerweise mit dem Internet verbunden werden konnte, und es war tatsächlich ein Wunder, dass die Nachricht, die ich einem Freund in Michigan schickte, diesem im selben Moment zugestellt wurde. Auf der Tastatur des Computers schrieb ich auf Englisch ein sogenanntes Zine, in dem es um Hardcore ging, um Veganismus und gegen den Kapitalismus, dazu verfasste ich Texte über Camus und die Revolte und den Mythos von Sisyphos, allgemeine Betrachtungen und melancholische Gedichte, die auf Englisch ehrlicher klangen als auf Deutsch, es ging um alles. Finanziert wurde die Zeitschrift, die ich selbst setzte und drucken ließ und mit der Post in die ganze Welt verschickte, von Anzeigen diverser Labels, denen ich eine vielfach höhere Auflage angab, als meine Publikation tatsächlich hatte. Dazu bekam ich beinahe täglich CDs und Platten zur Besprechung, die ich auch verkaufen konnte, Briefe von Leserinnen und Lesern, auf meine Briefe und Postsendungen klebte ich Marken, die ich mit Wasser von an unseren Haushalt adressierten Briefen löste, nachdem ich die Stempel von ihnen radiert hatte. Den klassischen Ladendiebstahl hatte ich mit meinem sechzehnten Geburtstag aufgegeben, ich war jetzt straffähig, und beinahe alle meine Freunde waren, im Gegensatz zu mir, zumindest einmal erwischt worden.

Das beige Telefon mit einer Wählscheibe hing an der Wand neben dem Klavier in unserem Wohnzimmer; wenn meine Großeltern nebenan telefonierten, bekamen wir kein Freizeichen, konnten also nicht telefonieren, und umgekehrt. An diesem Tag läutete das Telefon, meine Mutter rief nach mir, ein Anruf aus Wien. Ich nahm den Hörer und hörte, ich hätte bei dem von der Europäischen Union ausgeschriebenen Wettbewerb Europa gegen Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie den ersten und den zweiten Preis gewonnen.

Am 12. Mai 1997 veröffentlichte, wie ich im noch viel wunderbarer gewordenen Internet gefunden habe, die Österreichische Presseagentur unter dem Titel „Burgenländischer Schüler gewinnt EU-Aufsatzwettbewerb“ eine Pressemitteilung:

 

Wien (OTS) – Der Sieg im Aufsatzwettbewerb des Europäischen Parlaments „Europa gegen Rassismus“ ging an einen burgenländischen Schüler, den 18-jährigen Clemens Berger. Der Aufsatz des Maturanten am BG Oberschützen wurde als Bester aus nahezu 120 eingesandten Beiträgen ausgewählt. Dieser Wettbewerb fand unter Ehrenschutz des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Jose-Maria Gil-Robles, statt.

Schüler zwischen 16 und 18 Jahren aus allen EU-Staaten waren aufgerufen, in kurzen Aufsätzen ihre persönliche Sicht der Phänomene Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus darzulegen und mögliche Gegenstrategien aufzuzeigen. Der österreichische Gewinner Clemens Berger überzeugte neben seiner profunden Analyse vor allem durch seinen sehr persönlichen und engagierten Zugang zu diesem Thema.

Als Siegespreis wurde von den Veranstaltern eine 2-wöchige Reise zur Verfügung gestellt, die neben einem Besuch der EU-Institutionen in Brüssel und Straßburg einen einwöchigen Studienaufenthalt in Israel umfaßt. Clemens Berger tritt heute seine Reise nach Straßburg an, wo er morgen, Dienstag den 13. Mai gemeinsam mit den 14 anderen Gewinnern vom Präsidenten des Europäischen Parlaments zur Preisverleihung empfangen wird. […]

 

Eine Woche vor meinem achtzehnten Geburtstag wurde uns also in Straßburg der Preis verliehen, in Form einer Urkunde, wie ich mich zu erinnern meine. Auf den beiden Fotos, die ich gefunden habe, steht der Parlamentspräsident in der Mitte, groß, graubärtig, mit ovalem Kopf, der oben kahl ist, und leicht abstehenden Ohren, sein blaues Sakko ist zugeknöpft und spannt etwas. Er ist von Schülerinnen und Schülern umgeben, hinter denen in einem dunklen Saal, in dem ein Monitor mit Abstimmungsergebnissen zu sehen ist, die Fahnen der Staaten der Europäischen Union stehen. Aus jedem der Länder waren zwei junge Menschen gekommen, aus Österreich war nur ich angereist, Erster und Zweiter in einem. Und so stehe ich da in einem schwarzen Pullover, der Kragen eines orangen Polos ist zu sehen, eine schmale, doppelte, eng am Hals anliegende Kette aus Holzperlen, der Blick ernst und leicht abwesend, im kurzen, leicht gewellten, zur Seite frisierten Haar keine Spange, wie ich sie damals gern trug, vor allem weil sie Widerwillen und Spott erregte, unmännlich, hieß es. Nach seiner Rede hatte der Parlamentspräsident gefragt, ob es Fragen gebe, ich hatte aufgezeigt und wissen wollen, ob die Europäische Union nicht in erster Linie für die Wirtschaft und die großen Konzerne da sei.

Der wahre Preis war für mich die Reise nach Israel, so weit weg war ich nie gewesen, die Stätten der Europäischen Union hatten wir schon mit der Schule besucht. Ich erinnere mich an den Strand von Tel Aviv und die jungen Männer in einer Disko, die Pistolen im Hosenbund stecken hatten, Stahl über dem Steißbein; an das Treffen mit Überlebenden der Shoah; an die Festung von Masada und die Wanderung durch die Wüste Negev, auf der ich als Einziger kein Wasser dabei hatte, was selbst die Nettesten unter den jungen Menschen in einen moralischen Konflikt brachte, der sie abwägen ließ, ob sie mir einen Schluck von ihrem kostbaren Gut geben sollten; an Jerusalem und Bethlehem und die Zäune des Westjordanlandes, das wir nicht besuchten. Mein achtzehnter Geburtstag, die Falafeln am Toten Meer, das Küsschen der schönen Unbekannten und vor allem das Eintauchen in den See Genezareth haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Das alles hatte ich nur erlebt, weil ich etwas geschrieben hatte.

 

Nach meiner Reise stand die mündliche Matura an, für die ich nicht hatte lernen können, weil ich unterwegs gewesen war und nach meiner Rückkehr Besuch von einem Freund aus Michigan hatte. Trotzdem saß ich zuversichtlich in der Bibliothek des Gymnasiums, mir gegenüber mein Englischlehrer, die letzte Prüfung. Die Bücher auf der Leseliste hatte ich allesamt nicht gelesen, an die erste Stelle hatte ich „Schindler’s List“ gesetzt, den Film hatte ich gesehen, sollte dieses Buch kommen, könnte ich es wählen. Ansonsten würde ich über eines der vielen Themen sprechen, die auf der anderen Liste standen; ich hatte die Artikel aus englischen Zeitschriften kurz durchgesehen, nur Russland unter Boris Jelzin hatte ich ausgelassen, das würde bestimmt nicht kommen.

Russland unter Boris Jelzin war nun aber das freie Thema, womit ich in einem Dilemma steckte, weil das Buch nicht „Schindler’s List“ war, sondern „Fatherland“ von Robert Harris. Ohne mit der Wimper zu zucken, wählte ich das Buch, das ich nicht gelesen hatte. Ich wusste, dass es um die Fiktion ging, das Dritte Reich wäre nicht besiegt worden und existierte noch. Darüber konnte ich sprechen, und ich tat es, voller Empörung über die Nazis und ihr Terrorregime und alles, was damit zusammenhängt. Auf einmal sah ich meinen Lehrer lächeln und mich mitten im Satz unterbrechen. Gut, sagte er, was aber sei mit dem Vater und dem Sohn? Vater und Sohn, wiederholte ich, um Zeit zu gewinnen. Ja, Vater und Sohn, sagte er und lächelte. Der Sohn, sagte ich, habe den Vater denunziert. Danke, sagte der Lehrer, er lächelte nicht mehr, die Prüfung war vorbei. Ich hatte richtig kombiniert. „Fatherland“ habe ich bis heute nicht gelesen.

Nach der Maturareise trennte ich mich von meiner Freundin, die meisten meiner Freunde gingen zum Bundesheer, und eines Tages stieg ich zu meinem Nachbarn ins Auto, der mich nach Wien mitnahm. Mit einem Koffer stieg ich vor dem Haus in der Josefstadt aus, in der unsere kleine Wohnung war, und schleppte ihn in den letzten Stock. Als ich die Tür hinter mir schloss, bemerkte ich, wie still es war. Ich stellte den Koffer ab und setzte mich auf die grüne Couch, die früher in unserem Haus gestanden war. Ich würde ein neues Leben beginnen. Ich würde schreiben.

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Clemens Berger, geboren 1979 in Güssing, aufgewachsen in Oberwart, studierte Philosophie in Wien, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. Letzte Veröffentlichungen: Das Streichelinstitut (2010), Ein Versprechen von Gegenwart (2013), Im Jahr des Panda (2016), Der Präsident (2020).

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Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.